Euros für Ärzte

Warum es für Ärzte lukrativ ist, ganz bestimmte Medikamente zu verordnen

EXKLUSIV: Trotz anhaltender Kritik setzt die Pharmaindustrie weiter auf umstrittene Anwendungsbeobachtungen bereits zugelassener Medikamente. Wir haben jetzt erstmals alle diese Studien für das Jahr 2015 ausgewertet und herausgefunden, dass es doppelt so viele gibt als vom Pharmaverband behauptet. 2015 wurden mehr neue AWBs gestartet als in den Jahren zuvor. Experten kritisieren die „legale Korruption“, Politiker fordern ein Verbot.

von Hristio Boytchev , Markus Grill , Stefan Wehrmeyer

© Ivo Mayr

Hat Ihr Arzt Ihnen im vergangenen Jahr eines der folgenden Medikamente verschrieben:

  • Pradaxa zur Blutverdünnung
  • Gilenya gegen Multiple Sklerose
  • oder Enbrel gegen Rheuma?

Wenn ja, dann war es womöglich das beste Medikament für Sie. Womöglich war es aber auch nur das beste für ihn. Denn für alle diese Präparate (und noch hunderte mehr) konnten Ärzte im vergangenen Jahr Geld von der Pharmaindustrie bekommen, wenn sie ihren Patienten die Mittel verordnen und nebenbei einige Informationen darüber protokollieren, wie gut Patienten das Mittel vertragen.

„Anwendungsbeobachtungen“ (AWBs) nennen sich diese Mini-Studien und sie gelten unter Medizinern seit langem als anrüchig. Denn wissenschaftlich sind sie meist wertlos. Medikamentenprüfer vom halbstaatlichen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) schauen sich Anwendungsbeobachtungen erst gar nicht an, wenn sie ein Medikament bewerten. Zu schlecht sei in den meisten Fällen die methodische Qualität dieser AWBs, heißt es beim IQWiG.

Unter Ärzten sind Anwendungsbeobachtungen dagegen um so beliebter. Jeder zehnte Arzt in Deutschland hat im Jahr 2015 daran teilgenommen und dafür meist mehrere hundert Euro kassiert – pro Patient. Mehr als 600 dieser Scheinstudien liefen im vergangenen Jahr, über 150 neue wurden gestartet – mehr als in den vorherigen zwei Jahren. Die Pharmaindustrie zahlte dafür zig Millionen Euro an Ärzte. Das ergibt sich aus mehreren tausend Einzelmeldungen der Firmen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung, die NDR, WDR, Süddeutscher Zeitung und CORRECTIV gemeinsam ausgewertet haben. 

Erst vor wenigen Wochen hat die Pharmaindustrie in Deutschland eine Transparenz-Initiative begonnen. Das Pikante daran ist, dass AWBs von dieser Transparenz ausgenommen waren. Zwar haben die 54 größten Konzerne in diesem Jahr erstmals Zahlen darüber veröffentlicht, wie hoch ihre finanziellen Zuwendungen an einzelne Ärzte für Reisekosten, Fortbildungen, Vortrags- oder Beratungshonorare waren. AWBs bleiben weiterhin eine Black Box. Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) verrät weder, wie viel Geld für AWBs ingesamt floss, noch teilt er mit, wie viele Ärzte davon profitiert haben.

