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G8 oder G9: Das wollen die Parteien, das die Betroffenen

Der Streit um das Turbo-Abi G8 in NRW ist kurz vor den Landtagswahlen im vollen Gang. Alle Parteien haben mittlerweile ihre Konzepte zum Thema vorgestellt. Hinter ihnen steckt mal ein verändertes G8, mal eine Doppellösung oder eine ganz andere Art Gymnasium. Und was wollen eigentlich die direkt Betroffenen – die Schüler, Lehrer und Eltern in NRW? Hier ein Überblick über die verschiedenen Positionen. Die zweite Folge unserer Serie zum G8-G9-Gewackel in NRW.

von Miriam Bunjes

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Die Betroffenen:

Die Schüler

„Weg vom Ganztag wollen wir Schüler gar nicht“, sagt Luca Samlidis vom Vorstand der Landesschülervertretung. „Der ist gar nicht unser Problem.“ Der 17-jährige Gymnasiast aus Ennepetal steht nicht hinter den Forderungen der Elterninitiative, den Ganztag kompromisslos abschaffen zu wollen. „Das ist auch der Nachteil des Volksbegehrens. Bei aller Kritik an G9, die auch wir haben.“

Gegen G8 sind die Schüler dagegen entschieden. „Die Mehrheit von uns ist extrem gestresst davon, wie übervoll die Lernpläne sind“, sagt Samlidis. „Gerade für das Sprachenlernen braucht man Zeit zum Sprechen und nicht nur zum Pauken.“ Die Schülervertretung plädiert für eine inklusive Gesamtschule – im Ganztag: „mit Pausen, Lernformen, die auch mal vom Schreibtisch wegführen, einer Schule, die alle mitnimmt in ihrer individuellen Leistungsfähigkeit.“

Hier geht es zum Konzept der Schüler.

Die Eltern

Am Willen der Eltern kann keiner mehr vorbeikommen – ob das Volksbegehren nun durchkommt oder nicht, sagt Dieter Cohnen von der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW. „Das hat unsere Umfrage überdeutlich gemacht. Und für dieses Ergebnis werden wir uns einsetzen.“ Die klare Mehrheit der Eltern will G9. „Nur ungefähr 20 Prozent wollen es nicht. Für sie muss es eine tragfähige Begabtenförderung und den Weg zu einem kürzeren Abitur geben.“ Die Basis sei aber G9, „weil das einfach das ist, was Eltern, Schüler und auch Lehrer besser finden.“

Gegen den Ganztag seien die Eltern aber auch nicht kategorisch. Die Elternvertretung fordert ein offenes Ganztagsangebot mit verlässlichen Angeboten – „für alle, die das wünschen.“ Mit reformiertem Konzept. Verpflichtenden Fachunterricht am Nachmittag in der Unterstufe dagegen wollen sie nicht. Außerdem soll die Verteilung der Unterrichtstunden auf die Fächer geprüft werden und gute Konzepte zu Lehrplänen übernommen werden. Das Volksbegehren werden viele unterschreiben, erwartet Cohnen. „Der Wille zu G9 ist da, und viele sind auch bereit, sich für Veränderung in der Schulpolitik einzusetzen.“

Hier geht es zu den Forderungen der Eltern.

Die Lehrer

Auch Peter Silbernagel, NRW-Vorsitzender des Philologenverbandes – Lehrerverband der Gymnasiallehrer, glaubt, dass viele das Volksbegehren unterstützen werden. „Es wird sich schon nach der Wahl etwas am Schulweg des Gymnasiums in NRW ändern. Dafür ist der Druck der Eltern einfach zu groß.“ Das Problemgefühl der Eltern könne man einfach nicht mehr weg reden, sagt Silbernagel, der selber eher „mit G8 sympathisiert“. Das Volksbegehren spiele dabei eine Rolle. Die zentrale übernehme aber die Umfrage der Elternvertretung. Es sei überdeutlich, dass Eltern G9 wollen, „deshalb präsentieren jetzt auch alle Akteure ihre Ideen, die alle G9 im Namen führen.“

