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Risikopatienten – Die fehlende Strategie der Bundesregierung

Deutlich mehr Menschen könnten Epidemien überleben, ist sich die Forschung einig. Aber die Bundesregierung ignoriert gesundheitliche Lösungen. „Eine Lobby verhindert in Deutschland sinnvolle Gesetze“, sagt Tim Lobenstein, Experte bei der Weltgesundheitsorganisation WHO, etwa Steuern auf gesundheitsschädliche Nahrung.

von Annika Joeres

Gymnastik
Bewegung auf Rezept oder Steuern auf ungesunde Nahrung – die Bundesregierung könnte handeln, um Zahl der Risikopatienten zu senken. Gerade jetzt. © Julian Stratenschulte / picture alliance

Vieles wissen wir noch nicht über das Corona-Virus: Wir wissen nicht genau, wo es herkommt, nicht eindeutig, wie ansteckend Kinder sind, wie sinnvoll es ist, Theater zu schließen. Eine Sicherheit allerdings haben alle Medizinerinnen und Virologen, und das über Ländergrenzen hinweg: Gesunde Menschen ohne Vorerkrankungen, Menschen mit normalem Gewicht, kommen besser durch diese Pandemie. Und sicherlich auch durch alle weiteren.

Aber die Bundesregierung hat es trotz der nun schon zehn Monate andauernden Epidemie bisher versäumt, sich für Menschen einzusetzen, die unter zu wenig Bewegung und schlechter Nahrung leiden und dadurch anfälliger für Krankheiten sind. Rund vierzig Prozent aller Menschen in Deutschland und in Europa gehören in der Pandemie zu den Risikopatienten, so erklärte es Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Dazu gehören in erster Linie ältere Menschen, aber auch viele Menschen mit vermeidbaren Krankheiten wie Diabetes Typ 2 oder krankhaftem Übergewicht.

CORRECTIV hat das Gesundheits- sowie das Ernährungsministerium angefragt, was sie aus Corona für die Vorsorge gelernt haben. Ihre Antwort: Bisher nichts. Es gebe keine neuen Projekte, sagt das Gesundheitsministerium. Keines der Ministerien konnte konkrete, neue Pläne in Reaktion auf Corona benennen, wie die hohe Zahl an vermeidbaren Risikopatienten gesenkt werden könne.

Dabei fordern Gesundheitsexpertinnen jetzt zu reagieren und etwa Steuern auf gesundheitsschädliche Nahrung zu erhöhen oder staatliche Anreize für mehr Bewegung zu schaffen.

Die Ministerien formulieren allerdings keine neuen Strategien, etwa wie Kinder und Erwachsene in Kantinen künftig besser vor ungesundem Essen geschützt oder wie Menschen zu mehr Bewegung motiviert werden können. Sie zitieren in ihren Antworten lediglich Programme, die schon jahrelang laufen – und bisher offenbar wenig bewirken. Denn die Zahl der vermeidbaren Zivilisationskrankheiten wie Diabetes Typ 2 steigt Jahr für Jahr auf inzwischen fast sieben Millionen Fälle an. Inzwischen gilt jeder fünfte Deutsche als krankhaft übergewichtig. Besonders betroffen sind arme Menschen.

Zahl der schweren Corona-Verläufe könnte „begrenzt werden“

Experten wie Jürgen Windeler, Direktor des Kölner Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), bedauern, dass die Vorsorge selbst in dieser Pandemie noch immer zu kurz kommt. „Jetzt heißt die Devise: Gesundheit geht über alles, egal was es kostet. Aber in der Vergangenheit wurde gespart und ignoriert, was für die Gesundheit förderlich ist.“ Es habe in den vergangenen Jahren keine einzige Situation gegeben, wo das Motto „Gesundheit geht über alles“ angewandt worden wäre. Etwa bei einem Werbeverbot für Zigaretten, das Leben retten würde. Bei Tabak hätten wirtschaftliche Interessen jahrzehntelang Vorrang gehabt.

Windeler ist anzumerken, dass er über die neue Losung, jedes Menschenleben zählt, überrascht ist. „Herzkreislauf-Erkrankungen und Adipositas, die einen schweren Verlauf von Corona wahrscheinlicher machen, könnten wir begrenzen und damit viel Leid ersparen“, sagt er. „Wir haben 7000 Verkehrstote, 15.000 sterben an Sepsis und über 20.000 Tote durch Nebenwirkungen von Medikamenten pro Jahr. Haben wir an diesen Stellen wirklich alles gemacht, um unsere Gesundheit zu schützen? Die Antwort ist: Nein, wir haben nicht alles gemacht.“

Warum die Zahl der Risikopatienten in der Corona-Krise sogar zunimmt

Tatsächlich legen inzwischen zahlreiche Studien nahe, dass unser Lebensstil mit dafür verantwortlich ist, wie verheerend sich Corona auswirkt. Bürgerinnen und Bürger in OECD-Staaten litten mehr unter Übergewicht und geringer Bewegung, schreiben französische Forscher, und seien daher von Corona besonders betroffen. Andere Studien wie diese schreiben, krankhaft übergewichtige Menschen hätten ein mindestens vierfach erhöhtes Risiko, an Corona zu sterben. Eine „stringente Antwort“ der Staaten müsse es daher sein, die Gesundheit der Bevölkerung zu stärken.

