Das Bürgergeld: Die hartnäckigsten Behauptungen im Faktencheck
Es sei zu teuer, biete zu wenig Anreiz zum Arbeiten oder verleite zu Sozialbetrug – immer wieder kursieren online und in der Politik Behauptungen über das Bürgergeld. Wir haben uns die größten Narrative der letzten Jahre genauer angeschaut.

Die neue Regierung aus CDU/CSU und SPD will das Bürgergeld reformieren, es soll zu einer „neuen Grundsicherung“ werden. Im Raum stehen Kürzungen und härtere Sanktionen. Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas will im Herbst einen Entwurf vorlegen, 2026 soll die Reform laut Bundeskanzler Friedrich Merz in Kraft treten.
Dass sachliche Argumente rund ums Bürgergeld mitunter zu kurz kommen, zeigt ein Blick auf die politische Debatte und die Behauptungen in Sozialen Netzwerken seit dessen Einführung Anfang 2023: Das Bürgergeld sei zu teuer, die Leistungen zu hoch und es biete keinen Anreiz zum Arbeiten.
Deshalb gibt es das Bürgergeld
Das Bürgergeld soll ein „menschenwürdiges Existenzminimum“ sichern und steht Menschen zu, die ein zu geringes Einkommen haben. Die Gewährleistung dieses Existenzminimums ist allen in Deutschland lebenden Menschen als Grundrecht durch das Grundgesetz (Artikel 1 und Artikel 20) garantiert. Vorläufer war das Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, finanziert wird es aus Steuergeldern.
Laut der Bundesagentur für Arbeit kann jede Person das Bürgergeld beantragen, die mindestens 15 Jahre alt und noch nicht im Rentenalter ist, in Deutschland wohnt, mindestens drei Stunden pro Tag arbeiten kann oder hilfsbedürftig ist, weil sie zu wenig verdient. Auch wer mit einer hilfsbedürftigen Person lebt, kann Bürgergeld beantragen.
Das Bürgergeld setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen und unterscheidet sich in seiner Höhe je nach Haushaltskonstellation. Im Wesentlichen basiert die Höhe auf sogenannten Regelsätzen und zusätzlichen Mehrbedarfen und Wohnkosten.
Viele der Behauptungen sind schlichtweg falsch oder ihnen fehlt relevanter Kontext. Zeit für einen Überblick: Wir fassen die hartnäckigsten Behauptungen der letzten Jahre zusammen und ordnen sie ein.
Warum sich Mythen rund um das Bürgergeld und Vorurteile gegenüber dessen Empfänger so hartnäckig in der Gesellschaft halten und welchen Anteil die Politik dabei hat, dazu haben wir hier recherchiert.
Inhaltsverzeichnis
- Lohnt sich Arbeiten noch?
- Was das Bürgergeld den Staat kostet
- Welche Wohnungen Bürgergeldbeziehende finanziert bekommen
- Gibt es hunderttausende „Totalverweigerer“? Und was bringen Sanktionen?
- Wer am häufigsten Bürgergeld bezieht
- Wird beim Bürgergeld wirklich so viel betrogen?
Daran rüttelt kein Rechenbeispiel: Wer arbeitet, hat immer mehr
Ob CDU-Politiker wie Friedrich Merz oder Carsten Linnemann, Alice Weidel und René Springer von der AfD oder Alexander Dobrindt von der CSU – mit Behauptungen zu einem „Konkurrenzangebot für Nichtarbeitende“ oder Aussagen über die angebliche Höhe von Leistungen für einzelne Familien befeuern Politiker immer wieder ein beliebtes Narrativ in der Debatte ums Bürgergeld: Die gezahlten Leistungen seien angeblich so hoch, dass sich das Arbeiten nicht mehr lohne. Dabei zeigen mehrere Auswertungen: Wer arbeitet, hat immer mehr.