Es sei subjektiv, dass sich die Situation der Kinder an den Schulen stark verschlechtert habe, findet er. Die meisten Gymnasien in NRW wollen keine Veränderung, weil sie sich jetzt auf G8 eingestellt haben. „Auf keinen Fall wollen sie aber selbst entscheiden, ob sie G8 oder G9 anbieten“, sagt der Verbandschef. „Wir brauchen einen politischen Rahmen, der die Verantwortung für eine Regierungsentscheidung zum Thema übernimmt.“ Überlässt man jeder Schule die Wahl, führe das zu Konkurrenz zwischen Stadt und Land, wo man in dünnbesiedelten Regionen nicht innerhalb einer Schule beides anbieten könne. Oder es führe zum Buhlen um Schüler innerhalb einer Stadt und „auch zu nie endenden Diskussionen innerhalb der Schulen, die das mit jedem neu gewählten Schulgremium auch wieder ausfechten müssen“.

Vor allem müsste man bei jeder Entscheidung ehrlich sein: Bei G8 sei zu Beginn der Unterrichtsstoff einfach verdichtet, statt sortiert und neu konzeptioniert worden. „G9 darf dann auch nicht der jetzt verwendete G8-Stoff mit mehr Zeit sein, sondern muss dann auch wieder mehr und anders aufgebauter Inhalt darstellen.“ Das sei aufwändig, „deshalb haben die NRW-Bildungspolitiker das Thema auch lieber nicht angegangen.“ Die Hälfte der mehr als 40.000 Lehrer am Gymnasium kenne nur noch G8. Viele Schulen haben Konzepte erarbeitet, die auf die Turbo-Abi-Probleme reagieren. „Beide Modelle sind nicht automatisch besser“, sagt Silbernagel. „Ein politischer Schlingerkurs ist ein Leidensweg für alle.“

Die Parteien:

SPD: G8, aber flexibel

Die NRW-SPD will die Sekundarstufe 1 am Gymnasien wieder auf sechs Jahre verlängern und sieht die generelle Schulzeitverkürzung als „gescheitert“. Damit will sie laut ihrem – noch nicht beschlossenen – Regierungsprogramm „jüngere Schüler entlasten“. Die sollen nach der zehnten Klasse wieder einen Schulabschluss in der Tasche haben. Das zehnte Schuljahr wird zudem zu einem flexiblen Jahr, in dem die Schüler sich für ein Abitur nach zwölf oder dreizehn Jahren entscheiden: Indem sie entweder zusätzliche Kurse wählen oder ein zusätzliches Vertiefungsjahr. Die Oberstufe wäre so zweijährig – und wahlweise auch die zehnte Klasse.

(Die Ideen zu den Gymnasien finden sich im Parteiprogramm auf Seite 41.)

Grüne: individuelle Lernzeiten statt G8

Die amtierende Schulministerin Sylvia Löhrmann hat G8 von der schwarz-gelben Vorgängerregierung übernommen und war in ihrer Oppositionszeit erklärte Gegnerin der Schulzeitverlängerung. Während ihrer Amtszeit hat sie das zwölfjährige Gymnasium mehrfach in Details verändert. Jetzt schlagen die Grünen ein Modell vor, das keine feste Unterscheidung zwischen G8 und G9 vorsieht, sondern eine „individuelle flexible Lernzeit“, die auch für andere Schulformen gelten soll. Die zweite Fremdsprache soll in allen weiterführenden Schule wieder erst in Klasse 7 starten. Die Sekundarstufe 1 soll bis zur Klasse 9 oder bis zur Klasse 10 dauern – mit individuellen Lernzeiten, in denen Schüler ihren eigenen Lernfortschritt steuern, entweder einen schnellen oder einen langsameren Weg geht. Die Oberstufe soll weiter drei Jahre lang dauern.

