Merz und der Pflichtdienst: Unerwarteter Widerstand
Bundeskanzler Friedrich Merz fordert ein gesellschaftliches Pflichtjahr für junge Menschen – doch große Wohlfahrtsverbände zeigen sich kritisch. Die Debatte um Zwang versus Freiwilligkeit im sozialen Engagement spitzt sich politisch und gesellschaftlich weiter zu.

Die ARD-Moderatorin Caren Miosga hatte ihn nach seiner persönlichen Meinung zu einer möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht gefragt – doch Bundeskanzler Friedrich Merz nutzte die Frage, um eine Position zu markieren, die über diese Frage hinausgeht. „Ich bin dafür, dass wir ein allgemeines gesellschaftliches Pflichtjahr in Deutschland etablieren“, sagte Merz.
Der Regierungschef befeuerte mit diesem Satz eine Debatte, die in den vergangenen Jahren bereits öfter aufkam: Sollten junge Menschen (oder vielleicht auch ältere?) dazu verpflichtet werden, sich für einige Zeit in öffentlichen sozialen Einrichtungen, etwa Krankenhäusern, Seniorenheimen oder gemeinnützigen und wohltätigen Vereinen und Projekten zu engagieren?
CORRECTIV fragte bei Organisationen nach, bei denen die jungen Menschen mehrheitlich den Dienst leisten würden. Die Antworten überraschen. Denn die großen Wohlfahrtsverbände freuen sich nicht über zusätzliche kostenlose Arbeitskräfte – sie sind vielmehr skeptisch. Einige lehnten Merz’ Idee eines Zivildienstes 2.0 sogar in aller Deutlichkeit ab.
„Ein Pflichtdienst ist die falsche Antwort“
Ein Sprecher des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes sagte: „Der Paritätische lehnt einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst grundsätzlich ab.“
Und ein Sprecher der Arbeiterwohlfahrt (AWO) sagte: „Aus unserer Sicht ist ein Pflichtdienst die falsche Antwort.“
Die Diakonie teilte mit: „Die Diakonie Deutschland spricht sich gegen ein Pflichtjahr aus.“ Skeptisch bis zurückhaltend äußerten sich auch das Deutsche Rote Kreuz und der Malteser Hilfsdienst. Zu den Gründen später mehr.
Warum überrascht die ablehnende Haltung?
Auf den ersten Blick überrascht die ablehnende Haltung. Denn ein Pflichtdienst im sozialen Sektor gehörte in der alten (westdeutschen) Bundesrepublik und nach 1990 auch im wiedervereinigten Deutschland über Jahrzehnte zur gelebten Praxis.
Der sogenannte Zivildienst wurde allerdings nicht als Selbstzweck etabliert. Mit der Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1961 ermöglichte der sogenannte Wehrersatzdienst, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern.
Unmittelbar nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik leisteten anfangs nur etwas weniger als 600 Wehrpflichtige Zivildienst ab.
In den 1990er Jahren waren es dann mehr als 100.000. Im Jahr 2010 entschieden sich 60 Prozent der Wehrpflichtigen gegen die Bundeswehr und für den Zivildienst. Neben dem verpflichtenden Wehrdienst war somit auch der Zivildienst für die meisten jungen Männer in Deutschland zum festen Bestandteil ihres Lebens geworden.
Die Zeiten änderten sich: Nach dem Ende des Kalten Krieges geriet die Notwendigkeit zur Landesverteidigung aus dem Fokus. Deutschland wollte eine „Friedensdividende“ einstreichen und verkleinerte die Bundeswehr.
Im Jahr 2011 setzte die damalige Große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) die Wehrpflicht aus.
Damit endete auch die Ära des Zivildienstes. An seine Stelle trat, ergänzend zu dem bereits zuvor etablierten Freiwilligen Sozialen Jahr, der Bundesfreiwilligendienst. Im September dieses Jahres leisteten ihn rund 34.000 Menschen ab.
