Pflege

Sklavinnen, die uns pflegen

Rund um die Uhr, unterbezahlt und unversichert. „Pflegesklavinnen“ nennen manche diese Menschen, oft aus Osteuropa, die teilweise weniger als 800 Euro im Monat verdienen – für einen Job, für den es eigentlich drei Pflegekräfte bräuchte. Die Frauen, selten Männer, arbeiten als 24-Stunden-Kräfte, auch „Live-Ins“ genannt, in Privathaushalten. Dort versorgen sie Menschen Tag und Nacht, gehen einkaufen, kochen, geben Tabletten und sind Gesprächspartner. Und weil sie keine Rechte haben, werden sie oft mit Füßen getreten.

von Daniel Drepper

Zeit und Nähe: Für gute Pflege bleibt im bestehenden System wenig Zeit.© Ivo Mayr

Dies ist ein Ausschnitt aus unserem neuen Buch „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Der Text erscheint parallel auf Zeit Online.


Rassistische Beleidigungen, sexuelle Übergriffe, Schläge, ein Leben im Keller ohne Fenster oder zu wenig zu essen. Das passiert täglich. Wie viele Frauen derzeit in Deutschland in solchen Verhältnissen leben, weiß niemand genau. Experten schätzen, dass es zwischen 100.000 und 300.000 sind. Eine Studie für das polnische Arbeitsministerium geht davon aus, dass 94 Prozent dieser Frauen illegal in Deutschland arbeiten.

Zuletzt haben vereinzelte Wissenschaftler und Journalisten über den Missbrauch osteuropäischen Pflegekräfte berichtet. Und selbst wenn die Frauen anständig behandelt werden, ist der köperliche und mentale Druck enorm. Es gibt keine Freizeit, die Pflegerinnen sind immer auf Abruf. Gleichzeitig sind sie für ihre Arbeit oft nicht ausgebildet, haben entweder gar keine Erfahrungen in der Pflege oder nur sehr kurze Fortbildungen.

Lieber „Daheim statt im Heim“?

„Viele dieser Pflegekräfte werden zu einem Teil der Familie, sprechen ihre Auftraggeberin zum Beispiel mit Mutter an. Damit schrauben sie natürlich ihre eigenen Interessen als Arbeitnehmerin herunter“, sagt Jonas Hagedorn. An der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Sankt Georgen arbeitet Hagedorn an einem vierjährigen Forschungsprojekt zur Pflegearbeit in Privathaushalten. „Die Live-Ins können sich nicht organisieren. Es gibt zu viele und die wissen oft nichts voneinander.“ Die fehlende Sprachkompetenz, die  Abhängigkeit von den Angehörigen der zu Pflegenden befördere die Ausbeutung, sagt Hagedorn. Wie kann es sein, dass Zehntausende Frauen illegal in deutschen Haushalten pflegen?

Zum einen ist das Lohngefälle zwischen Deutschland und den osteuropäischen Nachbarn sehr steil. Die Fahrtstrecken sind vergleichsweise kurz, die Anreize hoch. Dazu hat die Pflege im eigenen Zuhause in Deutschland eine besondere Bedeutung, die es so in anderen Ländern nicht gibt.

Man fühlt sich schuldig, wenn man Mutter ins Heim abschiebt. – Jonas Hagedorn, Pflege-Experte

Für viele pflegebedürftige Menschen symbolisiert das eigene Haus eine Selbstständigkeit, die mit dem Umzug ins Heim endet. Häufig ist das Heim noch immer eine Schreckensvision. „Die Pflege daheim gehört zum guten Ton“, sagt auch Jonas Hagedorn. „Man fühlt sich schuldig, wenn man Mutter ins Heim abschiebt.“ Die Bundesregierung fördert das mit einer Pflegepolitik, die unter dem Motto „Daheim statt Heim“ möglichst viele Menschen im eigenen Zuhause halten will.

In anderen nordeuropäischen Ländern ist das anders. In Skandinavien, aber auch in Belgien, den Niederlanden oder Frankreich. „Dort ist die stationäre Pflege auch finanziell viel besser ausgestattet“, sagt Hagedorn. In Deutschland ist der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, der für Pflege ausgegeben wird, zum Teil nur etwa halb so hoch wie in Nordeuropa.

