In eigener Sache

Straßenkinder: Leben in Scherben

Parkbank statt Bett, Bahnhofsvorplatz statt Schule: Bis zu 20.000 Jugendliche leben in Deutschland auf der Straße. Das deutsche Kinder- und Jugendhilfegesetz gilt als eines der weitreichendsten der Welt. Dennoch fallen viele durch das Hilfenetz. Warum? Kann das „Housing first“-Konzept eine Alternative sein, erst Unterbringen, dann das mühsame Einüben von Regeln?

von Miriam Bunjes

© Miriam Bunjes

Hinweis: Eine lange Version dieser Recherche ist als eBook erschienen und kann über diesen Link heruntergeladen werden.



Miriam Bunjes: Straßenkinder. Ein Crowdfunding (1,6 MB)

Drei Frettchen, eine Sporttasche mit T-Shirts und einem gerahmten Bild ihrer Mutter: Das ist Sandras Fluchtgepäck, zusammengeworfen in der Nacht zuvor in Hamburg. Jetzt steht die 19-Jährige am Dortmunder Hauptbahnhof und schüttet Scherben aus der Tasche. Das Glas des Rahmens ist zerbrochen, am Foto ihrer Mutter und an der Todesanzeige aus der Zeitung klebt altes Fleisch, das sie für die Frettchen gekauft hat. Und auch Sandras Leben liegt in Scherben.

„Ich musste weg von allem“, sagt die 19-Jährige. Weg von den Erinnerungen an die Mutter, weg von der gesetzlichen Betreuerin, die ihr das Familiengericht nach deren Tod zugeteilt hat. Und die will, dass Sandra in die Psychiatrie geht. „Ich halte es aber nicht aus, eingesperrt zu sein“, sagt Sandra. Auch mit dem Jugendamt will Sandra nichts mehr zu tun haben: „Das bringt alles nichts, das kenne ich zu gut.“ Deshalb will Sandra jetzt untertauchen, im Ruhrgebiet, drei Zugstunden von Hamburg entfernt, und ein Leben auf der Straße beginnen. Nicht zum ersten Mal.

Bis zu 20.000 Jugendliche in Deutschland leben so, teilweise oder ganz auf der Straße. Offizielle Statistiken dazu gibt es nicht, denn vermisst gemeldet werden längst nicht alle. Dabei gilt Deutschlands Jugendhilfegesetz als eines der weitestgehenden der Welt: Jugendliche haben ein „Recht auf Erziehung“, auf Förderung durch den Staat, falls die Eltern dieser Aufgabe nicht nachkommen, um sich zu einer „eigenverantwortlichen Persönlichkeit“ zu entwickeln. Und das laut Gesetz sogar bis zum 27. Lebensjahr. Unter-18-Jährige ohne „Obhut“ darf es nach diesem Gesetz gar nicht geben: Versagen die Eltern, übernimmt das Jugendamt.

Dennoch gibt es Tausende Kinder, die auf der Straße leben. Warum?

Ein anderes Beispiel. Naomi aus Essen floh von daheim, weil ihr Vater sie schon als Kleinkind schwer misshandelte. Verbrennungen und blaue Flecke schienen weder den Lehrern noch den Ärzten verdächtig. Sie selbst schwieg aus Angst vor den Eltern. Schon als Grundschulkind kam sie nur zum Schlafen nach Hause, unsichtbar für staatliche Hilfe.

Sandra hingegen hat eine wahre Odyssee durch die diversen Jugendhilfeeinrichtungen hinter sich: vom Heim in die Psychiatrie ins betreute Wohnen und wieder zurück zur Mutter… Sandra lebt so, seit sie 12 ist. In wie vielen verschiedenen Einrichtungen sie war, kann sie nicht mehr sagen. Sie hat eine Borderline-Störung, Nähe kann bei ihr schlagartig in Feindseligkeit kippen, immer wieder war sie in Schlägereien verwickelt, hat geklaut, hat Drogen genommen, ist abgehauen – ein extrem schwieriges Kind, dessen Problemen keiner Herr wurde.

Von solchen Einrichtungs-Odysseen erzählen viele Straßenkinder. „Viele sind schwer traumatisiert von Gewalt und Vernachlässigung in zerrütteten Elternhäusern“, sagt Jörg Richert, Vorstand des Bündnisses für Straßenkinder in Deutschland, einem Zusammenschluss von 20 Organisationen. Viele Einrichtungen sortierten die ganz schwierigen Fälle aber aus, hätten starre Konzepte mit vielen Verhaltensregeln. Wer sie nicht einhält, muss gehen. 

