Ausgepflegt
Marcus von Horn ist einer jener Pfleger, die ihre Arbeit gut machen wollen, aber am System zerbrechen. Er wollte immer, dass es allen gut geht und jeder zufrieden ist. Er wächst in Bremen-Huchting auf, ist ein bequemer Schüler und bleibt nach einem Praktikum zufällig in der Pflege hängen. In der Ausbildung lernt von Horn Entspannungstechniken für Senioren, die Stimulation durch Gerüche, Geschmäcker, Geräusche. Sein erster Praxiseinsatz im Haus am Deichfluss, einem Heim der Residenz-Gruppe, trifft ihn umso härter.
Dies ist ein Ausschnitt aus unserem neuen Buch „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Der Text erscheint parallel auf Zeit Online.
Allein das Waschen der Bewohner. Als Schüler lernt er eine belebende und eine beruhigende Waschung. Das Wasser muss zwischendurch gewechselt und es sollen bitte drei verschiedene Handwaschlappen benutzt werden. „Die Realität ist natürlich eine ganz andere. Du setzt den auf den Pott und wäschst den“, sagt von Horn. Später wäscht er Bewohner sogar mit Kissenbezügen, weil die Waschlappen fehlen.
Die Lücke zwischen Theorie und Praxis ist maximal. Von Horn wird oft ganz normal als volle Pflegekraft eingesetzt und kümmert sich, sagt er, schon im zweiten Lehrjahr alleine mit einer Helferin um einen ganzen Wohnbereich. Das ist nicht erlaubt. Andere Schüler berichten davon, dass sie 23 Tage am Stück durcharbeiten müssen, erinnert sich von Horn. „Ich habe angefangen zu zweifeln.“
Burn-Out mit Ansage
Mit 21 Jahren ist von Horn dann für die Azubis verantwortlich, geht mit ihnen die Hausaufgaben durch, ist auch nach dem Dienst immer erreichbar. Schnell leitet er auch einen Wohnbereich. Für sechs Monate ist er sogar stellvertretende Pflegedienstleitung. Wenn Du es fertig haben willst, dann mach‘ es selbst. Das ist von Horns Einstellung. „Ich bin Perfektionist. Ich habe übertrieben und die Warnsignale nicht gesehen“, sagt er heute. Er springt für Kollegen ein, bleibt länger. Weil er will, dass nichts liegen bleibt. Und wenn er einen Angehörigen erreichen muss und das bis Schichtende nicht funktioniert hat, dann bleibt er, bis er ihn am Hörer hat. Freunde hat von Horn nur noch wenige. „Du hast keine Zeit für Freundschaften. Am Wochenende, immer, wenn Du gefragt wirst, ob Du irgendwo mitkommen willst, bist Du arbeiten“, sagt von Horn. „Irgendwann fragt Dich keiner mehr.“
Zwei Jahre lang geht das gut. Dann ist Schluss. Von einem Tag auf den anderen. „Ich saß vor dem Rechner und habe einfach angefangen zu heulen.“ Marcus von Horn ist 23 Jahre alt und kann nicht mehr. Er beendet seinen letzten Frühdienst, geht zu seiner Hausärztin – und kommt danach nicht mehr zur Arbeit. Eine Depression mit Zwangsstörung. Ein halbes Jahr lang bleibt er zu Hause. Er wartet, dass die Tabletten anfangen zu wirken, dass es ihm besser geht. Er liegt im Bett, die Rollladen unten. „Nichts. Man macht nichts. Fernsehen erfordert Motivation. Die hast Du nicht.“
Von Horn kommt an einen Punkt, an dem er das Gefühl hat, nutzlos zu sein. Statt zu verzweifeln, will er wieder Teil vom Leben da draußen sein. „Irgendwann dachte ich: Ach, ich probiere es einfach mal wieder.“
Vieles hängt von der Heimführung ab
Doch zurück im Heim wird er rasch vom Alltag eingeholt. Es fällt ihm schwer, nicht in alte Muster zu fallen. Aber er kämpft dagegen an. Er beschließt, nicht mehr einzuspringen. Dienste tauschen? Gern. Aber einspringen, mehr arbeiten, Freizeit opfern? Nie wieder. Die Kollegen regt das auf, er wird sogar einige Male angeschrien. Wie? Du springst nicht mehr ein? Du kannst doch nicht Nein sagen. „Natürlich kann ich Nein sagen“, sagt von Horn. „Es gibt in meinem Vertrag keinen Punkt, in dem es heißt, dass ich einspringen muss. Es ist die Verantwortung des Heimbetreibers, dafür zu sorgen, dass jemand da ist.“
Das Haus am Deichfluss, in dem Marcus von Horn arbeitet, hat eine starke Pflegedienstleitung. Jenny Tiedemann arbeitet viel und hält den Pflegern den Rücken frei. Sie kämpft für mehr Personal. Wenn nötig, stellt sie sich auch mal gegen die Geschäftsführung der Residenz-Gruppe. Das ist typisch in der Pflege: Vieles hängt davon ab, wie gut das Führungspersonal im einzelnen Haus ist. Wenn die Arbeit gut organisiert ist und Heimleiter sowie Pflegedienstleitung für Mitarbeiter und Bewohner kämpfen, dann ist meist auch die Pflege gut. Lässt es die Führung schleifen, gehen Heime kaputt.