AWBs mit den höchsten geplanten Patientenzahlen

Hersteller Präparatname Beschreibung Anzahl Patienten
Guerbet Xenetix Röntgen Kontrastmittel 94.765
Guerbet Dotarem MRT Kontrastmittel 45.011
Sanochemia Cyclolux MRT Kontrastmittel 30.000
Bracco MultiHance MRT Kontrastmittel 24.439
Agfa Magnegita MRT Kontrastmittel 19.903
Lilly Humatrope Wachstumshormon 18.000
Takeda Daxas COPD 16.000
Daiichi Sankyo Sevikar Bluthochdruck 15.361
Agfa Iopamigita Röntgen Kontrastmittel 15.000
Pharm-Allergan Lumigan Grüner Star 15.000
Agfa Magnegita MRT Kontrastmittel 15.000
Bracco ProHance MRT Kontrastmittel 15.000
Novartis Rasilez Bluthochdruck 15.000
Berlin Chemie Vocado Bluthochdruck 15.000
Amersham Buchler Visipaque Röntgen Kontrastmittel 13.603
Alcon Azarga Grüner Star 12.800
Bracco MultiHance MRT Kontrastmittel 12.691
Amersham Buchler Visipaque Röntgen Kontrastmittel 12.000
Agfa Iopamigita Röntgen Kontrastmittel 11.921
Guerbet Dotarem MRT Kontrastmittel 10.112

Erst vor zwei Wochen verschickte der VfA eine Pressemitteilung, dass seine Mitgliedsfirmen im vergangenen Jahr lediglich 37 neue Nicht-Interventionelle Studien (NIS) gestartet hätten. Nach Recherchen von WDR, NDR, SZ und CORRECTIV sind es aber mehr als doppelt so viel. NIS ist ein Oberbegriff, unter den sowohl die AWBs auch Unbedenklichkeitsprüfungen (NIUPs) fallen, die die Behörden vorschreiben und die deshalb nicht in der Kritik stehen. Der Auswertung zufolge haben die VfA-Mitgliedsunternehmen 2015 allein 50 AWBs auf den Weg gebracht. Dazu kommen weitere knapp 30 NIUPs. Mit den Recherchen konfrontiert hat der VfA nunmehr die Zahl der von Mitgliedsunternehmen begonnenen AWBs korrigiert, er geht nun von 41 Studien aus.

Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben im vergangenen Jahr knapp 13.000 niedergelassene Ärzte an AWBs teilgenommen, dazu kommen weitere 4000 Ärzte an Krankenhäusern.

AWBs mit dem höchsten Honorar pro Patient

Hersteller Präparatname Beschreibung Honorar pro Patient
Abbot Humira Antirheumatika 4.609,00 €
Alimera Sciences Iluvien Makulaödem 4.250,00 €
Biogen Plegridy Multiple Sklerose 3.868,00 €
Baxalta Ceprotin Proteinmangel 3.785,00 €
Shire Xagrid Leukämie 3.748,00 €
PTC Therapeutics Translarna Muskeldystrophie 3.691,80 €
Baxter Immunine Blutgerinnungsstörung 3.600,00 €
Abbot Humira Antirheumatika 3.450,00 €
Baxalta Feiba Blutgerinnungsstörung 3.400,00 €
Lilly Cyramza Magenkrebs 3.141,00 €
Biogen Tysabri Multiple Sklerose 3.108,00 €
Eisei Inovelon Epilepsie 3.000,00 €
Abbot Humira Antirheumatika 2.990,00 €
Novartis Gilenya Multiple Sklerose 2.965,00 €
Genzyme Lemtrada Leukämie 2.940,00 €
Eurimpharm Protopic Ekzemsalbe 2.745,00 €
Alexion Soliris Hämoglobinurie 2.700,00 €
Roche Erivedge Hautkrebs 2.660,00 €
Chiesi Glybera Gentherapie 2.625,00 €
Novartis Xolair Asthma 2.550,00 €

Wie die umstrittenen AWBs in der Praxis umgesetzt werden, kann am Beispiel des Pharmakonzerns Novartis nachvollzogen werden. Das Schweizer Unternehmen hat 2015 in Deutschland zwölf AWBs begonnen, mehr als jeder andere Konzern. In einer AWB geht es darum, wie Multiple-Sklerose-Patienten reagieren, die von einem anderen Medikament auf das Novartis-Präparat Gilenya umgestellt werden. Dies soll an 1500 Patienten über einen Zeitraum von drei Jahren beobachtet werden. Pro Patient zahlt Novartis den teilnehmenden Ärzten maximal 2965 Euro, allein für die Eingangsuntersuchung werden 500 Euro fällig. Bei Nachsorgeterminen erhalten die Mediziner dann zwischen 120 und 275 Euro pro Sitzung. Die Zahlen ergäben sich „aufgrund des geschätzten Zeitaufwandes für die Dokumentation“, heißt es in den Unterlagen zu der Studie. Novartis wollte dies auf Nachfrage nicht näher kommentieren. Das Unternehmen teilte nur mit, die Aufwandsentschädigungen seien „ausschließlich sachbezogen und in der Höhe angemessen“. Im vergangenen Jahr habe der Konzern etwa sechs Millionen Euro für NIS ausgegeben.

