Wer bekennt sich zur Freiheit?
Die Konflikte in der Türkei haben direkte Auswirkungen auf die Entwicklungen innerhalb der türkischen Community in Deutschland. Ob Kämpfe in den Kurdengebieten oder Verfolgungen der Gülen-Bewegung – jeder Streit findet sein Echo zwischen Duisburg und Neukölln. Das Problem dabei: auch wer zu keinem Lager gehört, gerät unter Druck, wenn er sich zur Freiheit und Demokratie bekennt.
Der Politikwissenschaftler und Journalist Ismail Küpeli ist sich sicher: Sowohl der türkisch-kurdische Konflikt als auch die Repression in Folge des gescheiterten Putsches in der Türkei finden ihre Fortsetzung in Deutschland. „Die Konflikte in der Türkei setzen sich unmittelbar eins zu eins in Deutschland fort.“
Tatsächlich kommt es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen gerade in NRW. In vielen Familien herrscht Sorge, für die eigenen Überzeugungen oder die Herkunft angegriffen zu werden. CORRECTIV sind Menschen aus dem Ruhrgebiet bekannt, die Angst haben, ihre Meinung offen zu sagen – dabei vertreten sie keine extremistische Haltung, sondern sie trauen sich nicht, gegen den Hass zu reden, der über Internetforen verbreitet wird. Egal von welcher türkischen Partei.
Küpeli sagt, auch wenn sich die überwiegende Mehrheit der Türken in Deutschland integriert hat, haben etliche Menschen immer noch starke Verbindungen in die Türkei. Und sie stützen immer noch einen großen Teil ihrer Identität auf diese Verbindung. „Das hat auch damit zu tun, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft sie als Bürger zweiter Klasse angesehen oder sie als nicht dazugehörig betrachtet hat.“ Für diese Menschen sei es nun sehr wichtig, wie sich die Türkei entwickelt. Und deswegen versuchten sie darauf Einfluss zu nehmen. „Die Türkei ist für sie ein Ersatzpolitikfeld.“ Obwohl es für ihr Leben keinen unmittelbaren Einfluss hat, was in der Türkei passiert, orientieren sie sich an den Entwicklungen in der Türkei.
Dabei warnte Küpeli davor, zu stark zu verallgemeinern. Der weit überwiegende Teil der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland, fast 2 Millionen Menschen, gehe nicht auf die Straße und engagiere sich nicht in den Konflikten, sondern versuche in Deutschland ein normales Leben zu führen. Gleichwohl würden aber auch diese Menschen sich Meinungen zu den Konflikten in der Türkei bilden und sich entsprechend verhalten. Zu dieser Entwicklung hätten auch falsche Enbtscheidungen in der Vergangenheit beigetragen. Zum Beispiel sei es ein Fehler gewesen, die Verwaltung der Moscheegemeinden in Deutschland über den Moscheeverband DITIB in die Hände der türkischen Religionsbehörde Diyanet zu legen. Die Imame der DITIB-Moscheen werden fast durchweg in der Türkei ausgebildet und sind Angestellte der Religionsbehörde in Ankara, von wo diese Imame auch bezahlt werden. Küpeli: „Die Moscheen wurden dem türkischen Staat überlassen.“ Dies führe dazu, dass die Menschen Predigen hören, die mit der Lebenswirklichkeit in Deutschland nichts zu tun haben. Sie würden isoliert.
Küpeli sagt, es gehe darum, den Menschen Möglichkeiten zu verschaffen sich in Deutschland zu engagieren in Bereichen, die sie persönlich angehen, damit sie sich nicht in Konflikten engagieren, mit denen sie wenig zu tun haben. „Die deutsche Gesellschaft muss sich weiter öffnen.“ Auf der anderen Seite müsse dafür gesorgt werden, dass die Menschen die Isolation hinter sich lassen und der Zugriff der türkischen Regierung auf die deutsche Gesellschaft unterbrochen wird.
Semra Uzun-Önder, Leiterin des Festivals „Literatürk“, sagt, die Konflikte in der türkischen Gemeinde in Deutschland würden durch türkische Propaganda angeheizt, die über Internet und das türkische Fernsehen bis nach Deutschland wirken würde. „Es vergeht kein Tag ohne Hasstiraden.“ Direkt nach dem Aufstehen würden die Türken in Deutschland „mit Horrornachrichten geradezu zugeballert“. Erschossene Soldaten im Kurdengebiet, Säuberungsaktionen, Hassreden von Politikern. „Es gibt sehr wenig, was die Menschen zusammenführt, aber sehr viel was sie polarisiert.“ Die Nachrichten würden sich nahezu stündlich überschlagen. Unabhängige, abwägende Stimmen seien sehr selten.
„Der Hass ist groß“, sagt Semra Uzun-Önder. Bekannte würden sich verleugnen und gegenseitig als Verräter bezeichnen. „Ich befürchte, dass sich die Situation noch zuspitzen kann.“ Die Lage sei so aufgestachelt, dass viele Menschen Angst hätten, frei zu ihrer Meinung zu stehen. „Zu viele fühlen sich berufen, im Namen ihrer Religion oder ihres Landes Rache auszuüben oder Gerechtigkeit herzustellen, egal was sie unter dieser Gerechtigkeit verstehen.“ Die Frage sei: „Wofür entscheide ich mich?“ Wer sich zur Freiheit bekenne, laufe Gefahr abgestempelt zu werden. „Die Menschen haben Angst, die sich zur Demokratie und Freiheit zu bekennen.“