Häusliche Gewalt​

Wie ernst die Lage in den Frauenhäusern ist

Die meisten Frauenhäuser waren im Jahr 2022 regelmäßig voll belegt. Eine Datenauswertung von CORRECTIV.Lokal zeigt erstmals, wie schwer es für gewaltbetroffene Frauen ist, einen freien Platz zu finden.

Eine Frau mit drei Kindern steht am Eingang eines Labyrinths. Symbolbild für Häusliche Gewalt und die Suche nach einem Platz in einem Frauenhaus.
Häusliche Gewalt​

Wie ernst die Lage in den Frauenhäusern ist

Die meisten Frauenhäuser waren im Jahr 2022 regelmäßig voll belegt. Eine Datenauswertung von CORRECTIV.Lokal zeigt erstmals, wie schwer es für gewaltbetroffene Frauen ist, einen freien Platz zu finden.

von Nina Bender, Max Donheiser, Miriam Lenz, Chiara Swenson

6. März 2023

von Nina Bender, Max Donheiser, Miriam Lenz, Chiara Swenson

6. März 2023

Mal angenommen: Du bist eine Frau und hast drei Kinder. Ihr lebt in Hessen, in einer kleinen Stadt. Es ist der Morgen nach Heiligabend 2022 und dir tut alles weh. Dein Partner hat dich verprügelt. Und das nicht zum ersten Mal. Heute fasst du den Entschluss zu gehen. Sobald er um 8 Uhr aus dem Haus ist, suchst du nach einem Platz in einem Frauenhaus. Du hast vielleicht noch zwei Stunden Zeit, bevor er wieder kommt. Du rufst die zentrale Internetseite auf, die angibt, welche Schutzorte derzeit freie Plätze anbieten.

Das ist, was du heute findest:

Karte Belegungsstatus Frauenhäuser am 25. Dezember 2022 Karte Belegungsstatus Frauenhäuser am 25. Dezember 2022 Karte Belegungsstatus Frauenhäuser am 25. Dezember 2022

Von 310 Frauenhäusern haben fast 70 Prozent keinen Platz (). Sehr viele Häuser machen keine Angabe (). Auf der Karte suchst du nach den Häusern, die euch aufnehmen können. ().

Du hast Glück: Zehn Häuser haben gerade etwas frei. Aber kommen dort auch alle deine Kinder unter? Denn wie viele Betten in den Frauenhäusern frei sind, zeigt die Karte erst einmal nicht.

Über einen Filter findest du heraus, dass zwei Häuser auch Platz für deine Kinder haben: Eines in Schleswig-Holstein, eines in Bayern. Du googelst die Entfernungen: Beide sind knapp 500 Kilometer weit weg.

Wie sollst du das schaffen? Deine Kinder sind noch klein. Der Gedanke an eine weite Reise macht dir Angst. Dein Partner kommt bald wieder nach Hause.

Versuchst du es an einem anderen Tag?

Was wird bis dahin passieren?

Der erzählte Fall ist fiktiv, aber die Daten und die grundsätzlichen Probleme bei der Suche nach einem geeigneten Schutzplatz sind echt.

0 Prozent
Durchschnittliche Belegungsquote in 2022

Wenn eine Frau häusliche Gewalt erfahren hat, braucht sie schnell Schutz – zum Beispiel in einem Frauenhaus. Doch die Frauenhäuser in Deutschland sind stark überlastet. CORRECTIV.Lokal hat erstmals ein Jahr lang erfasst, wie oft Frauenhäuser in 13 Bundesländern voll belegt waren. Die Daten zeichnen ein eindeutiges Bild: Vergangenes Jahr meldeten die ausgewerteten Frauenhäuser im Durchschnitt an 303 Tagen, dass keine Aufnahme möglich war. Wenn ein Platz frei wurde, war er oftmals schon nach wenigen Stunden wieder besetzt. 

Die Folge: Bedrohte Frauen finden nur schwer einen Platz oder müssen in ein weit entferntes Frauenhaus reisen. Besonders schwierig wird es, wenn sie auch Schutz für mehrere Kinder suchen. Wie im Beispiel oben. Denn nicht alle Frauenhäuser haben die Möglichkeit, größere Familien aufzunehmen. Dabei ist der Bedarf groß: Eine Umfrage des Vereins Frauenhauskoordinierung kam 2021 zu dem Ergebnis, dass rund ein Drittel der Frauen mit zwei und mehr Kindern ins Frauenhaus zog. Viele kommen sogar mit drei oder mehr Kindern.