Gegeneinander ausgespielt werden Menschen, die Bürgergeld erhalten, und Menschen, die für den Mindestlohn arbeiten, sogenannte Geringverdiener. Ganz allgemein: Der Mindestlohn ist in den letzten Jahren stärker angestiegen als der Regelsatz vom Bürgergeld. Im Unterschied zum Bürgergeld gehen zwar von einem Einkommen nach Mindestlohn noch Steuern und Sozial- und Krankenversicherung ab. Doch das Bürgergeld mit einem solchen Netto-Einkommen zu vergleichen, ist irreführend. Was nämlich häufig übersehen wird: Auch Geringverdiener haben Anspruch auf Sozialleistungen, wie Wohngeld, Kindergeld, Unterhaltsvorschussleistungen oder Kinderzuschläge, unter Umständen sogar auf aufstockendes Bürgergeld.
Folgende Grafik zeigt, wie viel verfügbares Einkommen verschiedene Haushaltskonstellationen haben, je nachdem ob sie zum Mindestlohn arbeiten oder Bürgergeld beziehen. Der Lohnabstand zeigt den Unterschied an.
Wer trotz Arbeit und Sozialleistungen nicht genug verfügbares Einkommen hat, hat Anspruch auf Bürgergeld. Umgangssprachlich werden solche Menschen „Aufstocker“ genannt. Nicht alle nehmen diesen Anspruch jedoch wahr. Eine Studie über Deutschland aus 2019 schätzte, dass mehr als ein Drittel der erwerbstätigen Menschen ihren eigentlichen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (heute Bürgergeld) nicht geltend machen.
Dass erwerbstätige Bürgergeldempfänger – die sogenannten Aufstocker – mehr Geld zur Verfügung haben als nicht-erwerbstätige, ist durch Freibeträge gesichert. Denn erst ab bestimmten Beträgen wird das Einkommen auf die Sozialleistungen angerechnet.
Arbeit lohnt sich – doch lohnt es sich immer, mehr zu arbeiten?
Wer arbeitet, hat also immer mehr als der, der nicht arbeitet, daran wird kein Rechenbeispiel rütteln. Was Fachleute aber auch beschäftigt, ist die Frage: Lohnt es sich immer, mehr zu arbeiten? Diese Frage betrifft alle Arbeitenden, die Transferleistungen, wie Bürgergeld, Wohngeld, Kindergeld oder Kinderzuschlag erhalten.
Und hier kann es tatsächlich in bestimmten Konstellationen zu Situationen kommen, in denen es sich nicht rentiert, mehr zu arbeiten, wie eine Studie des Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) aus 2023 gezeigt hat. Das liegt aber nicht am Bürgergeld, sondern an den hohen Abzügen der Transferleistungen, wie dem Kinderzuschlag oder Wohngeld. Diese werden bei steigendem Einkommen unterschiedlich stark zurückgefahren. So kann es passieren, dass ein höherer Verdienst, sei es durch Lohnerhöhungen oder eine Erhöhung der Arbeitszeit, durch den Verlust an Transferleistungen ausgeglichen wird und am Ende nicht mehr Netto rauskommt. Besonders ausgeprägt ist das bei Haushalten mit Kindern und bei hohen Mietkosten.
Anders als man vermuten könnte, empfehlen Fachleute deswegen aber nicht, Wohngeld und Co. zu kürzen, sondern sie zu bündeln oder länger zu zahlen. Das führe zwar erst zu mehr Ausgaben für den Staat, denn mehr Personen würden einen Anspruch haben, rentiere sich dann aber langfristig, weil Menschen mehr arbeiteten und entsprechende Sozialabgaben zahlten.
