Mit tausend Tastentelefonen fing es an
Im nördlichen Ruhrgebiet kann 2017 wieder Politik-Geschichte geschrieben werden: Die AfD will dort besonders punkten. Unser Autor Stefan Laurin ist in Gladbeck aufgewachsen. 1994 ging er als Grünen-Ratsmitglied die erste schwarz-grüne Koalition ein. In unserer zweiteiligen Serie beschreibt er, wie er den politischen und wirtschaftlichen Wandel in seiner Geburtsstadt erlebt hat. Und warum die Rechten im Ruhrgebiet doch scheitern könnten.
Weiter geht es im 2. Teil – mit einer verflossenen Liebe, altbekannten Stubenhockern und viel zu nüchternen Türken.
—
Die Hewlett-Packard Computer standen in mannshohen Schränken in der zweiten Etage der Schedhalle auf dem Siemensgelände in Gladbeck-Ellinghorst. Hier produzierte der Konzern seit 1962 Telefone. Als das Unternehmen kam, hatte die Bergbaukrise gerade begonnen. 5500 Menschen arbeiteten zeitweise in dem Werk, es war ein Zeichen der Hoffnung und eine der großen Industrieansiedlungen im Ruhrgebiet.
Als Student arbeitete ich im Sommer 1989 wie viele aus meinem Abiturjahrgang bei Siemens. Wir verdienten gut und wenn wir uns in der Kantine trafen und die aus unerfindlichen Gründen innen grünen Bockwürstchen aßen, war es fast wie auf dem Schulhof.
Meine Aufgabe war es damals, Telefone zu testen, bevor sie ausgeliefert wurden. Mit einem Stecker schloss ich sie an die HP-Computer an, drückte einen Knopf. Funktionierten sie, kamen sie auf die rechte Palette, gab es ein Problem, auf die linke Palette neben meinem Arbeitsplatz.
Es war eine Katastrophe
Eines Tages, an einem wunderschönen Julimorgen, stellte mir ein Ingenieur 1000 weiße Tastentelefone hin, die ich noch nie gesehen hatte. „Das sind neue Modelle. Wir haben sie für AT&T in den USA gebaut. Wenn die zufrieden sind und die Telefone ihren Vorgaben entsprechen, werden sie hunderttausende abnehmen.“
Beeindruckt von der Wichtigkeit meiner Arbeit schloss ich die 1000 Telefone nach und nach an den Computer an. Als ich fertig war kam der Ingenieur vorbei, um sich die Ergebnisse der Tests anzuschauen. Über 90 Prozent der Telefone hatten ihn nicht bestanden. Eine höhere Fehlerquote hatte ich vorher nie gesehen. Normalerweise fiel nicht einmal jedes zehnte Gerät durch die Prüfung. Es war eine Katastrophe.
Nicht für den Ingenieur. Der tippte irgendwas in die HP-Rechner ein und ließ mich den Test mit den 900 aussortierten Telefonen wiederholen. Diesmal fiel nur noch die Hälfte durch. Der Ingenieur tippte wieder was in den Rechner ein. Ich wiederholte den Test. Jetzt hatten alle 1000 Geräte bestanden. „Die gehen jetzt in die USA“, sagte der Mann im weißen Kittel mit den bunten Plastikkugelschreibern in der Brusttasche.
Der Zechenturm wurde gesprengt
Kurz bevor die Semesterferien zu Ende waren, erfuhren wir, dass AT&T Siemens keinen Auftrag erteilt hatte. Die Telefone, erzählte man sich im Werk, hätten den strengen Vorgaben des US-Konzerns nicht entsprochen. Zwei Jahre später schloss Siemens sein Werk in Gladbeck. Ob es was mit dem geplatzten AT&T Auftrag zu tun hatte, konnte keiner sagen. Wo früher das Siemens -Werk war, sind heute ein Büromarkt, McDonalds und ein Gartencenter.
Für Gladbeck war das Siemens-Aus ein Schock. Das Werk sollte das Aus der Zechen auffangen. Das letzte Bergwerk schloss 1971, Graf Moltke. Hier hatte mein Großvater zuerst als Hauer, später dann als Sprengmeister gearbeitet. Als der Zechenturm ein Jahr später gesprengt wurde, durften wir als Kinder nicht zuschauen, obwohl unsere Schule nur ein paar Meter vom Zechengelände entfernt lag. Wir hörten die Explosionen im Klassenzimmer und waren traurig. Wir kannten alle jemanden, der auf Moltke gearbeitet hatte. Die Kumpel waren unsere Väter, Opas, Brüder oder Onkel.
Eine der ärmsten Städte in Westdeutschland
Gladbeck ist eine Stadt im Ruhrgebiet, genauer im nördlichen Ruhrgebiet. Es ist eine der ärmsten und verelendetsten Städte in Westdeutschland. Ich bin in Gladbeck aufgewachsen, ging dort zur Grundschule und aufs Gymnasium. Bis ich 32 Jahre alt war wohnte ich in der Stadt, unterbrochen von fünf Jahren in Frankfurt.
Während des Studiums saß ich für die Grünen ein paar Jahre im Rat. Wir machten 1994 die erste schwarz-grüne Koalition in einer deutschen Stadt und während ich das schreibe, kommt es mir vor, als ob ich über ein anderes Leben berichte, so weit weg ist das alles.
