Faktencheck

Proteste in Biberach: Wie kam das Loch in die Autoscheibe des BKA-Dienstfahrzeugs?

Bei Protesten im Rahmen des geplanten Politischen Aschermittwochs der Grünen in Biberach brach die Autoscheibe eines Dienstfahrzeugs des Bundeskriminalamts. In Sozialen Netzwerken wird ein Polizist dafür verantwortlich gemacht. Doch ein Video, das das beweisen soll, zeigt das gar nicht.

von Matthias Bau , Gabriele Scherndl

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Ein Dienstfahrzeug des Bundeskriminalamts wurde vor der Stadthalle in Biberach beschädigt. Darüber, wer dafür verantwortlich ist, werden in Sozialen Netzwerken auch Falschbehauptungen geteilt. (Symbolbild: David Nau / DPA / Picture Alliance)
Behauptung
Ein Video von Protesten in Biberach am 14. Februar 2024 belege, dass ein Polizist die Fensterscheibe eines Dienstfahrzeugs eingeschlagen habe.
Bewertung
Falscher Kontext
Über diese Bewertung
Falscher Kontext. Im Video ist nicht zu sehen, dass ein Polizist die Scheibe einschlägt. Auch sonst gibt es dafür keine Belege. Wie sie kaputt ging, ist bislang unklar: Andere Videoaufnahmen zeigen, wie kurz bevor das Loch sichtbar ist, ein längliches Objekt auf das Auto zufliegt. Die Polizei Ulm spricht nach derzeitigem Ermittlungsstand von einem Zollstock, Polizeikräfte hätten den Schaden nicht verursacht. Fachleute bezweifeln, dass ein Zollstock derartigen Schaden anrichten kann, ohne dass die Scheibe vorgeschädigt ist.

Der 14. Februar 2024 rückte die Bauernproteste in ein neues Licht: „Bauern-Demo eskaliert“ und „Was in Biberach passiert ist, ist eine Schande“ titelten Medien, in Berichten war von einer „Wucht der Aggression“ die Rede.

An diesem Tag sollte eigentlich der Politische Aschermittwoch der Grünen im baden-württembergischen Biberach stattfinden. Vor Ort formierten sich Proteste, die laut Medienberichten teils von Landwirtinnen und Landwirten, teils aus der Querdenker-Szene getragen wurden. Beamte seien mit Gegenständen beworfen und verletzt worden, heißt es von der Polizei. Die Polizei setzte Tränengas ein. Laut dem Bundeskriminalamt (BKA) wurde die Scheibe eines Dienstfahrzeuges beschädigt. Der politische Aschermittwoch wurde abgesagt.

In Sozialen Netzwerken wird nun darüber spekuliert, wie die Autoscheibe des BKA-Fahrzeugs kaputt ging. Ausgerechnet ein Polizist soll sie eingeschlagen haben, heißt es zu einem Video von der Demonstration, das auf Youtube, X und Facebook geteilt und von Hunderttausenden gesehen wurde.

Screenshot der Behauptung auf X.
Auf X, Facebook und Youtube ist von einem „Scheibenschläger-Polizist“ die Rede. Doch das Video belegt nicht, dass ein Polizist die Autoscheibe eingeschlagen hat. (Quelle: X; Screenshot, Schwärzung und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Video zeigt, wie Polizist aus dem Bild geht, bevor die Autoscheibe dort kaputt ist

Das etwa drei Minuten lange Video zeigt eine Menschenmenge aus Polizeikräften und Demonstrierenden. Die Situation ist unübersichtlich und laut, Menschen diskutieren und hupen. Ein schwarzes Auto, geschützt von Polizeikräften, bahnt sich langsam den Weg durch den Protest. 

Bei Minute 1:33 geht ein Polizist, der erst rechts vor dem Auto steht, am Auto vorbei nach hinten. Er verschwindet aus dem Bild. Bei Minute 1:47 ist ein Knacken zu hören, der Polizist kommt wieder ins Bild. Er zeigt auf ein Loch in der hinteren rechten Fensterscheibe des Autos (Minute 1:49). 

Ob das Loch schon vor dieser Szene da war, ist im Video nicht erkennbar. Ebenso wenig, dass der Polizist das Loch in die Scheibe geschlagen hat, wie online behauptet wird. Wie entstand das Loch also?