Was das Bürgergeld den Staat kostet
Regelmäßig heißt es aus der Politik und in der öffentlichen Debatte, das Bürgergeld sei zu teuer und Kürzungen seien nötig. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte Ende August, Deutschland könne sich den derzeitigen Sozialstaat nicht mehr leisten – ein Baustein sei, das Bürgergeld zu reformieren. Dabei sehen Experten kein großes Einsparpotenzial, zumal das Bürgergeld ein durch das Grundgesetz verankertes „Existenzminimum“ garantieren soll.
Laut Sozialbudget-Bericht des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) beliefen sich die Kosten für das Bürgergeld 2024 auf geschätzte 58 Milliarden Euro. Darin enthalten sind neben dem tatsächlichen Bürgergeld laut BMAS auch die Bundesbeteiligung und Beteiligung der Kommunen bei den Kosten der Unterkunft und den Verwaltungskosten sowie Eingliederungsleistungen. Damit machte das Bürgergeld schätzungsweise 4,1 Prozent aller Sozialausgaben aus, 2010 waren es bei Hartz IV noch 5,8 Prozent. Den größten Anteil hatten 2024 insgesamt die Kranken- und die Rentenversicherung mit je 25,4 und 29,1 Prozent.
58 Milliarden Euro – das klingt erstmal viel. Ohne einen Blick auf die Wirtschaftsleistung ist eine solche Summe aber wenig aussagekräftig. Die Wirtschaftsleistung, also das Bruttoinlandsprodukt (BIP), spiegelt den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen wider und ist ebenfalls in den letzten Jahrzehnten mit einigen Ausnahmen – preisbereinigt – angestiegen. Insgesamt ist der Anteil der Sozialleistungen am BIP über die letzten Jahrzehnte relativ stabil geblieben, auch im Vergleich zu anderen Industrieländern. Der Anteil des Bürgergeldes (mit der höheren Schätzung für 2024 aus dem Sozialbudget) an der Wirtschaftsleistung ist im Vergleich zu 2010 gesunken. Während Hartz IV damals 1,8 Prozent ausmachte, lag der Anteil des Bürgergeldes 2024 nach fast stetigen 1,3 Prozent in den Vorjahren bei 1,4 Prozent.

In absoluten Zahlen sind die Kosten zunächst von Hartz IV und anschließend des Bürgergeldes in den letzten Jahren gestiegen. 2024 betrugen die reinen Bürgergeld-Leistungen – unabhängig von Unterkunft und Heizung – laut Bundeshaushalt 29,15 Milliarden Euro, etwa 7 Milliarden mehr als noch 2014. Insbesondere 2023 und 2024 wurden die Regelbedarfe stärker angepasst, 2025 folgte eine Nullrunde.
Regelbedarfe sind gesetzlich geregelt
Die Anpassungen vom Regelbedarf erfolgen nicht willkürlich, die Ermittlung ist gesetzlich geregelt und auch deshalb kann der Staat hier nicht einfach kürzen und Kosten einsparen. Wie die Sozialwissenschaftlerin Jutta Schmitz-Kießler von der Hochschule Bielefeld in einem Blogbeitrag erklärt, orientiert sich die Anpassung der Regelbedarfe an der Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben unterer Einkommensgruppen. Seit 2005 sind die Regelbedarfe im Vergleich zur Nettolohnentwicklung und den Verbraucherpreisen nicht deutlich gestiegen.
Eine Studie im Auftrag des Vereins Sanktionsfrei bei der rund tausend Menschen, die Bürgergeld beziehen, befragt wurden, ergab, dass mehr als jeder dritte Bürgergeldempfänger auf Essen verzichtet, um andere notwendige Dinge finanzieren zu können. Insbesondere Eltern verzichten demnach zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen (54 Prozent).
Was ist der Regelbedarf?
Welche Wohnungen Bürgergeldbeziehende finanziert bekommen
Nicht alle Unterstützungszahlungen, die Bürgergeldbeziehende bekommen, haben sie auch wirklich zur Verfügung. Das trifft besonders auf die Kosten für Wohnen und Heizen zu, denn diese Kosten übernimmt der Staat und zahlt sie nicht an die Menschen aus. Übernommen werden Kosten „in angemessener Höhe“. Was angemessen ist, kommt auf den Wohnort und darauf an, wie groß der Haushalt ist. Jobcenter orientieren sich dabei am Mietspiegel.