Auch andere große Pharma-Konzerne investieren Millionensummen in Anwendungsbeobachtungen. Details kommunizieren allerdings die wenigsten. Der Nutzen der Studien ist dabei teils höchst zweifelhaft – insbesondere, wenn diese zu Medikamenten laufen, die schon lange auf dem Markt sind, sagt Gesundheitsökonom Bernd Mühlbauer. Oft gehe es da um die Förderung der Verschreibungszahlen – etwa bei dem Rheuma-Medikament Enbrel von Pfizer. Der Hersteller hat im April 2015 eine neue AWB gestartet, 15 Jahre nachdem das Medikament zugelassen wurde und kurz bevor erste Konkurrenz-Mittel auf den Markt kamen. Diese Studie sei ganz eindeutig ein Marketinginstrument, sagt Mühlbauer. Es sei sicher überhaupt kein wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn zu erwarten. Bis zu 300 Ärzte sollen dennoch daran teilnehmen. Sie bekommen 650 Euro pro Patient, für die Übermittlung von Daten von drei Visiten. 

Prof.Bernd Mühlbauer Klinikum Bremen

Pharmakologe Mühlbauer: „Völlig inakzeptabler Geldfluss.“

Ivo Mayr

Pfizer antwortet auf Anfrage zu der Studie: Eine Vielzahl von Faktoren bedinge die „Überprüfung von Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit“ von Enbrel durch nicht-interventionelle Studien bis heute – unter anderem, weil das Mittel bei der Markteinführung zu einer völlig neuen Medikamentenklasse gehört habe. Die Arbeit der Ärzte werde „fair und nach nachvollziehbaren Kriterien vergütet“, „auf branchenüblichem Niveau“. 

Noch kritischer als diese Studie sieht Bernd Mühlbauer AWBs zu Medikamenten, die nicht rezeptpflichtig sind, die Patienten also selbst zahlen müssen. Auch solche finden sich in den Daten – unter anderem zu Granu fink femina, einem Mittel gegen Blasenschwäche, oder zum Schlafmittel Hoggar Night. In diesen Fällen bekommen die Ärzte eine dreistellige Summe pro Patient, wenn sie das entsprechende Mittel empfehlen und Daten von der Behandlung an den Auftraggeber übermitteln. Ein solcher Geldfluss sei völlig inakzeptabel, so Mühlbauer. 

Die Hersteller, Omega Pharma und STADA, rechtfertigen dagegen die Honorare. Omega Pharma schreibt auf Anfrage, die Mehraufwendungen der teilnehmenden Ärzte für die Organisation, Durchführung und „einer sehr umfassenden Dokumentation“ seien erheblich. Das Unternehmen sagt, es könnten Erkenntnisse zum Therapiefortschritt und zur Qualität der medizinischen Versorgung gewonnen werden. STADA will keine genaueren Angaben zu den Honoraren machen, nur so viel: Die Zahlungen würden sich an der Gebührenordnung für Ärzte orientieren.

Für Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AKDÄ) sind die Scheinstudien grundsätzlich ein Misstand. Mit den AWBs werde Ärzten „eine Motivation gegeben, Arzneimittel zu verordnen, die sie sonst eigentlich gar nicht verordnen sollten“. Ludwig plädiert dafür, dass alle AWBs, die nicht von den Behörden verlangt werden, von einem unabhängigen Gremium geprüft werden müssten. „Wenn der wissenschaftliche Wert dann nicht belegt sei, sollte man diese Anwendungsbeobachtungen defintiv verbieten.“ Da der Großteil der heutigen AWBs „eindeutiges Marketing“ sei, gehöre er auch verboten. 