Laut Polizeiangaben beschädigte ein Zollstock die Autoscheibe

Die Polizei Ulm, in deren Zuständigkeit der Landkreis Biberach fällt, schrieb am 15. Februar 2024 in einer Pressemeldung über die Demonstration: „Ein bislang Unbekannter warf mit einem Zollstock die Scheibe an einem der Begleitfahrzeuge ein.“ Auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck schreibt Sven Vrancken, Sprecher des Polizeipräsidiums Ulm, am 20. Februar, dass dies weiterhin dem derzeitigen Ermittlungsstand entspreche. Den „ursächlichen“ Zollstock habe man vor Ort gefunden. Man könne ausschließen, dass Einsatzkräfte der Polizei den Schaden verursacht hätten. Videoaufnahmen könne man nicht zur Verfügung stellen.

Auch Medien, die aus oder über Biberach berichteten – etwa das ZDF, die DPA und der SWR – haben die konkrete Situation nicht auf Video, schreiben sie auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck. 

Doch in Sozialen Netzwerken kursieren mehrere Aufnahmen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wer sie erstellt hat, ist unklar. Doch es ist ersichtlich, dass sie dieselbe Situation aus Biberach zeigen. Auch die Tonspur stimmt bei allen überein.

Vier Bilder zeigen dieselbe Szene aus unterschiedlichen Blickwinkeln.
Vier Videos, vier Perspektiven: Der Moment, als ein Polizist auf das Loch in der Autoscheibe zeigt, wurde mehrfach aufgenommen. (Quellen: Youtube / Telegram / Tiktok; Screenshot, Collage, Markierungen und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Videos aus Sozialen Netzwerken zeigen nicht, wie Polizist die Scheibe einschlägt

Ein Youtube-Video vom 15. Februar 2024 belegt, dass das Loch in der Autoscheibe hinten rechts noch nicht da war, als der Polizist am Auto entlang nach hinten geht (Sekunde 3). Weil der Aufnahmewinkel ein anderer ist, sieht man auch, dass der Polizist unmittelbar vor dem Auftreten des Einschlags die Fensterscheibe nicht berührte. 

Bei Sekunde 15 fliegt ein Objekt durch die Luft, einen Augenblick später ist ein Loch in der Scheibe – besser erkennbar, wenn man mit der Punkt- und der Komma-Taste im Youtube-Video Frame für Frame vor- und zurückklickt. Bei Sekunde 18 zeigt der Polizist auf die Autoscheibe.

In einem Youtube-Video ist ein fliegendes Objekt (rot markiert) zu sehen – und dass davor kein Loch in der Scheibe war, danach (rot markiert) aber schon (Quelle: Youtube; Screenshots und Markierungen: CORRECTIV.Faktencheck)

Mit Blick auf ein weiteres Video wird das Geschehen deutlicher: In einem Tiktok-Video vom 16. Februar fliegt ein länglicher Gegenstand durch die Luft (Sekunde 3). Unmittelbar danach erklingt das Knackgeräusch, daraufhin die Hupen, der Polizist zeigt auf die Autoscheibe. Deutlich zu erkennen: Der Polizist hat in dieser Zeit das Auto nicht berührt.

Ein Gif zeigt in aufeinanderfolgenden Standbildern, wie ein gelbes Objekt auf das Auto zufliegt.
Ein Tiktok-Video zeigt, dass der Polizist das Auto nicht berührte, während das längliche Objekt durch die Luft flog (Quelle: Tiktok; Screenshot und Markierung: CORRECTIV.Faktencheck)

Am deutlichsten ist das Objekt in der Luft in einem Telegram-Video vom 15. Februar erkennbar. Bei Sekunde 12 ist ein gelber Gegenstand zu sehen, der tatsächlich wie ein Zollstock aussieht. Auch hier ist das Knacken zu hören, im Anschluss dreht der Polizist sich um und zeigt auf die Scheibe.

Ein Gif zeigt in aufeinanderfolgenden Standbildern, wie ein gelbes Objekt durch die Luft fliegt.
In diesem Telegram-Video ist das Objekt gut erkennbar: Es ist lang und gelb und erinnert zumindest an einen Zollstock. (Quelle: Telegram; Screenshot und Markierung: CORRECTIV.Faktencheck)

Autoglas-Spezialisten zweifeln an Zollstock als alleiniger Ursache für zerstörte Dienstwagenscheibe

Ob der Zollstock die Scheibe tatsächlich zerstört hat, ist unklar. Auf keinem der Videos, die wir finden konnten, ist das direkt zu sehen. Wir haben darum Expertinnen und Experten um eine Einschätzung gebeten: Ist es denkbar, dass ein geworfener Zollstock die Scheibe zerstört hat? 