Stimmung wird mit den angeblich zu teuren Wohnungen dennoch gemacht. Bundeskanzler Friedrich Merz sagte zum Beispiel im Juli in seinem Sommerinterview: „Sie haben in den Großstädten heute teilweise bis zu 20 Euro pro Quadratmeter, die Sie vom Sozialamt oder von der Bundesagentur bekommen für Miete, […] wenn Sie das mal hochrechnen, das sind bei 100 Quadratmetern schon 2.000 Euro im Monat“. Eine „normale Arbeitnehmerfamilie“ könne sich eine solche Wohnung nicht leisten, so Merz weiter. Dass solche Kosten nur in München, Hamburg und im Main-Taunus-Kreis erreicht werden können, wenn in einem Haushalt zwischen 6 und 16 Personen leben, erklärten wir im Juli 2025.
Bedarfsgemeinschaft
Auf Anfrage stellte uns die Bundesagentur für Arbeit Daten zur Verfügung, die zeigen, wie viel sogenannte Bedarfsgemeinschaften zwischen einer und sechs Personen im Jahr durchschnittlich für die Unterkunft gezahlt wurde. Von den von Merz behaupteten 2.000 Euro sind die Durchschnittswerte weit entfernt:
Wie hoch die übernommenen Durchschnittskosten nur für die Miete in den Jahren 2020 bis 2024 in den Bundesländern waren, zeigt die folgende Grafik, die ebenfalls auf Daten der Bundesagentur für Arbeit basiert. In Hamburg waren die übernommenen Kosten 2024 mit durchschnittlich 701 Euro am höchsten, am niedrigsten waren sie in Thüringen mit durchschnittlich 369 Euro.
Gibt es hunderttausende „Totalverweigerer“? Und was bringen Sanktionen?
Auch beim Thema Sanktionen kursieren falsche Behauptungen. Vor allem mit Blick auf Menschen, die Jobangebote mehrfach abgelehnt haben – abwertend „Totalverweigerer“ genannt. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann behauptete etwa 2024, es gebe eine „sechsstellige Zahl“ von Menschen, die „grundsätzlich nicht bereit“ seien, „eine Arbeit anzunehmen“.
Laut Informationen der Bundesagentur für Arbeit ist diese Zahl jedoch deutlich zu hoch gegriffen. In ihren Statistiken erfasst die Agentur, wie viele Sanktionen es gab, weil die Aufnahme einer Arbeit, Ausbildung oder vergleichbare Maßnahmen verweigert wurden. 2024 gab es aus diesem Grund insgesamt rund 23.400 Kürzungen. Diese Kürzungen standen laut der Bundesagentur für Arbeit im Februar 2025 rund 5,4 Millionen Leistungsberechtigten gegenüber, die Anspruch auf Bürgergeld haben. Von diesen 5,4 Millionen standen aber nur ein Bruchteil, rund 1,8 Millionen tatsächlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung – denn ein Großteil der Leistungsberechtigten sind Kinder oder Menschen in Ausbildung und Weiterbildungen.
Totalsanktionen nur in seltenen Fällen überhaupt möglich
Wie uns ein Sprecher der Bundesagentur erklärte, lässt sich aus der Zahl der Sanktionen nicht zwingend auf die Anzahl der sanktionierten Personen rückschließen, weil eine Person auch mehrfach sanktioniert werden könne. Wir sind der Einfachheit halber davon ausgegangen, dass jede Sanktion genau eine leistungsberechtigte Person betraf, also insgesamt 23.400 Menschen sanktioniert wurden. Das heißt, dass der Anteil derjenigen, die arbeiten könnten, aber die „Aufnahme oder Fortführung einer Arbeit, Ausbildung oder Teilnahme an einer Eingliederungsmaßnahme“ im Jahr 2024 verweigert haben, bei maximal rund 1,3 Prozent lag.