„Hilfe wird an Bedingungen gekoppelt, die einige Kinder nicht einhalten können, weil sie zu tief in Problemen stecken“, sagt Richert, der zudem Geschäftsführer des Berliner Vereins Karuna – Hilfe für Kinder in Not ist. Sie betreibt Einrichtungen für drogenabhängige Jugendliche. Die Suche nach individuellen Wegen funktioniere aber in Deutschland nur schlecht – auch, weil die Jugendlichen selbst viel zu selten mitbestimmen könnten, sagt Richert. 

Zwar steigt seit Jahren die Zahl der Hilfsmaßnahmen für Kinder, das zeigt die Jugendhilfestatistik, ein beträchtlicher Kostenfaktor für die Kommunen. Werden die Kinder dann aber hilflos von einer Einrichtung zur anderen geschickt und scheitern, führt das zu einer Abwehrhaltung gegen das ganze System Jugendhilfe. Und hinaus auf die Straße – wie im Fall von Sandra. 

Und: Anders als das Gesetz es vorsieht, ist mit 18 oft Schluss mit der Jugendhilfe. Stattdessen schieben die Gemeinden die teuren Jugendhilfefälle zum Jobcenter. Auch in Heimen Betreute werden in vielen Kommunen „entgegen jeder pädagogischen Vernunft“  in eigene Wohnungen gesteckt, stellte erst im Juni eine Studie des deutschen Jugendinstituts fest. Auch das endet nicht selten in Obdachlosigkeit: Mit der neuen Freiheit kommen viele nicht zurecht, überschulden sich, feiern Parties, verpassen Termine – und weil für Unter-25-Jährige in Hartz IV schneller und härter sanktioniert wird, ist die neue Wohnung oft schnell wieder weg.

„Housing first“ fordert deshalb die Ständige Vertretung der Straßenkinder, ein Zusammenschluss von Jugendlichen, die mit eigener Stimme für die Belange der Straßenkinder sprechen wollen. Das Konzept kommt aus den USA und setzt darauf, Obdachlose schnell und ohne Bedingungen betreuten Wohnraum zu vermitteln. Sie müssen weder drogenabstinent sein, noch sofort an den Ursachen ihrer Probleme arbeiten, sondern sollen erst bedarfsgerecht versorgt und stabilisiert werden – und dann in Ruhe einen individuellen Weg finden. „Wer mit Hunger, Sucht und Angst von der Straße kommt, kann nicht sofort in einer verregelten Einrichtung an seiner Wohnfähigkeit arbeiten und sie beweisen“, sagt Jörg Richert.

Vier Monate später. Sandra hat in diesen 120 Nächten auf vielen verschiedenen Schlafcouchs von irgendwelchen Zufallsbekanntschaften übernachtet, in Parks oder vor den Bahnhöfen, sie hat gehungert und Handtaschen geklaut, sie hat Hoffnung geschöpft und wieder verloren, ist noch nicht bereit, sich wieder helfen zu lassen vom Staat, der in ihren Augen versagt hat.

Naomi hingegen, die als Kind von ihrem Vater misshandelt wurde, hat es wohl geschafft. Sie lebt inzwischen in einem Wohnheim für obdachlose Frauen und macht eine Traumatherapie. Noch immer quälen sie Flashbacks, schlagartig katapultieren die sie zurück in jene Momente, in denen ihr Vater sie misshandelte. Aber allmählich lernt sie, mit dem Schmerz zu leben, sie hat den festen Willen, ihr Leben zu ändern, sie sagt: Es gibt immer einen Weg zurück.


Hole Dir das eBook

Eine lange Version dieser Recherche ist als eBook erschienen und kann über diesen Link heruntergeladen werden:



Miriam Bunjes: Straßenkinder. Ein Crowdfunding (1,6 MB)

Von der Crowd finanziert

Diese Recherche wurde über die Plattform crowdfunding.correctiv.org finanziert. Über das Portal von CORRECTIV kann jeder interessierte Bürger und Journalist unabhängige Geschichten finanzieren. Wir bedanken uns bei allen Spendern. Sofern Sie einer Namensnennung zugestimmt haben, werden sie hier namentlich aufgeführt:

Dirk Schmidt, David Strohm, Maik Meuser, Thomas Lillig, Judith Merkelt, Christiane Schulzki-Haddouti