Portait von Prof.Dr.med.Wolf-Dieter Ludwig

AKDÄ-Vorsitzender Ludwig: „Wir müssen AWB-Ärzte ausschliessen von der Erstellung von Leitlinien.“

Lopata/AkdÄ

Für den AKDÄ-Vorsitzenden gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, warum die Pharmafirmen weiter die Namen der Ärzte verheimlichen, die an diesen Studien teilnehmen. Denn diese Intransparenz sei zum Nachteil der Patienten. Die Namen der Ärzte, die an AWBs teilnehmen, müssten öffentlich bekannt gemacht werden. „Ich will, dass wir Leute identifizieren, die permanent Fortbildungen für die Industrie machen oder Beraterverträge haben. Diese Leute müssen wir ausschließen von unabhängigen Fortbildungsveranstaltungen und der Erstellung von Leitlinien.“

Lediglich als Experten sollte man solche Ärzte noch anhören, ihnen aber nicht mehr gestatten, an der Formulierung von Behandlungsleitlinien für Patienten mitzuarbeiten. Denn durch viele wissenschaftliche Studien sei inzwischen hinreichend erwiesen, dass Ärzte selbst durch kleine geldwerte Leistungen wie Esseneinladungen beeinflusst werden. Wie groß muss dann der Einfluss erst sein, wenn man mehrere 10.000 Euro im Jahr für die Teilnahme an AWBs erhalte?

Der SPD-Politiker Karl Lauterbach

SPD-Poliitker Lauterbach: „Fehlbehandlung und Geldverschwendung.“

Dass die Transparenz-Initiative der Industrie die ausgerechnet die AWBs ausklammere, mache sie insgesamt unglaubwürdig, kritisiert der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. AWBs führten zu „Fehlbehandlungen und Geldverschwendung“ – viele von ihnen seien eine „legale Form der Korruption“. Er will deshalb eine gesetzliche Regelung. AWB sollten auf das unbedingt notwendige Maß begrenzt, auf solche, die von Behörden vorgeschrieben sind, um die Sicherheit der Mittel nach der Markteinführung zu überwachen. Und dann dürften dort auch nur kleine Bezahlungen zugelassen werden, so Lauterbach. So ein Gesetz sei aber im Moment – in der Großen Koalition – nicht durchsetzbar. Er warte auf die nächste Gelegenheit: die Bundestagswahl 2017. 

Die gesundheitspolitische Sprecherin der Union im Bundestag, Maria Michalk (CDU), kritisiert ebenfalls, dass die jüngste Transparenz-Offensive der Pharma-Industrie zu wenig gebracht habe. „Die Freiwilligkeit hat offenbar Lücken, wir werden das jetzt weiter beobachten“, sagte sie. Eine mögliche Lösung bestehe darin, dass die Konzerne gesetzlich verpflichtet werden, ihre Zahlungen an Ärzte für AWBs offenzulegen. Die USA seien ein „Vorbild“, so Michalk, dort müssen Unternehmen detailliert Rechenschaft über ihre Zahlungen ablegen.

In unserer Datenbank über Anwendungsbeobachtungen kannst Du nachschauen, welche Medikamente beobachtet werden und für welche AWBs die höchsten Honorare fließen.

In unserer Datenbank „Euros für Ärzte“ kannst Du nachschauen, ob Dein Arzt im vergangenen Jahr Geld von der Pharmaindustrie erhalten hat für Fortbildungen, Vorträge oder Beratertätigkeit.

Die Recherche entstand in Kooperation mit dem NDR (Christian Baars), dem WDR (Denise Friese) und der „Süddeutschen Zeitung“ (Kim Björn Becker).