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Tönnies: Caritas-Vorstand spricht von „Mauer des Schweigens“

Der Vorstand der Caritas Gütersloh spricht im Fall Tönnies von einer „Mauer des Schweigens“. Der Stammsitz des Fleischkonzerns in Rheda-Wiedenbrück nimmt nach wochenlangem Stillstand die Produktion wieder schrittweise auf. Ein bulgarischer Werksarbeiter wirft dem Konzern Fahrlässigkeit vor. Tönnies und dessen Subunternehmen beantragen Lohnkostenerstattung beim Land NRW.

von Katarina Huth

Clemens Tönnies, Geschäftsführer der Tönnies-Holding, verlässt die Firmenzentrale. Im Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück wird der Betrieb nach wochenlangem Stillstand wieder schrittweise aufgenommen. (Bild: picture alliance/David Inderlied/dpa)

„Es gibt eine Mauer des Schweigens“, sagt Volker Brüggenjürgen, Vorstand des Caritas-Verbands Gütersloh. „Jeder hier in der Region weiß, wie es bei Tönnies läuft. Man traut sich nicht, gegen diese mächtigen Unternehmen oder diese finanzstarken Branchenriesen als Einzelpersonen aufzutreten.“ Brüggenjürgen arbeitet mit seinem Team seit Jahren eng mit den vorrangig aus Südosteuropa stammenden Arbeiter-Familien zusammen und berät die Werkvertragsarbeitnehmer. Viele haben selbst nach Jahren kaum Deutschkenntnisse und sind stark abhängig von ihrem Arbeitgeber. „Man hat gar kein Interesse daran, dass die Leute Deutsch lernen können“, sagt er. „Weil wer Deutsch kann, kann ja viel leichter Hilfe in Anspruch nehmen, könnte auch viel leichter seine Rechte durchsetzen. Und von daher gibt es vielleicht sogar ein Interesse, dass man die Menschen in so einer Parallelgesellschaft lässt.“

Produktion bei Tönnies läuft wieder an

Gestern, am Donnerstag, liefen die Fließbänder im Tönnies Schlachtbetrieb in Rheda-Wiedenbrück mit rund 600 Beschäftigten wieder schrittweise an, die ersten 8.000 Schweine wurden geliefert. Doch bei einer Begehung am Nachmittag stellten Gutachter Sicherheitsmängel an verschiedenen Arbeitsplätzen fest Tönnies musste erneut eine Zwangspause einlegen und über Nacht nachrüsten. Er wartet nun auf die Abnahme der Sachverständigen. 

Der Schlachtkonzern hatte die Produktion seiner Fleischfabrik in Rheda-Wiedenbrück für einen Monat stilllegen müssen, als es Mitte Juni zu einem Corona-Massenausbruch kam. Mehr als 1.400 der meist rumänischen, polnischen und bulgarischen Werksarbeiter wurden positiv auf COVID 19 getestet. Hunderte mussten bis zu vier Wochen in Quarantäne. Die Arbeitsbedingungen der rund 7.000 Werkarbeiter gerieten stark in die Kritik. 

Die Zeiten mit Tönnies zu kooperieren, seien vorbei, sagte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) Ende Juni vor laufenden Kameras. Nicht nur diese Aussage legt eine enge Verstrickung zwischen Tönnies und der Politik nahe. Ein internes Papier der Stadt Rheda-Wiedenbrück, das dem ARD-Magazin Monitor vorliegt, belegt, dass vom Land auch noch zu Corona-Hochzeiten unhaltbare Zustände in der Fleischproduktion bei Tönnies geduldet und gerechtfertigt wurden.

Tönnies Werksarbeiter spricht von fehlender Menschlichkeit 

CORRECTIV trifft einen bulgarischen Werksarbeiter in Gütersloh, der über einen polnischen Subunternehmer für Tönnies arbeitet. Er möchte anonym bleiben. Eine Bekannte, ebenfalls aus Bulgarien, übersetzt. „Tönnies interessiert sich nur für Geld, nicht für die Menschen oder woher das Geld kommt und wie die Menschen leben. Er ist kein korrekter Arbeitgeber. Die Bedingungen sind nicht in Ordnung. Als wären die Arbeiter Tiere. Wenn man viel Geld hat, kann man alles kaufen. Es herrscht keine Menschlichkeit.“