Die Folge: Viele Menschen werden daheim betreut. Doch in der ambulanten Pflege bleibt oft nicht genug Zeit, denn abgerechnet wird in Minuten. Meist übernehmen Frauen oder Töchter den Rest der Pflege. Die Belastung ist riesig. Das Pflegegeld, das Angehörige bekommen, liegt bis heute unter dem Existenzminimum. Und eine legale, ambulante Pflege, die eine Vollversorgung wie im Heim garantieren würde, wäre für die meisten unbezahlbar. Oft scheinen 24-Stunden-Pfleger aus Osteuropa die einzige Alternative zu sein.

Fast unmöglich, legal eine Pflegerin anzustellen

Auch deshalb sind Anfang der 1990er Jahre vor allem polnische Frauen jenseits der 50 nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen ließen Mann und Kinder zurück, um in Deutschland ihre finanziellen Probleme zu lösen. Oft reisten die Polinnen in dieser Zeit mit einem Touristenvisum ein, ohne Arbeitserlaubnis, sie arbeiteten schwarz. Damit waren sie völlig abhängig von der Familie, für die sie arbeiten.

Heute können Polinnen, Rumäninnen oder Bulgarinnen ganz theoretisch auch legal in Deutschland pflegen. Trotzdem schätzen Experten, dass immer noch etwa die Hälfte der 24-Stunden-Pflegerinnen schwarz arbeiten. Offenbar fühlen sich viele von den immer stärker verbreiteten Vermittlungsagenturen ausgenutzt, die oft einen großen Teil des Lohns einbehalten. Andere wollen nicht offiziell arbeiten, weil sie dann etwa in Polen ihre Rente verlieren würden. Aber selbst die Pflegerinnen, die offiziell über Vermittlungsagenturen engagiert werden, arbeiten in einem rechtlichen Graubereich.

Letztlich ist es so gut wie unmöglich, eine osteuropäische 24-Stunden-Pflegerin legal in Deutschland zu beschäftigen. Das beschreibt Bernhard Emunds, Leiter des Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik an der Hochschule Sankt Georgen, ausführlich in seinem Buch Damit es Oma gut geht.

Blankovollmacht, die vor Strafverfolgung schützt

Die Frauen kommen meist im Wechsel mit einer Kollegin für jeweils drei Monate nach Deutschland. Agenturen bezeichnen die Einsätze als Dienstreisen oder schicken die Frauen von polnischen Unternehmen aus nach Deutschland. Solche Dienstreisen sind jedoch Steuerbetrug im Herkunftsland. Und eine Entsendung würde nur funktionieren, wenn dabei deutsche Arbeitszeitgesetze und deutscher Mindestlohn gezahlt würden. Das geschieht bei der 24-Stunden-Pflege nicht. Sehr beliebt ist deshalb die angebliche Selbstständigkeit solcher Helfer. Das Problem: Wer über Wochen oder Monate in einem Haushalt arbeitet, keine eigenen Arbeitsmittel einsetzt und sich die Arbeitszeit nicht selbst einteilen kann, der ist nicht selbstständig.

Oft versprechen Vermittler den deutschen Familien, dass diese nichts zu befürchten haben, solange die Pflegerin in ihrem Herkunftsland eine A1-Bescheinigung besorgt. Damit wird der Familie bescheinigt, dass die Pflegerin ihre Sozialabgaben entrichtet. Obwohl Pflegerin und Familie trotzdem zahlreiche anderen Gesetze brechen, ermitteln deutsche Behörden offenbar nicht, solange eine A1-Bescheinigung vorliegt.

Experte Hagedorn schlägt deshalb vor, die A1-Bescheinigung für die Pflege abzuschaffen, da sie als Blankovollmacht diene, die vor Strafverfolgung schützt. Viele Arbeitgeber von solchen Live-In-Pflegekräften seien Mittelschichtsfamilien, die sich nicht gerne strafbar machen wollen. Ohne A1-Bescheinigung könnte die Furcht vor Ermittlungen höher sein. Die stellvertretende Pressesprecherin des Bundesarbeitsministeriums, Jarmila Schneider, schreibt, dass hierfür eine EU-Verordnung geändert werden müsse. „Gleichzeitig erscheint die Abschaffung nicht als sichere Garantie für einen Schutz von Arbeitskräften vor Missbrauch.“ Auf die Frage, was das Ministerium plane, um den Missbrauch zu bekämpfen, gibt Schneider keine Antwort.