Ein Experte des Autoglas-Spezialisten Carglass schreibt uns, dass es sich bei der Seitenscheibe des BKA-Dienstwagens vermutlich um ein sehr robustes Einscheibensicherheitsglas (ESG) handele, weil die Scheibe nach dem Einschlag weitestgehend intakt geblieben sei. ESG wird in der Herstellung zunächst stark erhitzt und dann wieder auf Raumtemperatur abgekühlt. So entsteht eine Spannung, die das Glas widerstandsfähiger macht. Wird es beschädigt, geht nicht die ganze Scheibe kaputt, sondern es brechen kleine Teile heraus. 

Auf einer vergrößerten Aufnahme der DPA ist die Beschädigung an der Autoscheibe des BKA-Dienstwagens gut zu erkennen: Sie zerbrach nicht gänzlich, stattdessen entstand ein großes Loch. (Quelle: David Nau / DPA / Picture Alliance)

Die Einschätzung von Carglass teilt auch der Autoglashersteller Saint-Gobain Sekurit. Michel Wenger, Pressesprecher der Niederlassung in Deutschland, schreibt uns, bei dem Glas handele es sich „höchstwahrscheinlich um eine ESG-Scheibe“. Experten des Unternehmens hätten versucht, den Vorfall aus Biberach nachzustellen. Das Ergebnis: „Es lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass der Aufprall eines Zollstocks auf eine ESG-Seitenscheibe im Normalzustand ohne Vorbeschädigungen nicht zum Bruch führt.“ 

Beim Test des Unternehmens seien die eingesetzten Zollstöcke beim Aufprall auf die Scheibe zerbrochen. „Mehrfache in unserem Haus durchgeführte Versuche konnten keinen Bruch an vergleichbaren Scheiben hervorrufen. Selbst moderat kräftige Schläge mit handelsüblichen Werkstatt-Hämmern oder sogar der stumpfen Seite einer Brechstange führen nicht zum Bruch.“ Um eine ESG-Scheibe zu zerbrechen, brauche es einen Gegenstand mit scharfen und harten Ecken oder Kanten. So wie etwa die Spitze eines Nothammers, schreibt uns Wenger.

Das sieht auch Carglass so. „Um eine Seitenscheibe zu zerstören, muss man mit einem möglichst harten und spitzen Gegenstand punktuell Druck auf die Scheibe ausüben. Das weichere Metall an den Ecken eines Holz-Zollstock reicht dafür nicht aus“, schreibt der Carglass-Experte.

Wir haben diese Facheinschätzungen auch dem Polizeipräsidium Ulm geschickt und nachgefragt, ob es sein könne, dass die Scheibe schon zuvor beschädigt war oder neben dem Zollstockwurf noch andere Ursachen in Betracht kommen. Ein Sprecher antwortete: Man könne aufgrund der laufenden Ermittlungen keine Angaben machen. 

Fazit: Die Polizei berichtet, dass ein geworfener Zollstock den Bruch in der Seitenscheibe des BKA-Fahrzeugs verursacht habe. Autoglas-Spezialisten geben jedoch zu bedenken, dass ein Zollstock alleine eine derartige Scheibe ohne Vorbeschädigung nicht zu dem Loch geführt haben könne. Dafür brauche es einen härteren oder spitzeren Gegenstand. Wie die Scheibe zu Bruch ging, ist noch Teil der polizeilichen Ermittlungen. 

Fest steht: Videos belegen – anders als im Netz behauptet – nicht, dass der besagte Polizist für den Bruch der Scheibe verantwortlich ist, da er im Moment des Bruchs nicht in der Nähe der Scheibe war.

Redigatur: Kimberly Nicolaus, Uschi Jonas

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
  • Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Ulm, 15. Februar 2024: Link (archiviert)
  • Youtube-Video, 15. Februar 2024: Link
  • Tiktok-Video, 16. Februar 2024: Link (archiviert)
  • Telegram-Video, 15. Februar 2024: Link (archiviert)
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