Als Mittel, um Menschen zum Arbeiten zu bewegen, bringen Politikerinnen und Politiker immer wieder schärfere Sanktionen ins Spiel. CDU und SPD vereinbarten in ihrem Koalitionsvertrag im Mai 2025: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen.“
Das ist allerdings in sehr wenigen Fällen möglich, wie wir im Juni 2025 berichteten. Nämlich nur dann, wenn „Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit […] ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern“. Das urteilte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2019.
Wirkung von Sanktionen wenig erforscht und umstritten
Die Effekte von Sanktionen sind bislang wenig erforscht. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil schreibt, zeigten vorhandene Studien zwar, dass Leistungskürzungen positive arbeitsmarktpolitische Wirkungen entfalten können, dass Betroffene dadurch jedoch ihre Hilfebedürftigkeit tatsächlich besser überwinden können, sei „nicht eindeutig belegt“.
In einer Untersuchung im Jahr 2013 zeigte das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln mithilfe einer repräsentativen Befragung in Nordrhein-Westfalen, dass Totalsanktionen vor allem dazu führten, dass Menschen das Vertrauen in ihren Sachbearbeiter oder ihre Sachbearbeiterin verloren.
Im August 2024 berichtete das Institut für Arbeitsmarkt und Bildungsforschung (IAB), eine Dienststelle der Bundesagentur für Arbeit, dass die Möglichkeit von Sanktionen zwar dazu führen könne, dass Menschen eher eine Beschäftigung aufnehmen. Eine hohe Sanktionswahrscheinlichkeit führte jedoch eher dazu, dass Menschen schlechter bezahlte Berufe annehmen würden. Zudem verstärkte sie „psychische Belastungen“ und bei Sanktionen von 30 Prozent oder mehr drohe die „Sperrung der Energieversorgung oder gar Wohnungsverlust“, so das IAB im März 2025.
Der Verein Sanktionsfrei fragte rund tausend Menschen, die Bürgergeld beziehen, für eine Studie von Juni 2025 unter anderem, ob sie sich zur Gesellschaft zugehörig oder ausgeschlossen fühlen. Laut dem Verein gaben 42 Prozent der Befragten an, dass sie sich schämen, Bürgergeld zu beziehen. „Dabei sagt die große Mehrheit, dass vielen Menschen nicht klar sei, wie schnell sie selbst ins Bürgergeld rutschen können (82 %)“, so Sanktionsfrei.
Ähnliche Ergebnisse berichteten auch die Forscher Andreas Hirseland und Stefan Röhrer in einem Fachaufsatz mit Blick auf Hartz IV: „Vor diesem Hintergrund erleben viele Hilfebeziehende, obwohl sie ihnen zustehende soziale Rechte wahrnehmen und mit dem Bezug von Unterstützungsleistungen lediglich eine bestehende gesellschaftliche Verpflichtung eingelöst wird, die Inanspruchnahme eben dieser Leistungen letztlich als beschämendes Almosen“. Auch deshalb ist fraglich, ob Sanktionen als zusätzliches „Druckmittel“ sinnvoll sind.
Wer bezieht am häufigsten Bürgergeld?
Welche Menschen das Bürgergeld in Anspruch nehmen, sorgt regelmäßig für Aufregung. Zum Beispiel, wenn Politikerinnen und Politiker wie etwa Petr Bystron, AfDler und EU-Abgeordneter oder die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst Grafiken teilen, die zeigen sollen, dass Ausländerinnen und Ausländer beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund besonders häufig Bürgergeld beziehen. Über dieses Narrativ berichteten wir bereits 2023.