„Das ist kein Unfall, sondern Kalkül.“

Selbst wenn eine Familie zum Arbeitgeber wird, die Pflegekraft offiziell anstellt, sich durch den Papierkram kämpft und Sozialabgaben zahlt, ist das nur in den seltensten Fällen legal. Die maximale Arbeitszeit wären 48 Stunden in der Woche. Die Pflegerin müsste jede Woche mindestens ein Mal 24 Stunden am Stück frei haben. Und sie dürfte nicht im Haushalt leben. Denn wenn sie am Arbeitsplatz ist, gilt das nach EU-Recht als Arbeitszeit.

Vermittler machen also so gut wie immer falsche Versprechen, wenn sie von legalen 24-Stunden-Pflegerinnen sprechen. Kontrolliert wird die Branche trotzdem selten. Zuständig wären die Arbeitsschutzbehörden der Länder. „Ich will nicht bestreiten, dass Politik und Staat wissen, dass es das gibt und das nicht so stark kontrolliert wird, wie man vielleicht könnte“, sagt der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann im Gespräch mit correctiv.org. Die Situation der osteuropäischen Pflegekräfte sei nunmal eine Realität und man wolle nicht gleich jeder Familie unterstellen, dass sie ihre Polin in Schwarzarbeit beschäftigt.

Vermittlungsagenturen würden dagegen streng kontrolliert, sagt Laumann. Er geht davon aus, dass sie ihren Kunden legale Pflegekräfte vermitteln. „Ich bin froh, dass es diese Agenturen gibt. Dass der normale Bürger weiß, wenn ich das so mache, habe ich rechtlich alles richtig gemacht.“ Das stimmt nur nicht.

Pflege wird an prekär Beschäftigte delegiert

Offenbar gibt es derzeit in der Bundesregierung keine Pläne, das Problem anzugehen und die Situation der Live-Ins zu verbessern. Im Gegenteil. 2011 verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation ILO ein Abkommen, das menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte garantieren soll. Als die Bundesregierung das Abkommen zwei Jahre später rechtskräftig macht, fügt sie jedoch eine Ausnahme ein: Das Gesetz gelte nicht für „Arbeitnehmer, die in häuslicher Gemeinschaft mit den ihnen anvertrauten Personen zusammenleben und sie eigenverantwortlich erziehen, pflegen oder betreuen.“ Eine Abgrenzung zwischen Freizeit und Arbeitszeit sei bei diesen Personen nicht möglich. 

Für unser Streben nach Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung lassen wir andere bluten. – Jonas Hagedorn, Pflege-Experte. 

Dies entspricht dem geltenden deutschen Arbeitszeitrecht, dass diese Gruppe vom Arbeitszeitgesetz ausnimmt. „Die Politik schaut nicht nur weg. Sie will ganz bewusst, dass die Pflege sich selbst überlassen bleibt“, sagt Jonas Hagedorn von der Hochschule Sankt Georgen. „Das ist kein Unfall, sondern Kalkül.“

Die soziale Frage im 21. Jahrhundert stellt sich in den Haushalten, sagt Hagedorn. „Für unser Streben nach Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung lassen wir andere bluten, indem wir die Pflegearbeit an prekär Beschäftigte delegieren.“ Wie schaffen wir es, Pflege fair und gut zu organisieren? Wie viel Geld wollen wir für gute Pflege, für die angemessene Bezahlung von Pflegekräften ausgeben? „Dass wir uns diesen Fragen als Gesellschaft bisher zu wenig stellen, ist ein echter Skandal“, sagt Hagedorn.


Unser Reporter Daniel Drepper hat ein Buch über den Kampf um gute Pflege geschrieben. „Jeder pflegt allein: Wie es in deutschen Heimen wirklich zugeht“ ist im Sommer 2016 erschienen. Das Buch gibt es im CORRECTIV-Shop. Informationen über alle 13.000 deutschen Pflegeheime und weitere Recherchen zum Thema gibt es auf unserer Themenseite unter correctiv.org/pflege.