Um die Sicherheit der Frauen zu gewährleisten, bleiben die Adressen der Frauenhäuser geheim. Sie sind nur telefonisch erreichbar. Damit Frauen schnell sehen, welche Häuser einen Platz frei haben, gibt es seit Mai 2021 online die bundesweite Frauenhaus-Suche. Diese wird von der Zentralen Informationsstelle der Autonomen Frauenhäuser (ZIF) betrieben. CORRECTIV.Lokal hat die Daten der Seite ein Jahr lang erfasst und ausgewertet.

Zudem hat CORRECTIV.Lokal mit mehreren Mitarbeiterinnen gesprochen, die vor Ort die Frauen und Kinder betreuen. Und melden, wenn ein Platz frei wird. Ihre Aussagen zeigen, wie dramatisch die Lage ist und warum so oft kein freier Platz angeboten wird. Sie berichten von einer Flut von Anrufen, wenn sie einen freien Platz auf der Webseite einstellen. Dieser sei dann innerhalb weniger Stunden wieder vergeben. 

Welches Frauenhaus geeignet ist, hängt von den persönlichen Lebensumständen der Frau ab: Kinder und Freunde und Familie können Argumente sein, in der Nähe des Wohnortes zu bleiben. Droht große Gefahr, kann es ratsam sein, das Bundesland zu verlassen. Das berichten mehrere Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern, mit denen CORRECTIV.Lokal gesprochen hat.

Besonders schlecht war die Lage im vergangenen Jahr in Hessen, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz: Frauenhäuser waren dort durchschnittlich zu 90 Prozent belegt.

Karte der durchschnittlichen Belegungsquote per Frauenhaus in 2022 Karte der durchschnittlichen Belegungsquote per Frauenhaus in 2022 Karte der durchschnittlichen Belegungsquote per Frauenhaus in 2022

Das Frauenhaus in Koblenz in Rheinland-Pfalz ist eines davon. Seit Jahren sei es immer voll und das sei ein großes Problem, erzählt die Leiterin des Frauenhauses Alexandra Neisius.

Sie arbeitet seit mittlerweile 24 Jahren im einzigen Frauenhaus der Großstadt. Besonders das vergangene Jahr sei sehr anstrengend gewesen, erzählt Neisius. Sie hätten Frauen aus 14 verschiedenen Ländern aufgenommen und das bedeute viele Amtsgänge, bei denen die Mitarbeiterinnen unterstützen würden.

Außerdem hätten besonders viele Kinder im Frauenhaus gewohnt. Viele von ihnen hätten noch zusätzliche Kleidung benötigt. Auch darum hätten sich die Mitarbeiterinnen kümmern müssen. „Wir arbeiten immer an der Kante, wenn dann etwas Zusätzliches kommt, geht es nicht mehr“, sagt Neisius.

Das ausgelastete Frauenhaus in Koblenz ist kein Einzelfall: Meistens sei in Rheinland-Pfalz kein einziger Platz frei, erzählt Frauenhaus-Leiterin Neisius. Das zeigen auch die Daten, die CORRECTIV.Lokal für das Jahr 2022 ausgewertet hat: Im Mittel waren die Häuser in Rheinland-Pfalz an 336 Tagen voll.

Durchschnittliche Belegungsquote 2022
50–75%  >75% 

Schutzbedürftige Frauen finden oftmals keinen Platz in der Nähe ihres Wohnortes, aber auch auf Bundesebene ist die Lage schlecht: Vergangenes Jahr meldeten die ausgewerteten Frauenhäuser durchschnittlich an 303 Tagen, dass sie voll belegt sind und keine Frauen mehr aufnehmen können. Das zeigt die CORRECTIV-Analyse von 200 Frauenhäusern in 13 Bundesländern (→ Informationen zur Methodik).