2010 erlebt Tiedemann, wie sie schleichend weniger Personal zur Verfügung hat. Immer häufiger, erinnert sich auch von Horn, setzt die Residenz-Gruppe Leiharbeiter ein. „Aber das ist halt wie ein Lotteriespiel. Meistens ziehst Du Nieten.“ Pfleger ohne Ausbildung, mit schlechten Deutschkenntnissen oder so alt, dass sie fast selber einziehen könnten – von Horn hat alles erlebt.
„Freizeit kannte ich nicht“
„Wenn Du jemanden an die Seite bekommst, der nicht gut ist, dann hast Du verloren. Dann rennst Du und buckelst Du und versuchst das auszugleichen. Das machst Du einmal, vielleicht auch zweimal – aber nicht wochenlang.“ Zwischendurch kommen die Leiharbeiter auch gar nicht und von Horn hängt eine zweite Schicht hintendran, um Bewohner nicht unversorgt zu lassen. „Dann leidest Du. Und dann leiden die Bewohner.“
Tiedemann ist als Pflegedienstleiterin für die Bewohner verantwortlich. Irgendwann muss sie mehrmals die Woche selbst einspringen. Bei jeder Übergabe, morgens, mittags, abends, ist sie unter Hochspannung. Erst wenn das Handy eine Stunde lang nicht klingelt, wenn die Übergabe durch ist, wenn sie nicht erneut einspringen muss, kann sie entspannen. „Freizeit kannte ich nicht. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich mal eine Stunde ohne Handy schwimmen war.“ Jedes Jahr nimmt sich Tiedemann an Silvester vor, im kommenden Jahr zu kündigen – und macht es dann doch nicht.
Und was sagt ihr Arbeitgeber? Die Residenz-Gruppe schreibt auf Anfrage, die Personalschlüssel seien „gesetzlich vorgeschrieben und werden laufend überprüft. Es gibt hierzu keine Beanstandung.“ Dabei sind die Erfahrungen von Jenny Tiedemann und Marcus von Horn sind typisch für viele Pfleger.
Wenig Geld, viel Stress
Es beginnt damit, dass Pfleger erschreckend wenig verdienen. Der Durchschnittslohn eines Arbeitnehmers beträgt in Deutschland rund 3.600 Euro brutto pro Monat. Wer in der Pflege arbeitet, liegt mehr als ein Drittel darunter: Pfleger verdienen durchschnittlich 2.200 Euro pro Monat. In der Altenpflege ist es sogar noch weniger. Die Zahlen schwanken von Region zu Region und von Heim zu Heim. Frauen in ostdeutschen Altenheimen verdienen am wenigsten und sind am häufigsten dazu gezwungen, in Teilzeit zu arbeiten.
Kein Wunder, dass Pfleger sich nicht wertgeschätzt fühlen. Geld ist nicht alles, aber wenn jemand schlecht bezahlt wird, braucht es schon viel ideelle Wertschätzung, um den Job trotzdem gern und gut zu machen. Stattdessen gibt es vor allem Stress. Darüber klagen die meisten Pfleger. Dass sie keine Zeit haben, sich auf die Bewohner einzulassen. Grundwäsche, Essen, Dokumentation – und dann das Ganze wieder von vorn.
Altenpfleger verlassen ihren Beruf im Schnitt bereits nach gut acht Jahren. Damit halten sie fünf Jahre weniger durch als Krankenschwestern. Und es ist auch keine Überraschung, dass es an Fachkräften mangelt. Im März 2016 waren bei der Arbeitsagentur fast 12.000 offene Stellen in der Altenpflege gemeldet – bei etwa 3.500 Arbeitssuchenden. Keine Branche in Deutschland hat so wenig Angebot bei so viel Nachfrage.
Wie viele Pfleger braucht es tatsächlich?
In der Pflege dauert es mittlerweile 141 Tage, bis eine offene Stelle besetzt ist – fast drei Mal so lange wie vor knapp zehn Jahren. Arbeitsagentur-Vorstandsmitglied Raimund Becker sprach schon 2014 von einem „gravierenden bundesweiten Mangel an Altenpflegekräften“. Seitdem hat sich die Situation noch verschärft.
Alle möglichen Organisationen suchen nach Fachkräften im Ausland: private Pflegeanbieter, die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, das Arbeitsamt. Pilotprojekte gibt es unter anderem für Pflegerinnen aus Bosnien, Serbien, Vietnam, den Philippinen und China. Dabei müssten in Deutschland eigentlich noch viel mehr Arbeitsplätze in der Pflege geschaffen werden, um die Bewohner menschenwürdig versorgen zu können.