Das ganze Ruhrgebiet – ein großes Siechenhaus
Heute kann im nördlichen Ruhrgebiet wieder ein Stück Politikgeschichte geschrieben werden, weil sich hier im kommenden Jahr die Landtagswahlen entscheiden könnten. Die AfD hat angekündigt, das Ruhrgebiet zu ihrem Schwerpunkt im Wahlkampf zu machen. Und dafür hat sie gute Gründe: 13,8 Prozent der Gelsenkirchener hatten im November 2016 keinen Job, in Bochum waren es 9,9 Prozent. Nördlich der A40 kann man sich anschauen, was es bedeutet, wenn Städte langsam sterben. Im Vergleich zu Düsseldorf und Köln, zu Frankfurt und Stuttgart oder zu Hamburg und Berlin wirkt das ganze Ruhrgebiet wie ein großes Siechenhaus.
Aber im Norden des Ruhrgebiets ist alles noch trister: Als ich in Gladbeck in den 80er Jahre zur Schule ging, gab es in der Stadt drei Kinos mit zehn Sälen. Heute existiert kein Kino mehr. Es gab mit Karstadt und Peek&Cloppenburg zwei Kaufhäuser in der Innenstadt, es gab den Club Moove, in dem ich ein paar Mal auflegte, bevor sie mich zum Teufel jagten. Es gab Kneipen, die man über den Hinterhof erreichte und die auch nach der Sperrstunde geöffnet hatten und das Nudelland in der Markthalle mit frischen Nudeln
Der Kümmerer von Gladbeck
Heute gibt es das alles nicht mehr. An einem regnerischen und kalten Wintermorgen treffe ich im Johannes-Rau-Haus, mitten in der Gladbecker Innenstadt, den Fraktionsvorsitzenden der Gladbecker SPD, Michael Hübner.
Wenn es einen Fortschritt gibt, dann dass einer wie er heute in Gladbeck Politik gestaltet. Als ich noch in Gladbeck wohnte, war der frühere SPD-Fraktionschef noch zugleich RWE-Angestellter und sorgte dafür, dass die städtische Wohnungsbaugesellschaft noch Nachtspeicheröfen hatte, als das für viele ein Grund war, eine Wohnung nicht zu mieten. Die Dinger waren teuer, oft asbestverseucht und schafften es im Winter oft nicht, Wärme rund um die Uhr zu liefern. Aber das war egal, RWE ging vor. Hübner ist unabhängiger.
Der Mittvierziger, der seit 2010 im Landtag sitzt, wird oft angesprochen. Mal geht es um Politik, mal um eine Feier, mal um die Familie. Hübner ist ein Kümmerer, einer von der Sorte Sozis, über die man liest, dass es sie in der SPD kaum noch gibt und dass das einer der Gründe für den Niedergang der Partei ist.
Kein Nährboden für Rechte
Dass die AfD im nördlichen Ruhrgebiet Erfolg haben wird, glaubt er nicht: „Die haben es bis jetzt nicht geschafft, einen Ortsverein zu gründen.“ Einmal hätten sie es versucht, aber als der Wirt der Kneipe mitbekam, wer sich da in seinem Hinterzimmer traf, hätte er die ganze Truppe rausgeworfen. So kam es, dass die AfD bei der Kommunalwahl 2014 nicht einmal antrat.
„Und für die rechtspopulistischen UBP, die nie zu Sitzungen erscheint, reichte es gerade mal für einen Sitz im Rat der Stadt. Es gibt keine Stimmung für Rechte in der Stadt“, sagt Hübner. Als 2013 bekannt wurde, dass Marokkaner im Stadtteil Rentfort eine Taubenhalle zur Moschee umbauen wollten, hätte es ein paar Proteste gegeben und auf Bürgerversammlung hätten einzelne vor der Islamisierung Deutschland gewarnt. „Das waren aber ortsfremde Rechte, die durch die Gegend fahren und bei solchen Veranstaltungen Stimmung machen wollen. Wir haben uns damals als SPD hinter den Moscheeverein gestellt und deren Recht betont, sich ein Gotteshaus zu bauen. Es war richtig, dass wir nicht gewackelt haben.“
Heute sei die Moschee längst eröffnet und die Diskussion Vergangenheit. „Man muss Farbe bekennen und sich kümmern“, sagt Hübner.
Den klassischen Malocher gibt es nicht mehr
Gladbeck sei auch keine eine sterbende Stadt: „Wir wachsen, viele Stadtteile haben sich erholt.“ Und nein, dass die ehemaligen SPD-Wähler aus der Arbeiterklasse künftig AfD wählen, wie es in Mannheim der Fall war, glaubt er auch nicht. „Gladbeck ist schon lange keine Industriestadt mehr. Die alten Arbeitermilieus gibt es hier nicht mehr.“ Die alten Arbeiterviertel seien kaum wiederzuerkennen.
Hübner hat Recht. Auch wenn die großen Kaufhäuser weg sind, die Stadt ist nicht mehr so vergammelt wie vor ein paar Jahren. Nicht lebendig, nicht spannend, aber aufgeräumt. Viel mehr kann man von einer Stadt mit etwas mehr als 70.000 Einwohnern nicht erwarten. Selbst Brauck – als Kinder nannten wir den Stadtteil in der Nähe der Emscher „Tal der fliegenden Messer“ – hat sich gemacht. In der Roßheidestraße, auf der früher der Geiselgangster Dieter Degowski wohnte, sind die meisten Häuser renoviert. Die schlimmsten Bruchbuden wurden abgerissen, Reihenhäuser entstanden.
Gladbecks Überleben
Gladbeck profitiert von seiner Nähe zu Essen und seinen vergleichsweise günstigen Immobilienpreisen. Wem der Essener Süden zu teuer, der Essener Norden zu heruntergekommen und Dorsten und Kirchhellen zu weit sind, der zieht nach Gladbeck, baut oder kauft und pendelt nach Essen. Gladbeck könnte wohl alleine kaum überleben. Aber es ist eine gute Nischen-Stadt