Auch Brüggenjürgen erzählt von ähnlichen Schilderungen. Arbeitszeiten von 50, 60 Stunden und mehr in der Woche seien überhaupt nicht ungewöhnlich. Die Menschen würden mit Kleinbussen mitten in der Nacht von ihren Wohnungen abgeholt und in die Werke gefahren. Denn Arbeitsbeginn ist für die erste Schicht um 4 Uhr morgens, erzählt uns der Arbeiter. “Das heißt, sie stehen mitten in der Nacht auf und sind dann 14, 15 Stunden unterwegs.” sagt Brüggenjürgen. Die Arbeitsbedingungen seien extrem: sehr kalt, sehr laut, unter starken Gerüchen und hohem Arbeitstempo. „Man wird sehr häufig – so berichten uns die Klienten – von den Vorarbeiter angeschrien, um dann noch schneller zu arbeiten.“ 

Werkarbeiter sind durch Wohnsituation doppelt abhängig

„Wenn du zur Toilette musst oder dich nicht wohlfühlst und zum Arzt musst”, sagt der bulgarischen Werksarbeiter, „hast du Angst vor den Abteilungsleitern. Wenn du nach Hause gehst, weil du Fieber hast oder etwas passiert ist, kannst du am nächsten Tag gekündigt werden. Die Menschen haben keine Alternative, sie haben keine Wahl! Sie müssen bei Tönnies bleiben, sie können kein Deutsch. Wenn jemand gekündigt wird, hat er am nächsten Tag keine Wohnung mehr, keine Arbeit.“

Die Aussagen des Bulgaren beschreiben für Brüggenjürgen keinen Einzelfall. „Die armen Verhältnisse der Menschen werden maximal ausgenutzt, sie werden maximal ausgebeutet“, sagt der Caritas-Vorstand. „Das Vorenthalten von Lohn ist völlig normal.“ Die Abhängigkeit der Menschen entstehe durch die Koppelung von Werkvertrag und Wohnen. „Wer bei seinem Vorarbeiter aufmuckt und sagt ,Die Arbeitsverhältnisse sind nicht in Ordnung’, der fliegt in der Regel sofort aus seiner Wohnung. Die Menschen sind so rechtlos diesen Subunternehmern und Vermietern ausgeliefert, dass sie überhaupt keine Chance haben, ihre Rechtsansprüche durchzusetzen.“

Volker Brüggenjürgen ist Vorstand des Caritas-Verbands Gütersloh. Dieser berät seit Jahren vor Ort Werkvertragsarbeitnehmer und ihre Familien, die meist aus Südosteuropa kommen. (Foto: Hartmut Salzmann)

Waren die Corona-Schutzmaßnahmen ausreichend?

Als Ende März die ersten deutschlandweiten Kontaktsperren verhängt wurden, hielt Tönnies den Regelbetrieb in den Fleischfabriken aufrecht. Lebensmittelproduktion wurde von der Bundesregierung als systemrelevant eingestuft, dazu gehörten auch Schlachtbetriebe. Auf der Webseite der Tönnies Unternehmensgruppe findet sich ein Zeitstrahl zu den Vorkehrungen im Umgang mit der COVID19-Pandemie. Der Zeitstrahl beginnt Ende Februar, als Tönnies einen Pandemie-Krisenstab einrichtete. Der Konzern habe in den folgenden Monaten Plakate zur Aufklärung aufgehängt und über die Mitarbeiter-App und Telefon-Hotline für Aufklärung der Angestellten gesorgt. Ab Ende März erhielten alle Mitarbeiter laut Firmen-Website eine Astrohaube mit Kopf- und Mundschutz pro Tag, im April folgte ein Körpertemperaturscanner. 

Der bulgarische Arbeiter berichtet etwas Anderes. „Es war sehr schlecht organisiert“, sagt er. Zwischen März und Mai habe es Desinfektionsmittel gegeben – sonst nichts. „Tönnies hat zu spät reagiert. Die Leitung hat zu spät Maßnahmen organisiert“, sagt er. „Es haben kranke Leute gearbeitet, aber ich weiß natürlich nicht, ob das Corona war. Wenn einer krank ist, kann die Klimaanlage die Viren schnell verteilen.“ Seine ruhige Stimme hebt etwas an. „Die Arbeiter zwei-drei Monate weiterarbeiten zu lassen ohne Schutz, trotz Corona, das ist fahrlässig. Tönnies hat die Menschen nicht geschützt. Wenn Arbeiter zur Risikogruppe gehören, zum Beispiel herzkrank sind, ist es gefährlich. Es ist Tönnies egal, was mit diesen Menschen ist, sie haben keine Wahl. Tönnies ist verantwortlich, nur wurde er bisher nicht zur Verantwortung gezogen.“ 

