Alte Apotheke

Gepanschte Krebsmedikamente: Wie viele Patienten sind möglicherweise betroffen?

Die Stadt Bottrop stellt die Zahl der Patienten in Frage, die von Peter S. Medikamente bekommen haben. Anstatt sich für die Betroffenen einzusetzen, zweifelt die Stadt die Recherchen von CORRECTIV an.

von Bastian Schlange , Anna Mayr

In der Kostenloszeitung "Mittendrin!" zweifelt die Stadt Bottrop Correctiv-Recherchen an.© Correctiv.Ruhr

In der kostenlosen Wurfsendung „Mittendrin!“, die an Bottroper Haushalte verteilt wird, wirft der Sprecher der Stadt Bottrop, Andreas Pläsken, CORRECTIV vor, irreführende Zahlen zu den betroffenen Patienten und gepanschten Medikamenten im Skandal um die Alte Apotheke zu verbreiten.

„Laut ARD-Magazin Panorama und Recherchezentrum CORRECTIV soll es 3700 betroffene Patienten geben“, sagte Pläsken in der aktuellen Samstagsausgabe von Bottrop „Mittendrin!“. Er beruft sich dabei auf die Staatsanwaltschaft, die von einer niedrigeren Zahl spricht. Pläsken zweifelt auch daran, wie viele Wirkstoffe Peter S. gepanscht haben soll. Er kenne nur die Zahl „34“ – „Auch hier nennen Panorama und CORRECTIV viel höhere Zahlen.“ (Konkret nennen wir von CORRECTIV 49 oder mehr Wirkstoffe). Pläsken: „Ich frage mich, woher sie die haben.“

Die Aufgabe der Staatsanwaltschaft

Grundsätzlich: Die Staatsanwaltschaft Essen ist nicht dafür zuständig, den ganzen Skandal aus medizinischer Sicht aufzuklären. Die Staatsanwaltschaft muss nur genügend Beweise zusammentragen, um den Angeklagten Peter S. wegen Betrugs und Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz zu belangen. Sie muss nicht dafür sorgen, dass Patienten darüber informiert werden, ob sie betroffen sind. Sie muss dafür sorgen, dass Peter S. bestraft wird.

Deshalb hat die Staatsanwaltschaft auch nur die Buchführung der Alten Apotheke aus den Jahren 2012 bis 2016 überprüft. Sie hat geprüft, ob Peter S. weniger Wirkstoffe eingekauft hat, als er verkauft hat. Betrugsfälle, die länger als fünf Jahre zurückliegen, kann die Staatsanwaltschaft nicht mehr zur Klage bringen. Sie gelten als verjährt. Deswegen hat sie diese nicht untersucht. Selbst wenn damals Patienten von der Panscherei betroffen waren. Die Staatsanwaltschaft hat also nur den Zeitraum von 2012 an untersucht.

Kommen wir zu den Tatsachen. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft hat Peter S. in seinem speziellen Reinraumlabor 138 Wirkstoffe zu Krebstherapien angemischt. Von diesen 138 Wirkstoffen gehörten 74 zu den sogenannten Zytostatika, speziellen Krebsmedikamenten. Das sagt die Staatsanwaltschaft auf unsere

Presseanfrage zur Medikamentenliste

.

Grafik_01.jpg

Die folgenden Illustrationen zu den Wirkstoffen dienen zur Veranschaulichung der Geschichte. Sie sind keine genauen Piktogramme.

Correctiv.Ruhr/Tina Jakob

Für diese 74 Wirkstoffe hat die Staatsanwaltschaft die Buchhaltung der vergangenen fünf Jahre überprüft. In diesem Zeitraum waren es 35 Wirkstoffe, bei denen die eingekaufte Menge lediglich 70 Prozent oder weniger entsprach als die verkaufte Menge. Das bedeutet: 35 Wirkstoffe gegen Krebs hat Peter S. demnach verdünnt oder ganz ohne Wirkstoff verkauft.

Grafik_02.jpg

Correctiv.Ruhr/Tina Jakob

Weitere Stoffe durch die Razzia

Bei ihrer Razzia am 29. November 2016 in der Alten Apotheke stellten Ermittler zusätzlich 117 fertige Therapiebeutel und Spritzen sicher. Medikamente, die Peter schon angerührt hatte. Bei mehr als der Hälfte dieser Mischungen stimmten die Inhalte und Dosierungen nicht. Die Stadt Bottrop hat die betroffenen Wirkstoffe – insgesamt 14 – in ihrer Liste mit aufgenommen und damit die Liste der gepanschten Wirkstoffe auf 49 erweitert.

Diese Zahl scheint Stadtsprecher Pläsken nicht zu kennen, obwohl die Liste mit den 49 Wirkstoffen auf der Website des Gesundheitsamts Bottrop veröffentlicht wurde.

1300 Betroffene in Bottrop

Nach den Kriterien der Staatsanwaltschaft, die in erster Linie wegen Betrugs ermittelt, sind lediglich die Patienten betroffen, die im Zeitraum 2012 bis 2016 einen der 35 Wirkstoffe aus der Alten Apotheke erhalten haben.