Das im Volksbegehren der Initiative „G9-jetzt-NRW“ geforderte G9 lehnt die schulpolitische Sprecherin der Grünen, Sigrid Beer, klar ab: als „längst überholte Halbtagsschule mit entsprechendem Familienbild und Schulverständnis“. Schulen, die sich bei der Entwicklung für einen Ganztag entschieden haben, sollten nicht zurückgedreht werden, denn dieser ermögliche ein „anderes Lernen“. Schamlos fordere die Elterninitiative, dass in allen Schulformen Stunden in der Sek 1 gekürzt werden, „die der individuellen Förderung“ dienen, quasi als „Gegenfinanzierung“ des alten Halbtagsgymnasium. „Eine Rolle rückwärts“, findet Beer.

Dass sich bei der Schulzeit am Gymnasium etwas ändern müsse, sei aber eindeutig: Mit dem grünen Modell könnten Eltern an jedem Gymnasium G8 oder G9 wählen, nachdem die Erprobungsstufe in Klasse 6 zu Ende ist. Kinder, die schneller und leichter lernen, „sollten nicht zwangsweise ein Jahr länger in der Schule bleiben“. Heute würden aber viele nach der Erprobungsstufe das Gymnasium verlassen, weil G8 eine zu große Herausforderung ist. „Deshalb sollten alle Gymnasien beide Lernzeiten anbieten.“

CDU: G8 oder „echtes G9“ – das entscheiden die Schulen

Die CDU hat als letzte Partei ihr Schulkonzept vorgestellt – dass sie selbst, zusammen mit der FDP, das umkämpfte Turbo-Abi nach NRW gebracht hat, macht Politik zum Thema kompliziert.

Sie will nun den Gymnasien die Möglichkeit geben, „ein echtes G9 einzuführen“, sagt die schulpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Petra Vogt. Die Forderungen im Volksbegehren seien berechtigt. Alle Verbesserungsversuche am G8 hätten „keine spürbaren Erfolge“ gezeigt. Weil G8 aber an vielen Schulen so gut funktioniert, „dass die Eltern zufrieden sind“, wolle die CDU diese nicht zu G9 zwingen. Die Entscheidung für G9 könne jede Schule durch einen Beschluss der Schulkonferenz herbeiführen.

Das Volksbegehren habe gute Aussichten auf Erfolg, sagt Vogt und verweist darauf, dass „etwa 80 Prozent der Bevölkerung G8 ablehnen“. Schulpolitik könne auf Dauer nicht gegen eine Mehrheit der Eltern erfolgreich sein, daher müsse Politik Rahmenbedingungen für guten Unterricht in beiden Formen schaffen.

Linke: G9, aber ohne dreigliedriges Schulsystem

Die Linke in NRW will auf jeden Fall zurück zu G9 und hält auch nichts davon, die Entscheidung den Schulen zu überlassen: „Es muss eine grundsätzliche Entscheidung darüber auf Landesebene geben“, sagt Landessprecherin und Spitzenkandidatin der Linken, Özlem Demirel. Die Entscheidung, die Schulzeit zu verkürzen, sei von Anfang an ein Fehler gewesen, vor dem sie immer gewarnt hätten. Junge Menschen sollten so schnell wie möglich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und weltweit um Stellen konkurrieren, „das waren die erklärten Ziele von G8 und auch der Bachelor-Master-Reform an den Hochschulen: Kinder und ihre Bildung kommen dabei zu kurz.“

Auf dem existierendem G8-Modell aufbauen will Demirel dabei nicht, sondern einen Schulabschluss nach Klasse 10. „Auch die Kürzungen und Verdichtungen aus der Sekundarstufe 1 müssen zurückgenommen werden.“

Die Linke möchte „grundsätzlich über Bildung und das Schulsystem diskutieren“ und befürwortet „eine Schule für alle Kinder – ohne Selektion in unterschiedliche Schulformen – bis zur zehnten Klasse, wie es sie auch in vielen skandinavischen Ländern gibt.“ Sie ist für gebundene Ganztagsschulen mit „kulturellen, sozialen und sportlichen Angeboten und auch der Möglichkeit über Unterricht hinaus sich weiterzubilden.“ Einen Widerspruch zum G9 sieht sie im Ganztag nicht, „für echte Bildung braucht es mehr Zeit für Bildung der Schüler aber auch für Weiterbildung der Lehrer.“

FDP: Wahlfreiheit zwischen G8 und G9

Schulen sollen sich zwischen G8 und G9 entscheiden können. Schulen in G9 sollen eine Sekundarstufe von der 5. bis zur 10. Klasse haben. Die zweite Fremdsprache soll wieder in Klasse sieben beginnen, und nach der 10. Klasse haben Gymnasiasten auch in diesem Modell einen Schulabschluss. Auch die Jahreswochenstunden sollen sich wie im früheren G9 verteilen.

