Kind im Brunnen

Kind im Brunnen

„Kein Kind zurücklassen!“ ist das Prestigeobjekt von NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und Co. Doch wie läuft es für Kinder in NRW, die vom Jugendamt betreut werden? Ist es in fünf Jahren rot-grüner Regierung besser geworden? Zusammen mit einem erfahrenen Sozialarbeiter haben wir seit Monaten recherchiert. Die Ergebnisse haben den Umfang eines Buches angenommen. „Kind im Brunnen“ – die exklusive Serie zum Buch. Heute: Der Auftakt (I)

von Christoph Schurian

© Vincent Burmeister

Seit vielen Wochen habe ich mich mit einem Thema beschäftigt: Wie läuft es mit Kindern und Jugendlichen in NRW, die vom Jugendamt betreut werden. Ist es besser geworden, seit die Landesregierung sagt: „Kein Kind zurücklassen!“ Was hat sich verändert? Ich habe Konferenzen besucht, Reden gehört, Akten gewälzt, Statistiken durchforstet. Ich habe mich mit vielen Menschen getroffen. Einige haben offen mit mir geredet, andere wollten lieber anonym bleiben oder gar nichts sagen. Mitten im Wahlkampf ist das Thema ein Politikum. Nicht wenige haben zu mir gesagt, bringt das doch erst nach den NRW-Wahlen heraus. Aber das war keine Option. Wir müssen über die Bilanz von „Kein Kind zurücklassen!“, über die Jugendhilfe jetzt sprechen. Deshalb habe ich mich auf den Weg gemacht. Es ist eine Recherche mit offenen Enden, keine Abrechnung. Dazu ist das Thema viel zu wichtig. Und zu ernst.

Sozialer Brennpunkt Familie

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Unser Buch zur Serie „Kind im Brunnen“ kann in unserem Shop bestellt werden.

Aus seinem Büro blickt Werner Fiedler auf einen Spielplatz aus Holz und Stein. Im Zentrum der Anlage ist die Skulptur eines Kindes in Windeln, aus denen Wasser quillt, das in eine Rinne zum Planschen fließt. Nebenan sieht er die Fenster der kleinen Büros der Sozialarbeiter. Das Jugendamt Gladbeck erstreckt sich auf vier Etagen, es ist die größte Einrichtung in der Stadtverwaltung. Fiedler winkt zwei jungen Frauen, Kolleginnen, die unterwegs sind zu einem Fall. Meldungen auf Kindeswohlgefährdung, Inobhutnahmen, Heimunterbringung – Arbeit am härtesten aller sozialen Brennpunkte, den Familien. Seit Anfang der 1990er Jahre haben sich die Fälle, um die sich das Jugendamt kümmert, verdreifacht. In Nordrhein-Westfalen von 97.000 auf 270.000. Acht Prozent der Kinder und Jugendlichen sind betroffen, die Ausgaben haben sich seit 1998 auf das Vierfache erhöht. Mehr als zwei Milliarden werden in NRW für Erziehungsberatung und die Hilfen zur Erziehung ausgegeben.

Wie das Wasser aus der Babywindel auf dem Spielplatz laufen die Kosten der Jugendhilfe weg. Ohne dass irgendetwas besser wird. Oder besser werden kann. Man muss die Windel wechseln. Dringend.

Ein erfolgreicher Slogan

Seit 2012 gibt es in Nordrhein-Westfalen das Projekt „Kein Kind zurücklassen. Kommunen in NRW beugen vor“. Es ist das wichtigste Projekt, das so genannte Leitprojekt von Landesregierung und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD). Daran will sie sich messen lassen, das ist ihr Anspruch.

Der Slogan jedenfalls ist ein Erfolg. Er ist in aller Munde, auf der Homepage der Ministerpräsidentin, auf SPD-Wahlkampfseiten. Er wird zitiert vom Kanzlerkandidaten Martin Schulz: „Kein Kind zurücklassen“ verkörpere das Lebensgefühl in Nordrhein-Westfalens. Schon Ernest Hemingway habe geschrieben, wie es ist, jemanden zurückzulassen: „Es ist, als ob ein Stück Küste abbreche.“

Das Problem: „Kein Kind zurücklassen!“ ist nicht nur ein guter Wahlkampfspruch. Es ist ein Programm mit anfangs 18 Modellkommunen, in einer zweiten Phase sind es jetzt 40 Gemeinden und Kreise im Bundesland. Und es ist ein nobles Versprechen, keine Kinder zurückzulassen. Etwas zu verbessern. Allen Kindern eine Chance zu geben. Aber stimmt das? Werden wirklich weniger Kinder zurückgelassen? Hat sich etwas geändert, für die Kinder aus armen Familien, mit geringer Bildung, kaum Deutschkenntnissen? Werner Fiedler sagt: Nein, der lobenswerte Ansatz der Landesregierung wurde zum „Schaulaufen“.

Es fehlt politischer Wille

Werner Fiedler gab den Impuls zu dieser Recherche, es ist auch seine Geschichte. Gerade ist er Rentner geworden. Nach vierzig Jahren Sozialarbeit. Er zieht ein bitteres Fazit – trotz „kein Kind zurücklassen“. Viele Jugendämter seien überfordert und desorganisiert, die Ergebnisse der Arbeit mit abgehängten, schwierigen Kids desaströs.

Ich habe es nicht glauben können: Mehr als 40 Prozent aller Hilfsmaßnahmen werden ergebnislos abgebrochen. Bei Heimunterbringung und bei Pflegefamilien scheitern sogar mehr als 50 Prozent.

Fiedler sagt: Es fehlt nicht an Geld, nicht an Personal, aber es fehlt an politischem Willen in vielen Rathäusern. Und der Landesregierung in Düsseldorf fehle es an politischer Kraft in die Kommunen wirksam hinein zu regieren, in den Jugendämtern etwas zu verändern. Also würden die oft hochengagierten Fachkräfte ausgebremst, statt um die Interessen der Kinder gehe es um die von Bürgermeistern, Ortsvereinsfürsten oder Dezernenten.

Ich habe lange Gespräche geführt mit Werner Fiedler. Wir waren zusammen in Gladbeck, Dormagen, Dortmund. Ich habe die AWO besucht, den Deutschen Jugendhilfetag, Wahlkampfveranstaltungen. Und ich war bei geheimen Treffen mit Unternehmern, Wissenschaftlern, Machern. Hier beginnt meine Geschichte.

Die Folgen unserer Serie „Kind im Brunnen“

Folgen, die erschienen sind, werden verlinkt. Die ausstehenden Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Wochen.

  1. Der Auftakt

  2. Politik mit dem Rechenschieber

  3. Ein Kommunikationsdesaster

  4. Aufstieg und Fall der Sozialarbeit

  5. Die Akte Jasmin

  6. Späte Hilfen

  7. 22 Millionen Chancen

  8. Unfreie Träger

  9. Flüchtlinge im Jugendamt

  10. Helikopter Staat

  11. Die Guten

  12. Fiedlers Traum