Richtig ist, dass Deutsche in absoluten Zahlen die größte Gruppe der Bürgergeldbeziehenden sind. Richtig ist aber auch: Menschen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, machen ebenfalls einen großen Anteil aus. Ob sich Ausländerinnen und Ausländer in den Arbeitsmarkt integrieren können, hängt jedoch zum Beispiel davon ab, wie lange sie bereits in Deutschland sind, wo sie untergebracht werden, ob sie Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder finden und ob sie in Deutschland bleiben wollen. Detailliert haben wir die Gründe hier erklärt.
Je länger die Menschen in Deutschland sind, desto höher die Quote derer, die arbeiten
Ein Blick auf die Situation der Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland zeigt das beispielhaft. Rund 65 Prozent der in Deutschland lebenden erwerbsfähigen Ukrainerinnen und Ukrainern sind Stand Februar 2025 auf das Bürgergeld angewiesen, genauso wie knapp 4 Prozent der Deutschen.
Die meisten von ihnen befinden sich seit 3,5 Jahren in Deutschland. Ihre Beschäftigungsquote lag laut einem Bericht des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von Oktober 2024 bei 30 Prozent. Das ist nicht ungewöhnlich, wie folgende Grafik des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) von 2023 zeigt. Die Erwerbstätigenquote aller Geflüchteten, egal aus welchem Land, liegt demnach 3,5 Jahre nach dem Zuzug nach Deutschland im Schnitt bei rund einem Drittel. Je länger die Menschen hier sind, desto höher die Quote derjenigen, die arbeiten.

Ein weiterer Bericht des IAB zeigt, dass die Beschäftigungsquote von Geflüchteten, die im Jahr 2015 nach Deutschland kamen, 2024 bei 64 Prozent lag und damit nur noch leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt von 70 Prozent.
Asylbewerber bekommen kein Bürgergeld
Auch bei den Begrifflichkeiten rund ums Bürgergeld geht es teils durcheinander. So teilte der AfD-Bundestagsabgeordnete Bernd Schattner im März 2023 auf Tiktok die Behauptung: „Unfassbar: 63 Prozent aller Grundsicherungsempfänger in Deutschland haben einen Migrationshintergrund!“ um im nächsten Satz eine „Abschiebeoffensive für abgelehnte Asylbewerber“ zu fordern. Das eine hat mit dem anderen jedoch nichts zu tun. Denn Asylbewerberinnen und Asylbewerber bekommen kein Bürgergeld, sondern Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Mit Blick auf den Migrationshintergrund von Bürgergeldbeziehenden lässt sich sagen: Richtig ist, dass rund 64 Prozent aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten einen Migrationshintergrund haben. Doch was heißt das? Die Bundesagentur für Arbeit erfasst so alle Menschen, die keine deutsche Staatsangehörigkeit haben oder die außerhalb Deutschlands geboren wurden und nach 1949 nach Deutschland einwanderten. Migrationshintergrund haben für die Bundesagentur auch diejenigen, bei denen ein Elternteil nicht in Deutschland geboren wurde, das nach 1949 nach Deutschland einwanderte.
Aktuell treffen diese Kriterien auf rund 2,5 Millionen erwerbsfähige Leistungsberechtigte zu. Insgesamt hatten laut dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes rund 23 von 84 Millionen Deutschen im Jahr 2023 einen Migrationshintergrund. Es ist also nicht verwunderlich, dass von den Menschen mit Anspruch auf das Bürgergeld viele einen Migrationshintergrund haben.
Wird beim Bürgergeld wirklich so viel betrogen?
Immer wieder schaffen es Behauptungen über angebliche Riesensummen, die an Bürgergeldempfänger gezahlt würden, in die Schlagzeilen. So berichtete beispielsweise das Rechtsaußen-Portal Nius im April 2025, mehr als 400 Haushalte und Familien würden mehr als 10.000 Euro, fünf sogar 20.000 Euro Bürgergeld pro Monat „kassieren“. Verdreht wird dabei die Tatsache, dass das Geld zum Großteil gar nicht an die Bedarfsgemeinschaften ausgezahlt wurde, sondern vom Amt direkt an die Vermieter, wie die Bild im Oktober 2024 berichtete.