„Nachmittagsunterricht muss bei entsprechender Stundenplangestaltung nicht stattfinden“, sagt die bildungspolitische Sprecherin Yvonne Gebauer. Vorschreiben will die FDP die im Volksbegehren geforderten maximal 180 Jahreswochenstunden in der Sekundarstufe 1 aber nicht, „weil dadurch an anderen Schulformen sowie bei schwächeren Schülerinnen und Schülern Unterrichtsstunden zwangsweise gestrichen würden.“

Die Diskussion um G8 oder G9 solle vor allem als Qualitätsdebatte geführt werden. Die nationale und internationale Vergleichbarkeit von Chancen für Jugendliche, die Möglichkeit früher in den Beruf oder ins Studium zu gehen oder ein Jahr für Spracherwerb und Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen, sieht sie als Vorteil von G8. Da aber viele Eltern den Stoff in G8 als zu gedrängt sehen, Verkürzungen in den Kernfächern kritisieren und gerade an Gymnasien keinen Nachmittagsunterricht wollen, will die FDP Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten anbieten.

AfD: Zurück zu G9

Die AfD will zurück zu neun Jahren Gymnasium – „unabhängig von der Volksinitiative“, wie ihr bildungspolitischer Sprecher Helmut Seifen betont. In Rückgriff auf die Ideen des Humanismus solle die Schulpolitik den einzelnen Menschen und nicht seine Verwertbarkeit in den Mittelpunkt des Bildungsprozesses stellen.

Dazu will die AfD sich für die zweite Fremdsprache ab der Klasse 7 einsetzen und in der Sekundarstufe 1 „mindestens 180 und höchstens 188“ Jahreswochenstunden. Nachmittagsunterricht lasse sich damit von Klasse 9 an nicht vermeiden, beschränke sich aber in Klasse 9 und 10 auf einen Nachmittag. Die AfD will, „wie das früher auch schon war, einzelnen besonders begabten Schülern das Überspringen einer Klassenstufe ermöglichen“, so Seifen. Es gebe kein tragfähiges Konzept, um G8 zu verbessern, findet die AfD. Das zeige auch die Tatsache, dass mehrfach in den letzten zehn Jahren nachgebessert werden musst. Jetzt fehle in der Sek 1 ein Jahr Geschichte und Physik, „das und noch einiges mehr ist ein eklatanter Bildungsabbau, der als Fortschritt und Modernität verkauft wird.“

Die Piraten: Rückkehr zu G9

Die Piraten fordern eine flächendeckende Rückkehr zu G9 und kämpfen an der Seite der Landeselternschaft Gymnasien und der Bürgerinitiative „G9 jetzt!“ für eine Rückkehr zu G9 schon im Schuljahr 2017/2018. Die Piraten beteiligen sich auch an der Unterschriftensammlung.

Es gebe keine pädagogischen Argumente für G8, betont Piraten-Bildungspolitikerin Monika Pieper. Die Schulzeitverkürzung in der der Sekundarstufe müsse sofort fallen. Mit Konzepten für eine flexible Oberstufe wollen sich die Piraten aber auch beschäftigen. Die individuelle Lernzeit, die jetzt die Grünen ins Gespräch bringen, ist Piratenposition seit 2010. Pieper betont: „So eine Umstrukturierung ist aber realistisch nur mittel- bis langfristig umsetzbar und nutzt in der aktuellen Debatte genau – gar nichts.“ Schulministerin Löhrmann wirft sie vor, „Nebelkerzen zu werfen.“

Hier geht es zu einem Gastbeitrag von Monika Pieper auf CORRECTIV.Ruhr.