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Armut im Ruhrgebiet

365 Tage lang im Ruhrgebiet, 24 Stunden am Tag im Pott. Und keine Chance, mal rauszukommen, mal an die Nordsee, nach Berlin oder ins Allgäu zu fahren. Nicht in diesem Jahr und nicht im vergangenen und wahrscheinlich auch nicht in den kommenden. Familien zwischen Dortmund und Duisburg müssen von allen Familien in Deutschland am häufigsten auf Urlaub verzichten. Sie haben kein Geld, um zu verreisen.

von Annika Joeres

Keine Waschmaschine, nur selten Fleisch oder Gemüse, kein Geld für den Urlaub.© Haste mal ... 25/365 von Dennis Skley, lizensiert unter CC BY 2.0

Correctiv.ruhr hat sich angesehen, wo die Menschen im Pott im Pott bleiben müssen. Sie leiden unter „besonderen materiellen Entbehrungen“, so heißt der Urlaubsmangel im amtlichen Deutsch der Statistiker. Diese Menschen haben kein Auto, manchmal keine Waschmaschine und sie können nur selten Fleisch oder Gemüse kochen und so essen, wie sie es gerne hätten. Sie sind die Ärmsten der Armen, denn ihr Einkommen liegt noch weit unter der Armutsgrenze. Diese liegt bei 895 Euro pro Person oder 1879 Euro für eine Familie mit zwei Kindern.

Das Ruhrgebiet gilt als das Armenhaus Deutschlands. Zumindest laut Berichten wie dem des Düsseldorfer Sozialministerium und verschiedener NGOs wie beispielsweise der SPD-nahen Hans-Böckler-Stiftung. Trotzdem gibt es keine lokalen Zahlen über die Menschen mit „erheblichen Entbehrungen“, also diejenigen, die sich keinen Urlaub leisten können. „Wir haben keine Auswertungen zur materiellen Deprivation auf tieferer regionaler Ebene“, sagt Eva Munz-König vom NRW-Statistikamt „Information und Technik“.

Also müssen wir selbst rechnen. Anhand der Zahlen für Empfänger von Hartz IV lässt sich kalkulieren, wie viele Bürgerinnen und Bürger extrem arm sind. Der Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbands listet für die einzelnen Städte die Hartz-IV-Quoten auf. Und rund 55 Prozent der Hartz-IV-Empfänger gelten wiederum als einkommensarme Menschen, die sich keinen Urlaub leisten können. Das steht im Sozialbericht NRW des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales.

Jeder zehnte Essener ohne Urlaub

In Essen muss jeder zehnte Mensch 365 Tage im Jahr zu Hause bleiben. Knapp 20 Prozent aller Einwohner Essens empfangen Hartz IV. Von diesen „einkommensarmen Menschen“ ist laut Sozialbericht NRW 2016 gut die Hälfte von „erheblichen materiellen Entbehrungen“ betroffen und so können folglich rund zehn Prozent aller Einwohner nicht in den Urlaub fahren. Das sind gut 55.000 Menschen, allein in Essen.

Nach dieser Berechnung ist das in Gelsenkirchen sogar bei jeder achten Person der Fall. In Oberhausen, Dortmund, Hagen, Hamm und Duisburg trifft es rund jeden Elften und in Recklinghausen, Unna und Bochum noch jede vierzehnte Person. Allein in diesen Städten sind somit schon rund 300.000 Menschen betroffen. Am meisten fahren noch die Bewohner im Ennepe-Ruhr-Kreis in den Urlaub – dort ist nur jeder Zwanzigste gezwungen, zuhause zu bleiben. 

„In einzelnen Stadtteilen sind die Quoten noch viel dramatischer“, sagt Lars Schäfer, Fachreferent für Armut und Grundsicherung beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Im Essener und Dortmunder Norden beispielsweise könnten sogar die allermeisten Menschen nicht in den Urlaub fahren. Eine schöne Alternative für den Urlaub zu Hause haben die meisten auch nicht. Das Geld reiche häufig nicht einmal für den Besuch im Schwimmbad oder den Zoo, so der Präsident des Kinderschutzbundes in NRW, Heinz Hilgers. 

Armut steigt im Ruhrgebiet

Und der Anteil der Ruhrgebietskinder, die nicht in den Urlaub können, nicht ins Schwimmbad oder den Zoo, er steigt seit Jahren. Während die Hartz-IV-Quoten zwischen 2006 und 2014 bundesweit von 11,4 auf 9,5 Prozent zurückgingen, nahmen sie im Ruhrgebiet von 15,7 auf 16,4 Prozent leicht zu. In der Region Duisburg/Essen ist die Quote im gleichen Zeitraum sogar um 33 Prozent gestiegen, von 14,5 Prozent auf 19,3 Prozent. Laut dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands ist das ein „armutspolitischer Erdrutsch“.

Dabei ist dieses soziale Elend kein Naturgesetz. Der Paritätische Wohlfahrtsverband und auch Vereine wie der Kinderschutzbund präsentieren mit ihren alarmierenden Berichten auch Lösungen. Zum Beispiel den Regelsatz von Hartz IV zu erhöhen und zugleich Vermögenssteuern für Wohlhabende einzuführen. „Es liegt doch auf der Hand, dass hier eine große Ungerechtigkeit herrscht“, sagt Schäfer. „Aber politisch passiert nichts.“ Armut sei sehr komplex und könne auf vielen Ebenen bekämpft werden.

Und die Reichen werden reicher…

Und während viele Familien gar nicht in den Urlaub fahren, steigt die Zahl derjenigen, die sich problemlos mehrere Luxusurlaube leisten können. Denn tatsächlich zeigt der Düsseldorfer Armutsbericht auch die Reichenquoten für das Ruhrgebiet: Die Reichen werden noch reicher, die Armen noch ärmer. 

So haben die wohlhabendsten zehn Prozent pro Person rund 290 000 Euro Vermögen – und damit fast 30.000 Euro mehr Geld als noch 2003. Die ärmsten zehn Prozent aber haben keinerlei Vermögen, sie haben heute null Euro auf dem Konto. Und diejenigen, die 2003 im Schnitt noch 200 Euro angespart hatten, haben heute nur noch 23 Euro auf dem Konto. Und von 23 Euro kann niemand in den Urlaub fahren.