„Eine Wischiwaschi-Wehrpflicht hilft niemandem“
Vorstöße für einen „Zivildienst 2.0“ gab es seitdem immer wieder. Dass die Idee nun neue Nahrung erhält, liegt an der neuen Bedrohungslage durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und die mutmaßlichen Putinschen Expansionspläne.
Die Bundesregierung brachte vor diesem Hintergrund bereits im August einen Gesetzesentwurf für einen neuen Wehrdienst auf den Weg. Die Bundeswehr soll attraktiver werden.
Um den erwünschten Aufwuchs der Truppe zu erreichen, sollen sich mehr junge Menschen freiwillig für den Dienst an der Waffe melden. Wenn die Zahl der Meldungen hinter Erwartungen und Erfordernissen zurückbleibt, könnte die Bundesregierung aber auch einen verpflichtenden Wehrdienst wiedereinführen.
Ob dies automatisch geschieht oder erst vom Bundestag beschlossen werden müsste, ist zwischen CDU/CSU und SPD umstritten. Bundeskanzler Merz sagte bei Caren Miosga: „Ich vermute, es wird bei Freiwilligkeit allein nicht bleiben.“
Noch deutlicher wurde Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. „An der Wehrpflicht führt kein Weg vorbei“, sagte Söder in der Bild am Sonntag. „Eine Wischiwaschi-Wehrpflicht hilft niemandem.“
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte dagegen, sein Haus treffe derzeit keine Vorbereitungen für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht. „Ich bereite sie nicht vor, weil ich nicht glaube, dass wir sie in den nächsten Jahren brauchen werden“, sagte der Minister.
Wenn sich doch nicht genug Freiwillige melden, könnte die dann wieder eingesetzte Wehrpflicht Teil eines generellen Pflichtdienstes sein, der auch in sozialen Einrichtungen geleistet werden könnte. Mit seinem – womöglich sehr gezielt platzierten – Satz über ein solches „allgemeines gesellschaftliches Pflichtjahr“ gab Merz der Debatte darüber einen weiteren Schub.
Friedrich Merz‘: Könnte ein Pflichtjahr die Not lindern?
Der Vorschlag wirkt charmant. Die Deutschen werden immer älter. Der Pflege- und der Gesundheitssektor ächzen unter einer immer höheren Arbeitsbelastung, und der Branche fehlen die Arbeitskräfte.
Die Frage ist nur: Könnte ein Pflichtjahr die Not lindern? Und könnte eine solche Pflichtzeit im Dienste der Allgemeinheit sogar den bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft stärken?
- DRK: Attraktivitätssteigerungen
Die Wohlfahrtsverbände sehen das anders. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) teilte auf Anfrage von CORRECTIV mit, die Diskussion über mehr gesellschaftliches Engagement sei zwar grundsätzlich zu begrüßen. Der Bereichsleiter Jugend und Wohlfahrtspflege beim DRK, Joß Steinke, sagte aber auch: „Wir würden in der ganzen Debatte die Freiwilligendienste in den Mittelpunkt rücken.“ Mit Attraktivitätssteigerungen und einer gezielten Ansprache ließe sich viel erreichen, „ohne direkt eine Pflicht einzuführen“. - Malteser Hilfsdienst: Freiwilliges Engagement fördern
Ein Sprecher des Malteser Hilfsdienstes teilte mit, der Verband wolle freiwilliges Engagement fördern. „Wir sprechen uns daher für eine bessere Ausgestaltung der Freiwilligendienste aus.“
Der Freiwilligendienst müsse „finanziell so honoriert werden, dass sich jeder, unabhängig von der finanziellen Situation des Elternhauses, engagieren kann“.