Durchschnittliche Belegungsquote 2022
<25%  25–50%  50–75%  >75% 
keine Daten

Sie erleben häusliche Gewalt oder machen sich Sorgen um ein Kind? Sie fühlen sich als Elternteil überfordert oder neigen selbst zu Gewaltausbrüchen? An diese Anlaufstationen können Sie sich wenden:

Grafik Durchschnittliche Belegungsquote der Frauenhäuser je Monat in 2022 Grafik Durchschnittliche Belegungsquote der Frauenhäuser je Monat in 2022

Durchschnittliche Belegungsquote je Monat (2022)
Besonders ausgelastet im August und Dezember
Im vergangenen Jahr waren die Frauenhäuser nahezu dauerhaft an der Belastungsgrenze. Im August und im Dezember hatten Frauen es besonders schwer, einen Schutzplatz zu finden: Im Mittel gab es dort nur an drei Tagen im Monat freie Plätze. Und das in 13 Bundesländern.

Durchschnittliche Belegungsquote je Monat (2022)
Wo liegt die Belastungsgrenze?
„Als Frauenhäuser verstehen wir uns bis 75 Prozent als handlungsfähig. Darüber können wir nur Notaufnahmen machen. Also eine Frau in Not aufnehmen, aber dann weitervermitteln“, erzählt Eilika Degenhardt. Sie arbeitet im Frauenhaus Neumünster in Schleswig-Holstein. Die Auswertung von CORRECTIV.Lokal zeigt, dass – gemessen an der Definition von Degenhardt – die Schutzorte in 11 von 12 Monaten über dieser Grenze lagen.

Ausgebrannte Mitarbeiterinnen

Für die Mitarbeiterinnen bedeutet das dauerhaften Stress. Bereits vor zwei Jahren berichtete CORRECTIV.Lokal über den prekären Arbeitsalltag in Frauenhäusern. Die Corona-Pandemie hatte die Situation damals noch verschärft.

92 Mitarbeiterinnen aus Frauenhäusern berichteten damals von ihrem Alltag. Durch Quarantäne und Krankheiten gab es zu wenig Personal. Gleichzeitig war die Nachfrage nach Schutzplätzen hoch. Einzelne Häuser mussten dutzende, manchmal sogar hunderte Frauen abweisen.

Die Mitarbeiterinnen fühlten sich überlastet und vom Staat allein gelassen. Daran hat sich auch zwei Jahre später nichts geändert. Alle Mitarbeiterinnen, mit denen CORRECTIV.Lokal in den vergangenen Monaten gesprochen hat, berichteten von Stress und Überlastung.

Tausende Frauenhausplätze fehlen

Sie übernehmen eine Vielzahl von Aufgaben: Die Mitarbeiterinnen unterstützen die Frauen emotional. Und sie helfen den Frauen, eine eigene Existenz aufzubauen. Sie unterstützen bei Behördengängen, Arztbesuchen und der Wohnungssuche. Wenn nötig, vermitteln sie auch rechtliche Hilfe.

Dabei arbeiten sie in einem System, das immer kurz vor dem Zusammenbruch steht. Denn es gibt viel zu wenige Frauenhausplätze in Deutschland. 

Der Europarat empfahl schon 2006 einen Frauenhausplatz pro 7.500 Einwohnerinnen und Einwohnern. Folgt man dieser Empfehlung, dann fehlen nach Recherchen von CORRECTIV.Lokal bundesweit derzeit knapp 3.500 Plätze. Elf Bundesländer verfehlen die Empfehlung des Europarats deutlich. Besonders wenige Plätze gibt es in Bayern, Rheinland-Pfalz und im Saarland.

Istanbul-Konvention nur schleppend umgesetzt

2018 verpflichtete sich Deutschland im Rahmen der sogenannten Istanbul-Konvention, den Gewaltschutz für Frauen und Mädchen zu verbessern. Das bedeutet, nicht nur genügend Frauenhausplätze zu schaffen. Es muss auch regelmäßig überprüft werden, ob Betroffene und das Hilfesystem genügend unterstützt werden. Immerhin: In der aktuellen Legislaturperiode bewegt sich etwas. Vor kurzem hat der Aufbau einer „zentrale Koordinierungsstelle“ im Familienministerium (BMFSFJ) begonnen, sagt eine Sprecherin des Ministeriums. Und auch die Datenbasis soll sich verbessern. Aktuell läuft eine repräsentative Befragung zu häuslicher Gewalt gegen Frauen und Männer. Allerdings seien Ergebnisse erst Anfang 2025 zu erwarten.