Tönnies beantragt Lohnkostenerstattung beim Land NRW

Anfang der Woche hat die Tönnies Unternehmensgruppe sowie dessen Subunternehmen gesetzliche Lohnkostenerstattungen für die Zeit des Produktionsstillstandes beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe beantragt. „Ich habe dafür wenig Verständnis“, sagt dazu Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU). Auch NRW-Arbeitsminister Karl Josef Laumann (CDU) sieht die Antragstellung kritisch. „Ich würde mir anstelle von Herrn Tönnies und seinen Geschäftspartnern sehr genau überlegen, was man den Bürgerinnen und Bürgern in Nordrhein-Westfalen eigentlich noch alles zumuten will.“ Im ZDF-Morgenmagazin kommentiert er: „Sie können sicher sein, dass die Behörden in Nordrhein-Westfalen freiwillig keinen Cent an Tönnies bezahlen werden.“

Volker Brüggenjürgen, der Vorstand des Caritas-Verbands Gütersloh, äußert sich zum ersten Mal zu den Anträgen: „Ist denn dieser Massenausbruch nicht nur deshalb entstanden, weil das Unternehmen sich nicht an die Infektionsregeln und die Schutzabstände gehalten hat?“ Tönnies Verhalten sei „unverständlich“ und mache ihn „absolut wütend“: „Wenn ich dann gleichzeitig vielleicht Verursacher dieser Massenausbruches oder des Lockdowns im Kreis Gütersloh bin und dann noch staatliche Hilfen in Anspruch nehme für Lohnfortzahlung, die dann möglicherweise nicht einmal die Arbeitnehmer erreicht, was zumindest viele vermuten. Da hört dann natürlich jegliches Verständnis in der Bevölkerung für auf.“ 

Allerdings könne auch ein ausbeuterisches Unternehmen, welches gegen Infektionsregeln verstoßen hat, Anspruch auf staatliche Hilfe haben, schränkt Brüggenjürgen ein. Grundlage des Antrags auf Lohnkostenerstattung ist das Infektionsschutzgesetzes von 2001, nach dem bei staatlich verordneter Quarantäne Anspruch auf Entschädigung bestehen kann. . 

Fleischfabrikant schafft Werkverträge bis Ende des Jahres ab

Am 10. Juli kündigte Tönnies als Deutschlands größter Schweineschlachtbetrieb an, alle Werkverträge in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung bis Ende des Jahres abzuschaffen. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die neuen Anforderungen aus Politik und Gesellschaft zu erfüllen“, sagt Geschäftsführer Clemens Tönnies. Brüggenjürgen überzeugt das nicht: „Durch die Abschaffung der Werkverträge haben die Arbeitnehmer noch keine bessere Wohnung, zahlen weniger Mieter oder haben bessere Bildungschancen für ihre Kinder. Und sie sprechen noch nicht automatisch Deutsch!“ Die eigentliche Aufgabe der Integration fange dann erst an.

Wir haben das Unternehmen mit den Vorwürfen konfrontiert. Ein Unternehmenssprecher teilt uns mit: „Grundsätzlich ist die Schilderung der Pandemieprävention, die wir seit Ende Februar betreiben, falsch. Wir haben diverse Maßnahmen individuell für unterschiedliche Abteilungen ergriffen, die Sie auch auf unserer Website unter www.toennies.de/corona nachlesen können.“ Auch würde „für alle Beschäftigten das deutsche Arbeitsrecht“ gelten. „Erkrankte Mitarbeiter dürfen nicht ins Werk kommen und besitzen den Schutz der deutschen Krankenversicherung inkl der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall.“ 

Wir fragten auch, wie der Konzern in den kommenden Monaten die Arbeitsbedingungen der Arbeiter verbessern wolle. Und mit welchen Maßnahmen die Arbeiter vor einem erneuten Corona-Ausbruch schützen wolle. Immerhin soll in den Hallen Rheda-Wiedenbrück noch heute wieder geschlachtet werden, sobald die Gutachter den Startschuss geben. Man stehe derzeit in „sehr engem Austausch mit den Behörden“, sagt der Unternehmenssprecher. „Unser Hygienekonzept befindet sich aktuell in der Endprüfung, sobald wir hier eine Rückmeldung haben, werden wir dieses offen kommunizieren.“