Eine falsche Geschichte von einem Syrer mit mehreren Frauen und Kindern, der angeblich monatlich 30.000 Euro Sozialhilfe erhalte, geistert seit 2017 durch Soziale Netzwerke. „Unsere Sozialkassen werden geplündert und beraubt,“ hieß es dazu in Kommentaren. Wir haben die Behauptung mehrfach widerlegt.
Anfang Juni 2025 sagte die Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas im Interview mit dem Stern, es gebe in Deutschland „groß angelegten Sozialleistungsmissbrauch“ und „mafiöse Strukturen“ im Zusammenhang mit dem Bürgergeld. Menschen würden aus anderen europäischen Staaten für Mini-Arbeitsverträge nach Deutschland gelockt, gleichzeitig würde für sie aufstockendes Bürgergeld beantragt und abgeschöpft werden. Als Beispiel nannte Bas die Stadt Duisburg. Medienberichte, die Bundesagentur für Arbeit und der Leiter des Jobcenters bestätigen solche Fälle, auch andernorts – vor allem da, wo es viel Leerstand und günstigen Wohnraum gebe. Insbesondere würden Menschen aus Rumänien und Bulgarien auf Minijob-Basis hergelockt.
Wie groß das Ausmaß ist, ist unklar. Auf Nachfrage schreibt ein Sprecher des BMAS, es handele „sich nach derzeitiger Kenntnis um regionale Phänomene, nicht um ein flächendeckendes Problem“. Fälle von Sozialbetrug im Zusammenhang mit „mafiösen Strukturen“ werden demnach statistisch nicht gesondert erfasst. Laut Bundesagentur für Arbeit hätten die gemeinsam betriebenen Jobcenter 2023 229 Fälle und 2024 421 Fälle von „bandenmäßigen Betrug” erfasst. Im laufenden Jahr 2025 bis zum Mai seien es 195 Fälle gewesen. Insgesamt wurde für alle Jahre in etwa 360 Fällen Strafanzeige gestellt. Es sei jedoch von einer höheren Dunkelziffer auszugehen.
Wie schnell rassistische Vorurteile beim Thema Bürgergeld wirken, zeigt einer unserer Faktenchecks aus 2023: Weil an drei Briefkästen an einem Haus in Rheinland-Pfalz 120 ausländisch-gelesene Namen standen, witterten viele online Sozialbetrug und prangerten die „Ausplünderung“ des Staates an. Dabei wurde das Gebäude von einer Spedition zur Unterbringung von LKW-Fahrern angemietet, Sozialleistungen wurden an keine der Personen ausgezahlt.
Missbrauchsquote beim Bürgergeld beträgt etwa drei Prozent
Wenn es um den Missbrauch von Sozialleistungen geht, bekämen „anekdotische Einzelfallgeschichten“ viel Aufmerksamkeit und provozierten Empörung, schreibt Jennifer Eckhardt, Sozialwissenschaftlerin an der TU Dortmund, in einem Blogbeitrag.
Die verfügbaren Zahlen zeigen, dass die Missbrauchsquote verhältnismäßig gering ist. 2024 hat die Bundesagentur für Arbeit in 101.000 Fällen Leistungsbetrug beim Bürgergeld festgestellt. Als Leistungsmissbrauch zählen unter anderem das Verschweigen von Einkommen, nicht gemeldete Beschäftigungen oder nicht gemeldete Haushaltsmitglieder. Der Zoll hat 2024 knapp 70.000 Ermittlungsverfahren wegen Verdacht auf Leistungsmissbrauch eingeleitet, heißt es auf Nachfrage aus der Pressestelle. Dabei werde nicht zwischen Bürgergeld und Arbeitslosengeld unterschieden. Gemessen an 5,56 Millionen Leistungsempfangenden entspricht das zusammen einer Missbrauchsquote von etwa 3 Prozent. Es ist möglich, dass bei dieser Berechnung Fälle, die sowohl in der Statistik der Bundesagentur als auch des Zolls vorkommen, doppelt gezählt werden.
