Der Prozess

Der Prozess, Tag 1

CORRECTIV begleitet den Prozess in einem der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit. Der Bottroper Apotheker Peter Stadtmann wurde wegen gepanschter Krebsmedikamente in 60.000 Fällen angeklagt. Betrugsschaden: 56 Millionen Euro. Tausende Patienten in fünf Bundesländern sind betroffen. Von November 2017 bis Januar 2018 sind 14 Verhandlungstage im Landgericht Essen angesetzt. CORRECTIV berichtet an den Verhandlungstagen aus dem Gerichtssaal.

von Cristina Helberg , Marcus Bensmann

Peter Stadtmann vorm Landgericht Essen.© Correctiv.Ruhr

Schon am frühen Morgen warten Journalisten und Betroffene vor dem Landgericht Essen. Später im Gerichtssaal ist der Zuschauerraum voll. Sowohl die Plätze für Zuschauer als auch für Journalisten sind komplett besetzt. Knapp 50 Betroffene und 40 Journalisten sind anwesend.

Was ist heute passiert?

Der Richter Johannes Hidding eröffnet den Prozess. Das Gericht besteht neben Hidding aus zwei weiteren Richtern, zwei Schöffen und einem Ergänzungsschöffen. Das mit den Schöffen ist wichtig. Warum, erklären wir weiter unten. Der Staatsanwalt Rudolf Jakubowski verliest die Anklageschrift in gekürzter Fassung. Viele Zahlen und Medikamentennamen. Der Prozess wird eröffnet. Aber er könnte morgen schon vorbei sein.

Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?

Peter Stadtmann betritt den Gerichtssaal ganz in schwarz gekleidet Er hat deutlich abgenommen und wirkt selbstsicher. Sein Gesicht verdeckt er nicht. Während der Verlesung der Anklageschrift hört er konzentriert zu und bespricht sich mit seinen Anwälten.

Welchen Eindruck machen die Betroffenen?

Die Anspannung der Betroffenen ist zu spüren. Einige tragen weiße Rosen. Die juristischen Feinheiten des Gerichtsprozesses am ersten Tag waren für einige schwer erträglich. Aber sie sind erleichtert, dass endlich der Prozess begonnen hat.

Die wichtigsten Ereignisse des Tages:

  • Erfolg für die Betroffenen: Der Richter lässt zusätzliche Nebenklagen zu. Mehrere weitere Nebenklagen sollen kurzfristig in den nächsten Tagen zugelassen werden. Einziges Kriterium: Die Patienten müssen nachweisen, dass sie im für die Anklage relevanten Zeitraum Medikamente der Alten Apotheke erhalten haben. Dafür reicht es, auf den Patientenlisten zu stehen. Der Richter fragte zur Zulassung der Nebenklage beispielsweise das Geburtsdatum einer Mandantin ab, eine andere Mandantin musste ihr Familienstammbuch einreichen. Damit geht der Richter deutlich weiter als die Staatsanwaltschaft und ermöglicht tausenden Betroffenen die Nebenklage. Die Staatsanwaltschaft hatte sich bisher vor allem auf den wirtschaftlich Schaden beschränkt, den Peter Stadtmann durch sein Panschen verursacht haben soll.
  • Tötungsabsichten: Die Anwälte der Nebenklage setzen dagegen einen klaren Ton. Sie werfen dem Angeklagten Peter Stadtmann „Tötungsabsichten bis zum Mordversuch“ durch das Panschen von Medikamenten vor. Sie kritisieren, dass der Staatsanwalt in der Anklage hunderte Seiten Zahlen herunterleiert, aber dem angerichteten Leid widmet er nur zwei Absätze. Die Anwälte der Nebenklage argumentieren, die Wirtschaftskammer sei daher nicht der richtige Ort für den Strafprozess. Deshalb fordern sie die Verlegung des Prozesses gegen Peter Stadtmann an das Schwurgericht.

  • Formale Mängel: Die Anwälte Stadtmanns zweifeln an der rechtmäßigen Benennung eines der Schöffen wegen formaler Mängel. Schöffen sind ehrenamtliche Richter, ohne juristische Ausbildung. Während der Verhandlung haben sie das gleiche Recht wie Berufsrichter. Sie entscheiden über Unschuld oder Schuld. Jeder Deutsche kann theoretisch als Schöffe benannt werden und ist dann verpflichtet das Amt auszuüben. Hier muss man wissen: Das Schöffenamt kann man nicht wegen einer Grippe ablehnen. Es gibt enge gesetzliche Grenzen, um von dieser Aufgabe befreit zu werden. Hier setzt die Verteidigung an. In diesem Fall wurde eine anfangs bestimmte Hauptschöffin wegen einer angeblich unkomplizierten Augenoperation vom Richter ausgetauscht. Die Verteidigung argumentiert, der vorgegebene Grund sei nicht relevant genug, und zweifelt deshalb die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Gerichts an. Diese formale Verfahrenskritik birgt Sprengstoff. Denn dies könnte dazu führen, dass die ganze Verhandlung neu aufgerollt werden müsste. Sollte das passieren, könnten die Verteidiger Stadtmanns fordern, dass dann die Untersuchungshaft des Apothekers ausgesetzt werden müsse. Die nicht ordnungsgemäße Zusammensetzung eines Gerichtes ist außerdem ein Revisionsgrund.

  • Ein Apotheker als Schöffe: Aus inhaltlichen Gründen zweifelt dagegen der Anwalt der Nebenklage Khubaib-Ali Mohammed an einem Schöffen. Er sei befangen. Der Mann hat als Apotheker in Bottrop gearbeitet und kannte die Eltern von Stadtmann. Im Laufe des ersten Verhandlungstages stellte sich heraus, dass die Ehefrau des Schöffen seit drei Jahren in der onkologischen Praxis von Dirk Pott zur Krebsnachsorge behandelt wird. Allerdings hat sie nach Aussage des Schöffen nie Medikamente aus der Alten Apotheke erhalten. Das ist für den Prozess brisant, da die Verteidiger den Arzt aus Bottrop als Entlastungszeugen benannt haben. Die Gemeinschaftspraxis von Pott, Hanning und Tirier liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Alten Apotheke und sie gehörte zu den wichtigsten Kunden von Peter Stadtmann, Tausende Patienten haben allein über diese Praxis Krebsinfusionen von dem Angeklagten erhalten. Der Befangenheitsantrag Mohammeds wird aber nicht von allen Anwälten der Nebenklage unterstützt. Es zeigen sich erste Differenzen zwischen den Anwälten der Nebenkläger und -klägerinnen.

Video

Berichterstattung:

Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag am 14.11.2017:

Das Gericht muss am nächsten Verhandlungstag entscheiden, wie es mit der Kritik an der Zusammensetzung, dem Vorwurf der Befangenheit des Schöffen und der Forderung nach einer Verlegung an das Schwurgericht umgeht. Sollte das Verfahren aber wie geplant weiterlaufen, will die Verteidigung eine 20-minütige Erklärung zur Anklage abgeben. Außerdem soll der Kriminalhauptkommissar Ulrich Herold als Zeuge gehört werden.

Anmerkung der Redaktion: Bilder von Peter Stadtmann aus dem Gerichtssaal müssen auf Anordnung des Richters verpixelt werden. CORRECTIV behält sich rechtliche Schritte dagegen vor.