Aber viele Menschen könnten ausgerechnet in dieser Zeit, in der besonders engagiert über Gesundheit diskutiert wird, körperlich schwächer werden: Forscherinnen sprechen in einem Artikel der Zeitschrift Nature von einer „Pandemie des Sedentarismus“ – also einer Pandemie der Nicht-Bewegung, die Leben kosten wird. Zugleich nehmen Menschen im Lockdown an Gewicht zu, in Deutschland waren es während der ersten Corona-Welle durchschnittlich rund ein Kilo pro Person, schreibt das Robert-Koch-Institut.

Regierung zieht keine Lehren aus der Corona-Krise zur Gesundheitsvorsorge

Trotzdem ist bislang kaum ein Wort darüber zu hören, wie die Bundesregierung künftig Anreize für ein gesundes Leben setzen will. Denn auch darin sind sich Forscherinnen und Forscher seit Jahren einig: Wenn sich Menschen überwiegend ungesund ernähren oder sich kaum bewegen, ist das kein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Prävention heißt dafür zu sorgen, so der Tenor von Expertinnen, dass Menschen ihren Alltag ändern können.

Bisher veranschlagt das Finanzministerium 1,5 Billionen Euro, um die Corona-Krise zu bewältigen. Das entspräche etwa dem Fünffachen des Bundeshaltes vor der Corona-Krise. Aber was gibt die Bundesregierung aus, um Millionen Menschen davor zu retten, zu Risikopatienten zu werden?

„Wir hätten jetzt in der Pandemie eine Chance, endlich Übergewicht zu bekämpfen“, sagt Tim Lobenstein, Adipositas-Experte bei der WHO. Bisher sei diese Chance allerdings nicht genutzt worden. Dabei gibt es erfolgreiche Strategien: etwa aufgedruckte Hinweise auf gesundheitsschädlichen Ernährungs-Produkten oder sogar Werbebeschränkungen. Großbritanniens Premierminister Boris Johnson etwa habe nach seiner eigenen Corona-Erkrankung Übergewicht als „Problem Nummer 1“ ausgemacht und will künftig Werbung für gesundheitsschädliche Nahrung verbieten.

Steuern auf ungesunde Produkte – von Lobbyinteressen verhindert

Deutschland aber hat ein solches Werbeverbot stets verhindert. Lobenstein von der WHO sagt, künstlich erzeugte Nahrung, stark weiterverarbeitete Produkte wie Fertiggerichte oder Süßigkeiten müssten hoch besteuert, Gemüse und Obst hingegen günstig sein: „Diesen wichtigen Schritt haben in Deutschland Lobby-Gruppen und von der Nahrungsindustrie beeinflusste Abgeordnete verhindert.“

Tatsächlich hat Ernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) gerade den freiwilligen Nutri-Score eingeführt, eine Farbskala, mit der Produkte auf der Vorderseite der Verpackung bewertet werden – allerdings nur innerhalb einer Produktgruppe. So ist also nur zu erkennen, ob ein Keks besser als ein vergleichbarer ist, und nicht, ob er grundsätzlich ungesund ist. Das CDU-Ministerium erklärt auf Anfrage von CORRECTIV, darüber „nachzudenken, Werbung für an Kinder gerichtete Produkte einzuschränken.“

Eine Floskel, die das CDU-Ministerium schon seit Jahren wiederholt, obwohl es erfolgreiche Beispiele einer Steuer auf ungesunde Produkte gibt. „In Dänemark hat eine Zucker- und Fettsteuer zu einem Rückgang des Konsums an zucker- und fettreichen Lebensmitteln um bis zu 20 Prozent geführt“, sagt Susann Weihrauch-Blüher, Fachärztin und Expertin für Übergewicht bei Kindern an der Universitätskinderklinik in Halle. Auf Druck der Nahrungsmittelindustrie wurde diese Steuer allerdings wieder abgeschafft.

Zum Bedauern der Expertin. So eine Regelung bräuchten wir auch dringend in Deutschland, sagt sie. „Bisher aber wehren sich die Ministerien, so eine Steuer umzusetzen.“ Ebenso beachteten nicht einmal die Schulkantinen in Deutschland die Qualitätsstandards der Fachgesellschaften, beispielsweise, eine Salatbar oder Trinkwasserspender anzubieten. Dabei sind die Zahlen alarmierend und würden es verdienen, jeden Tag in den Nachrichten zu laufen. „Wir haben leider in Deutschland weiterhin eine gleichbleibend hohe Zahl an Kindern und Jugendlichen, die übergewichtig oder adipös sind, aktuell sind 1,9 Millionen betroffen. Und in den allermeisten Fällen werden diese auch zu übergewichtigen Erwachsenen“, sagt die Ärztin Weihrauch-Blüher.