Sollte der Bundestag sich dennoch für ein gesellschaftliches Pflichtjahr entscheiden, „stehen wir auch dafür als Träger von zivilen Wehrersatzdiensten (Bevölkerungsschutz, Rettungsdienst etc.) zur Verfügung“. Dies erfordere aber finanzielle Mittel und geeignete Strukturen. - Arbeiterwohlfahrt: „Hartnäckige Fehleinschätzung“
Die Arbeiterwohlfahrt äußerte sich klar ablehnend. „Es ist eine hartnäckige Fehleinschätzung, dass junge Menschen zu Engagement gezwungen werden müssten“, sagte ein Sprecher. Solidarität lasse sich nicht verordnen.
„Die Praxis und Untersuchungen belegen vielmehr, dass junge Menschen sich einbringen wollen – es muss ihnen nur ermöglicht werden.“ Die Träger und Einsatzstellen für den Freiwilligendienst müssten mehr Geld erhalten. Der Staat müsse ein Freiwilligengeld auf BAföG-Niveau auszahlen, „damit alle, die wollen, auch tatsächlich die Möglichkeit haben, einen Freiwilligendienst zu machen – unabhängig vom Geldbeutel der Eltern“. - Paritätische Wohlfahrtsverband: Junge Menschen überzeugen, nicht zwingen
Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband hält nichts von Merz’ Idee. „Wer junge Menschen gewinnen will, muss sie überzeugen. Gesellschaftliche Verantwortung lässt sich nicht erzwingen – sie entsteht, wenn sich junge Menschen freiwillig und aus innerer Überzeugung für einen Dienst entscheiden“, sagte ein Sprecher des Verbandes.
Ein Pflichtjahr würde Ressourcen binden, die anderweitig benötigt würden. Und: „Wir hätten dann im Zweifel junge Menschen in sensiblen Einsatzfeldern, wie zum Beispiel der Pflege, die dort nicht aus eigener Motivation tätig sind.“ - Diakonie: Widerspricht Pflicht den Grundrechten?
Die Diakonie verweist in einem Positionspapier darauf, dass ein Pflichtdienst, „elementaren Freiheits- und Grundrechten“ widerspreche. Eine Dienstpflicht dürfe professionelle Tätigkeiten nicht ersetzen. - Caritas: An Schweden orientieren
Die Präsidentin der Caritas forderte bereits vor einigen Wochen, sich am Freiwilligenjahr in Schweden zu orientieren, bei dem Militär, Zivilschutz und andere Dienste gleichgestellt seien.
Dirk Wiese: Es bräuchte eine Zwei-Drittel-Mehrheit
Ob Merz’ Vorschlag für ein „allgemeines gesellschaftliches Pflichtjahr“ Erfolg hat, ist ohnehin ungewiss. Neben Verteidigungsminister Pistorius ist auch der Parlamentsgeschäftsführer der SPD, Dirk Wiese, skeptisch.
Die Einführung eines gesellschaftlichen Pflichtjahres müsse im Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden. Diese sei jedoch „absehbar nicht erkennbar“.
Damit dürfte Wiese Recht haben. Denn selbst wenn die Unionsparteien sich mit der SPD auf die Einführung eines Pflichtjahres einigen sollten, wären sie nicht nur auf die Zustimmung der Grünen, sondern auch auf die der AfD oder der Linken angewiesen.
Eine Kooperation mit der AfD erscheint ausgeschlossen. Und die Linke machte bereits deutlich, dass sie einen Pflichtdienst kategorisch ablehnt. Linke-Chef Jan van Aken sagte bei RTL und n-tv: „Ich bin gegen Pflichtdienste“.
Für eine Änderung des Grundgesetzes stünde die Linke „auf keinen Fall“ zur Verfügung. Um seinen Vorschlag umsetzen zu können, müsste Merz also nicht nur die Wohlfahrtsverbände überzeugen.
Nachricht: Ulrich Kraetzer
Faktencheck und Redigat: Annika Joeres
Mitgearbeitet haben: Anette Dowideit, Samira Joy Frauwallner