Man sollte aber von mindestens 49 Wirkstoffen ausgehen – da für diese Wirkstoffe Panschereien nachweisbar sind. Wenn man sich anschaut, wer Medikamente mit diesen Wirkstoffen aus der Alten Apotheke bekommen hat, findet man mehr als 3700 Menschen in sechs Bundesländern. Dies geht aus Unterlagen hervor, die den Ermittlern vorliegen. Allein die Onkologen in Bottrop haben über 31.000 Infusionsbeutel für mehr als 1300 Patienten aus der Apotheke von Peter S. erhalten.

Die Zahlen sind höher

Diese Zahlen sind aber aus folgenden Gründen immer noch zu niedrig: Peter S. betrieb seit 2001 ein Zytolabor in der Alten Apotheke und verkaufte Krebsmedikamente. Seit 2009 war er Inhaber der Apotheke. Unstimmigkeiten beim Ein- und Verkauf finden sich nicht nur in den juristisch relevanten fünf Jahren.

Schaut man in die Unterlagen der Ermittler, sind tatsächlich seit 2009 bundesweit über 5600 Patienten betroffen. Und wenn man bis 2005 zurückschaut, sind es sogar über 7300 Patienten. Aus medizinischer Sicht und in Bezug auf die Aufarbeitung des Falls ist der Ansatz der Staatsanwaltschaft also nicht relevant. Stattdessen muss man sich die Zahl der Menschen anschauen, die tatsächlich betroffen sind und möglicherweise gepanschte Medikamente aus der Alten Apotheke bekommen haben.

Und genau das passiert leider immer noch nicht von Seiten der Behörden. Im Dezember 2016 wurden auf der Seite des Gesundheitsamts Bottrop fünf Wirkstoffe veröffentlicht. Das waren aber nur die Wirkstoffe, die der Whistleblower Martin Porwoll als Beweis vorgelegt hatte, als er die Anzeige gegen Peter S. einreichte. Diese Liste wurde erst nach unserer Berichterstattung mit Panorama im Juli 2017 – also sieben Monate später – auf 49 Wirkstoffe erweitert. Pläsken sagte gegenüber „Mittendrin!“: „Wir von der Stadt Bottrop haben lange dafür gekämpft, um die Wirkstoffe von der Staatsanwaltschaft zu erhalten.“ Das ist so nicht richtig und geht auch nicht aus den Unterlagen hervor. Im Gegenteil monatelang ist nichts an Aufklärung in Bottrop geschehen – obwohl das Landeszentrum Gesundheit NRW bereits Ende Januar 2017 darüber informierte, dass mehr als fünf Wirkstoffe von der Panscherei betroffen sind.

Eine Warnung für alle Stoffe

Aus medizinischer Sicht ist es nicht nachvollziehbar, dass die Stadt Bottrop und die zuständigen Gesundheitsbehörden keine generelle Warnung vor sämtlichen Wirkstoffen herausgegeben haben, die aus der „Alten Apotheke“ kamen. Denn auch die Zusammenstellung der 49 gepanschten Wirkstoffe wirft Fragen auf.

Grafik_03.jpg

Correctiv.Ruhr/Tina Jakob

Etwas mehr als die Hälfte der 138 Wirkstoffe – nämlich nur die 74 Zytostatika – wurden von der Staatsanwaltschaft konkret durchgerechnet. Die übrigen Stoffe, Begleitmedikamente für Krebsbehandlungen aber auch andere Wirkstoffe, wurden nicht durchgerechnet. Und das, obwohl auch einige Mittel gegen Übelkeit genauso teuer sind wie Chemotherapien. Bei der Razzia in der Apotheke wurden auch Wirkstoffe gefunden, die nicht zu den Wirkstoffen gegen Krebs zählten aber trotzdem falsch dosiert waren. Zum Beispiel Dexamethason, ein Mittel gegen Übelkeit. Außerdem fand man weitere gepanschte Zytostatika – Wirkstoffe, die eigentlich nach Berechnung der Staatsanwaltschaft als sicher galten.

Grafik_04.jpg

Correctiv.Ruhr/Tina Jakob

Wir hätten von der Stadt Bottrop erwartet, dass sie den Skandal aus eigener Kraft versucht aufzuklären. Dass sie versucht, die Missstände rund um die „Alte Apotheke“ ans Licht zu bringen. Und dass sie mit anderen Behörden alles daran setzt, die betroffenen Patienten zu informieren. Stattdessen macht die Aussage von Stadtsprecher Andreas Pläsken im Kostenlosblatt „Mittendrin!“ klar: Der Wille, dem Skandal mit voller Offenheit, Transparenz und Konsequenz zu begegnen, existiert nicht. Stattdessen versteckt sich die Stadt Bottrop hinter einer anderen Behörde, der Staatsanwaltschaft; einer Behörde, die nicht den Zweck verfolgen kann, den ganzen Skandal aufzuarbeiten. Dies müsste schon die Stadt Bottrop leisten.

Weitere Zweifel an der Wirkstoffliste haben wir hier zusammengefasst