Eine lebensbedrohliche Entwicklung, die ausgerechnet zur Corona-Zeit noch verschärft wurde. „Erste Daten weisen darauf hin, dass im Lockdown, bedingt durch den fehlenden Sportunterricht und die Ausgangsbeschränkungen, viele Kinder und Jugendliche noch weiter an Gewicht zugenommen haben.“ Das sei dramatisch für die Gesundheit einer ganzen Generation.

Bekämpfung von Volkskrankheiten „großes Ziel“, aber ohne große Ergebnisse

Aber auch hier fehlt eine politische Reaktion. Das Gesundheitsministerium beruft sich auf jahrealte Kampagnen und Projekte, die angesichts der hohen Zahlen an Übergewicht und Folgekrankheiten wie Diabetes offensichtlich nicht ausreichend wirken. „In Deutschland nimmt wie in anderen Industrieländern auch die Häufigkeit chronisch verlaufender, lebensstilbedingter Krankheiten zu, unter anderem Diabetes und Herz-Kreislaufkrankheiten“, schreibt das Ministerium auf Anfrage von CORRECTIV. Die Bekämpfung dieser großen Volkskrankheiten sei ein „großes Ziel“.

Dabei sind Menschen in Deutschland weit von den Empfehlungen der WHO entfernt: Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sollten sich Kinder täglich mindestens eine Stunde intensiv, also schweißtreibend, bewegen, Erwachsene drei bis vier Stunden in der Woche. In der Realität aber bewegen sich neun von zehn Jugendlichen weniger als empfohlen.

Bewegung auf Rezept und eine Hoffnung

Präventionsexpertin Andrea Schaller von der Sporthochschule Köln hofft, dass die Pandemie dieses Problem in den Mittelpunkt rückt. „Nach der Erstversorgung der Corona-Patienten muss nun dringend eines der größten gesundheitlichen Probleme beachtet werden: Die Kollateralschäden durch unseren immobilen Lebensstil.“ Die meisten Menschen und Regierungen unterschätzten, wie sehr Sport die Gesundheit verbessern könnte, sagt Schaller. In den vergangenen Jahren habe sich die Fitness nicht verbessert, obwohl Bewegung seit 2006 Teil der nationalen Gesundheitsziele, und sie auch im Präventionsgesetz verankert sei. „Trotz aller Programme werden wir immer inaktiver – daher muss sich nun auch die Strategie ändern.“

ES GEHT AUCH ANDERS!

Lösungsvorschläge

Rund 40 Prozent der Deutschen gehören zu Risikopatienten. Wir haben Lösungen, diese Zahl zu verringern:

➔ eine Stunde Schulsport am Tag
➔ hohe Steuern auf zuckerhaltige/fettreiche Lebensmittel
➔ Städte bewegungsfreundlich umbauen: Radfahrer und Fußgänger bevorzugen, Rolltreppen abbauen
➔ Ärztinnen und Ärzte sollten künftig Sport verschreiben können

 

Schaller schlägt vor, Bewegung im Alltag zu verankern: Arbeitnehmern Sportkurse in der Mittagspause anzubieten. Die Städte so zu verändern, dass die Menschen leichter mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen, als mit dem Auto. Und noch ein wichtiger Punkt müsste sich ändern: Ärztinnen und Ärzte müssten schon in ihrer Ausbildung lernen, Bewegung zu verschreiben. „Wir brauchen Sport auf Rezept. Das funktioniert etwa in Neuseeland.“ Dann stünde etwa auf dem Rezept: „Gegen meinen Bluthochdruck: viermal in der Woche joggen.“ Bislang aber würden die Ärzte nicht dafür bezahlt, zu beraten, sondern zu untersuchen und Medikamente zu verschreiben. „Dabei sind sie für viele Menschen eine Autorität und könnten das Verhalten ändern.“

Das Sport-Rezept bringe auch das positive Gefühl, als Kranker selbst etwas ändern zu können, nicht ausgeliefert zu sein. „Bislang ist es aber so: Die Gesunden machen Sport, die Kranken nicht. Dabei müsste es genau anders sein: je kränker ich bin, desto wichtiger ist die Bewegung, etwa auch in Altenheimen.“ Aber gerade Senioren litten in der Corona-Zeit unter Bewegungsmangel, weil etwa ihre Physiotherapeuten nicht mehr zu ihnen können. „Dabei hat das einen direkten Einfluss auf ihre Mortalität: Diese Menschen kommen nicht mehr auf die Füße, wenn sie sich drei Wochen nicht bewegen.“

Mediziner Windeler vom IQWIG sieht dennoch eine positive Lehre aus Corona: „Diese Pandemie hat uns allen klargemacht, was politisch beschlossen werden kann, wenn Dinge wirklich für dringlich gehalten werden.“ Es bleibt die Hoffnung, dass die Politik nach dieser Epidemie die Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung ernst nimmt. Und beispielsweise die Lobbymauer der Zuckerindustrie durchbricht.