Denn längst können die Leistungen, die in den Heimverträgen stehen, mit dem vorhandenen Personal nicht mehr erfüllt werden. Zu diesem Schluss kam schon vor Jahren eine Studie aus Nordrhein-Westfalen. Die Forscher beobachteten Pfleger in vergleichsweise gut ausgestatteten Heimen. Selbst hier blieb nur etwa halb so viel Zeit für die Pflege wie in den offiziellen Richtwerten festgelegt war. Die Studie ist mittlerweile 16 Jahre alt. Seitdem sind die Anforderungen noch gestiegen – nicht aber der Personalschlüssel.
Bevor 1995 die Pflegeversicherung eingeführt wurde, verhandelten Heimbetreiber ihr Budget einzeln mit den Kommunen. Jeder argumentierte für sich selbst, es gab kaum verbindliche Mitarbeiterquoten. Und als irgendwann die ersten Personalschlüssel entstanden, leiteten sich diese aus dem vorhandenen Personal ab. Nicht davon, wie viele Minuten Pflege ein Bewohner pro Tag eigentlich benötigen würde. Bis heute hat niemand auf wissenschaftlicher Grundlage festgelegt, wie viel Personal in Deutschland gebraucht wird, um pflegebedürftige Menschen angemessen zu versorgen.
36 oder 57 Pfleger – für den gleichen Job
Seit Einführung der Pflegeversicherung werden die Bewohner in Pflegestufen eingeteilt. Sie legen fest, wie viele Pfleger ein Heim bezahlt bekommt. Doch diese Rechnung fällt von Bundesland zu Bundesland extrem unterschiedlich aus. Bei Pflegestufe drei, bei den am stärksten hilfsbedürftigen Bewohnern, schwankt der Personalschlüssel zwischen 1,76 und 2,8 Bewohnern, die ein Pfleger betreuen muss. Mit anderen Worten: Ein Heim mit 100 schwer kranken Bewohnern kann sich in Hamburg 57 Pfleger leisten, in Niedersachsen 45 und in Schleswig-Holstein sogar nur 36. Wie sollen 36 Menschen in Kiel die gleiche Pflege leisten wie 57 in Hamburg? Die logische Folge: Pflegebedürftige werden von Hamburg hinaus aufs Land verfrachtet, weil da die Pflege billiger ist. Pfleger wiederum pendeln in die Gegenrichtung, von Niedersachsen und Schleswig-Holstein nach Hamburg. Weil sie dort halbwegs angemessen ihren Job machen können.
Die Bundesregierung hat im Pflegestärkungsgesetz II „die Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs“ beschlossen. Bis Mitte 2020 soll es soweit sein. Zu spät, kritisieren viele.
Pfleger sind am Limit. In Untersuchungen gehören sie regelmäßig zu den am härtesten beanspruchten Berufsgruppen. Pfleger haben häufiger Schlafstörungen und Nackenschmerzen als der Durchschnitt der Bevölkerung, müssen häufiger schwer heben oder in Zwangshaltung arbeiten. Fast die Hälfte aller Altenpfleger arbeitet in Schichten und sagt, der Stress im Job habe in den vergangenen Jahren zugenommen. Die hohe Krankheitsquote ist der inoffizielle Pflegestreik. Still und heimlich und ohne lauten Protest hören viele Pfleger irgendwann auf. Weil es nicht mehr geht. Weil sie ausgebrannt sind.
„Eher nehme ich Hartz IV“
Auch Jenny Tiedemann verlässt die Seniorenresidenz in Huchting tatsächlich irgendwann, es ist das Jahr 2014. Danach, so beschreiben es mehrere Kollegen, geht es steil bergab. Irgendwann reicht es auch Marcus von Horn. „Ich wollte keine Sachen mehr unterschreiben, die ich nicht gemacht habe oder mit deren Qualität ich nicht einverstanden war.“
Tiedemann wechselt in eine Tagespflege-Einrichtung in der Nachbargemeinde Stuhr, mit dem Rad nur ein paar Minuten entfernt. In der Tagespflege kommen die Senioren morgens und gehen abends wieder nach Hause. „Tagespflege ist eher wie eine Seniorenkita“, sagt von Horn. Im März 2015 fängt auch von Horn dort an. Für ihn fühlt es sich an wie das Paradies. Geregelte Arbeitszeit, kein Schichtdienst, kein Stress. „Ich weiß gar nicht, was ich mit meiner ganzen Freizeit anfangen soll.“ In ein Heim, das hat sich Marcus von Horn geschworen, geht er nie wieder zurück. „Eher nehme ich Hartz IV.“
Unser Reporter Daniel Drepper hat ein Buch über den Kampf um gute Pflege geschrieben. „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ ist im Sommer 2016 erschienen. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Informationen über alle 13.000 deutschen Pflegeheime und weitere Recherchen zum Thema gibt es auf unserer Themenseite unter correctiv.org/pflege.