Auch ein Blick auf die Schadenssummen liefert Kontext: 2023 betrug der Schaden laut Bundesagentur für Arbeit etwa 260 Millionen Euro. Schwerwiegende Fälle kämen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Leistungsberechtigten eher selten vor. Der „bandenmäßige Leistungsmissbrauch“, bei dem etwa Gruppen aus dem Ausland Arbeitsverhältnisse vortäuschen, machte rund viereinhalb Millionen Euro aus. Aktuelle Zahlen gebe es nicht, schreibt die Bundesagentur für Arbeit auf Nachfrage, denn die Methodik der zugrunde liegenden Datenerhebung werde überarbeitet.
Zum Vergleich: Allein durch Tricksereien bei der Erbschaftssteuer entgingen dem Staat 2023 etwa 2,6 Milliarden Euro, wie eine TAZ-Recherche ergab, 2024 waren es laut Netzwerk Steuergerechtigkeit sogar 3,6 Milliarden Euro. Der Sonderbericht des Bundesrechnungshofes schätzt den jährlichen Schaden durch Steuerhinterziehung auf einen „zweistelligen Milliardenbetrag“. Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft geht von Schäden zwischen 100 oder sogar 200 Milliarden Euro aus, wenn man die aggressive Steuergestaltung multinationaler Konzerne miteinbeziehe. Den größten Anteil mache ansonsten der alltägliche Steuerbetrug, wie Schwarzarbeit, aus.
Redigatur: Max Bernhard, Sophie Timmermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- „Die Bürgergeld-Reform von 2023 – Quelle allen Übels?“, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, Februar 2025: Link (archiviert)
- „’Lohnt’ sich Arbeit noch? Lohnabstand und Arbeitsanreize im Jahr 2024“, Institut für Wirtschaftsforschung, Januar 2024: Link (archiviert)
- „Ungelöste Probleme der Grundsicherung“, Institut für Wirtschaftsforschung, März 2023: Link (archiviert)
- Sozialbudget 2024, Bundesministerium für Arbeit und Soziales,: Link (archiviert)
- „Hartnäckig, aber falsch: Die Kritik an der Bürgergelderhöhung“, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut, August 2024: Link (archiviert)
- „Warum sind nicht alle erwerbsfähigen Leistungsberechtigten arbeitslos?“, Bundesagentur für Arbeit, Juli 2024: Link (archiviert)
- Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 21. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages: Link (PDF, archiviert)
- Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019: Link (archiviert)
- „Unabhängige wissenschaftliche Untersuchung zur Erforschung der Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB 11 und nach dem SGB 111 in NRW“, Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik, 2013: Link (archiviert)
- „Bereits die Möglichkeit einer Sanktionierung zeigt Wirkung“, Institut für Arbeitsmarkt und Bildungsforschung, August 2024: Link (archiviert)
- „Erwerbstätigkeit Schutzsuchender aus der Ukraine in Deutschland“, Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Oktober 2024, Link (archiviert)
- „Erwerbstätigkeit und Löhne von Geflüchteten steigen deutlich“, Institut für Arbeitsmarkt und Bildungsforschung, Juli 2023: Link (archiviert)
- „Haben wir es geschafft? Eine Analyse aus Sicht des Arbeitsmarktes“, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, August 2025: Link (archiviert)
- „Maßnahmen zur Stärkung der Einnahmenbasis“, Bundesrechnungshof, April 2025: Link (archiviert)