CORRECTIV.Lokal

Die Recherche zu den Frauenhäusern ist eine Kooperation von zahlreichen Lokalmedien und CORRECTIV.Lokal. Mit dem Netzwerk fördern wir Recherchen im Lokaljournalismus. Neben gemeinsamen Recherchen bieten wir den mehr als 1.500 Mitgliedern Fortbildungen an und unterstützen den Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort. Dadurch stärken wir die Demokratie.

Keine sichere Finanzierung

Und es gibt weitere Baustellen für die Bundesregierung: Es gibt nicht nur zu wenige Frauenhausplätze in Deutschland. Die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser müssen auch um deren Finanzierung kämpfen. Woher wie viel Geld kommt, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, teilweise sogar von Kommune zu Kommune. In Baden-Württemberg etwa müssen die Frauen selbst für ihre Unterkunft im Frauenhaus zahlen. Hat eine Frau Anspruch auf Sozialhilfe, übernimmt das Jobcenter die Kosten.

Das klappt nicht immer reibungslos. „All diese bürokratischen Kämpfe, die wir führen müssen, sind zermürbend und ermüdend“, sagt Ruth Syren. Seit 1996 leitet sie das Frauenhaus Heckertstift in Mannheim. Sie und ihre Mitarbeiterinnen seien ständig am Rande der Belastbarkeit. 

Jedes Problem mit der Verwaltung, etwa bei der Finanzierung des Aufenthalts im Frauenhaus oder bei der Suche nach einer neuen Wohnung für eine Frau, habe weitreichende Folgen. „Wir müssen die Frauen ja dann auch immer wieder von Neuem aufbauen“, sagt Syren. Das koste auch die Mitarbeiterinnen viel Kraft.

Damit die Arbeit der Frauenhäuser finanziell endlich abgesichert sei, müsse der Staat sie bundesweit einheitlich finanzieren, sagt Syren. Dafür kämpfen seit Jahren auch die beiden Interessenverbände ZIF und Frauenhauskoordinierung. 

Mit dem Koalitionsvertrag kam 2021 Bewegung in die Debatte. Dort heißt es, dass die Bundesregierung eine verlässliche bundesweite Finanzierung sicherstellen werde. Das Geld soll sowohl vom Bund als auch den Ländern kommen. Doch bisher wurde das nicht umgesetzt. Auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal bleibt das BMFSFJ weiter vage: Die ​​bundesgesetzliche Regelung solle noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden, schreibt eine Sprecherin.

So haben wir recherchiert

Vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2022 haben wir jeden Tag dreimal (8 Uhr, 12 Uhr und 18 Uhr) die Belegungsdaten für alle Frauenhäuser und Schutzwohnungen erfasst, die auf der Karte „Frauenhaus-Suche“ verzeichnet waren. Auf dieser Seite können Frauenhäuser bundesweit angeben, ob sie aktuell freie Plätze für Frauen und Kinder anbieten.

Insgesamt gibt es rund 400 Frauenhäuser und Schutzwohnungen in Deutschland. Die Angaben auf der Webseite waren im Jahr 2022 dementsprechend nicht vollständig: Dort waren 336 Frauenhäuser und Schutzwohnungen eingetragen.

In unsere Datenanalyse haben wir lediglich Frauenhäuser und keine Schutzwohnungen einbezogen. Weitere Kriterien waren, dass die Frauenhäuser das ganze Jahr 2022 auf der Frauenhaus-Suche eingetragen waren. Zudem sollten sie in mehr als 80 Prozent der Zeit gemeldet haben, wie belegt sie waren. Am Ende erfüllten 200 Frauenhäuser diese Anforderungen. Sie bilden die Grundlage für unsere Analyse. In Berlin, Hamburg und Bremen erfüllte kein Frauenhaus unsere Analysekriterien. Deshalb sprechen wir von 13 ausgewerteten Bundesländern.

Frauenhäuser in der Pandemie: 92 Mitarbeiterinnen berichten über den prekären Alltag

Häusliche Gewalt: Überlastete Schutzunterkünfte für Frauen und Kinder

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