Antibiotika-Resistenzen – ein Überblick
Ist es nötig, dass Europas Schlachtvieh mehr Antibiotika bekommt als Europas Menschen? Warum gibt es so viele Resistenzen in Südeuropa? Bricht ein post-antibiotisches Zeitalter an, in dem wir wieder an einem kleinen Schnitt sterben können? Die wichtigsten Fragen zum Thema
Im Mai 1944 prangt der schottische Bakteriologe Alexander Fleming auf der Titelseite des amerikanischen „Time“-Magazins. Die Titelzeile: „Sein Penicillin wird mehr Menschen retten als der Krieg vernichten kann.“ Fleming ist ein Star jener Zeit. Ein Jahr später, im Dezember 1945, erhält er in Stockholm den Medizin-Nobelpreis – für seine Rolle bei der Entdeckung der Antibiotika.
Doch Fleming ist weit davon entfernt, den Durchbruch zu bejubeln. Seine Preisrede ist nachdenklich. Er spricht von den Gefahren, die drohen, sollten Bakterien resistent werden gegen Antibiotika. „Die Zeit kann kommen“, sagt er, „in der jeder Penicillin im Geschäft kaufen kann“. In der ein Mann einen resistenten Keim in sich heranzüchte und damit seine Gattin anstecke – die daran sterbe.
Seit Flemings Rede sind fast auf den Tag genau 70 Jahre vergangen. Seine Vorahnungen haben sich als prophetisch erwiesen: Die Gefahren, die der Menschheit durch resistente Keime drohen, nehmen zu. Inzwischen erhält das Thema große Aufmerksamkeit. Es gibt einen European Antibiotic Awareness Day und eine World Antibiotic Awareness Week. Selbst Angela Merkel und Barack Obama diskutierten dieses Jahr beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau über resistente Keime.
Manche Experten beschwören bereits Verhältnisse wie im Mittelalter herauf: Dass schon bald mehr Menschen an resistenten Keimen sterben werden als an Krebs, bis zu zehn Millionen pro Jahr. Weil gegen tödliche Keime nichts mehr helfe, kein Antibiotikum, nichts. Gewiss: Solch düstere Prognosen sind mit Vorsicht zu genießen, basieren sie doch auf einer dünnen Faktenbasis.
Dennoch: Die Zahl resistenter Keime nimmt weltweit zu. Und es wird immer schwieriger, neue, wirksame Antibiotika zu entwickeln. Paradoxerweise hat auch der Erfolg der Antibiotika sie selbst unrentabel gemacht – heute sind Infektionen durch sie in vielen Ländern deutlich seltener geworden. Viele Pharmafirmen scheuen die großen Forschungsinvestitionen – auch, weil sie vielleicht ein Arzneimittel entwickeln, das ein eingebautes Verfallsdatum hat, weil der attackierte Keim sich wieder ändert und dann auch das neue Antibiotikum unwirksam ist.
Steuern wir also tatsächlich auf eine Zeit zu, in der kein Antibiotikum mehr wirkt, in der wir an entzündeten Zähnen sterben? An einem Schnitt mit dem Küchenmesser?
Infektionen haben viele Ursachen
So einfach ist es nicht. Nicht alle Bakterien entwickeln Resistenzen. Und resistente Erreger seien nicht per se gefährlicher als ihre nicht-resistenten Artgenossen, sagt Gerd Fätkenheuer, Infektionsforscher an der Uni Köln. Wie das berüchtigte MRSA, dessen nicht-resistenter Cousin MSSA genauso gefährlich sei. Beide Keime ließen sich ähnlich gut behandeln. Überhaupt zieht Fätkenheuer ein insgesamt positives Fazit aus den vergangenen Jahren: „Wir hatten früher weniger und schlechtere Medikamente zur Behandlung. Das hat sich geändert.“
Der britische Infektionsforscher Hugh Pennington weist in seinem neuen Buch „Have Bacteria Won?“ darauf hin, dass es keineswegs die Antibiotika allein waren, die einst die Zahl der Infektionen drastisch reduzierten. Eine ebenso große Rolle habe die immer bessere Ernährung gespielt, die immer bessere Hygiene und ein saubereres Trinkwasser. Infektionen seien bereits vor der Einführung von Antibiotika auf dem Rückzug gewesen, so Pennington, einer der prominentesten Bakteriologen Großbritanniens, der viele Infektionsausbrüche untersucht und bekämpft hat. Er räumt auch mit dem Mythos auf, ohne Antibiotika wäre jede Operation lebensgefährlich. Das sei „Panikmache“, die auf verzerrten Prognosen beruhe.
Was wir wissen
International sammeln verschiedene Initiativen Daten zur Resistenz. Sie werden etwa organisiert von der WHO und in Europa von dem „European Antimicrobial Resistance Surveillance Network“. Das umfasst alle EU-Länder, Norwegen sowie Island und überwacht acht Keime. Auch Länder, die davon nicht erfasst werden, bekommen jetzt ein ähnliches System: „Central Asian and Eastern European Surveillance of Antimicrobial Resistance“. Ein anderes Netzwerk sammelt Daten über Keime, die auf Lebensmitteln übertragen werden.
Die europäische Verbreitung in Krankenhäusern der laut WHO wichtigsten resistenten Bakterien haben wir hier in Karten dargestellt. Ohne zu wissen, wie verbreitet einzelne resistente Keime sind, kann man weder die Ursachen der Resistenz erforschen, noch wissen, welche Maßnahmen dagegen wirken.
Verteilung der Resistenz
Wie häufig es in Europa resistente Bakterien gibt, unterscheidet sich stark von Land zu Land und von Keim zu Keim. Trends lassen sich schwer erklären. So geht etwa das berüchtigte MRSA in Deutschland und Europa seit Jahren zurück. Eine Erklärung dafür gibt es nicht. Dagegen nimmt die Resistenz bei den Krankenhauskeimen Escherichia coli und Klebsiella pneumoniae zu. Das bereitet den Behörden Sorgen.
Ebenfalls ungeklärt: Warum gibt es in Südeuropa mehr Resistenzen als im Norden des Kontinents? Einer der Gründe ist vermutlich der weniger strenge Umgang mit Antibiotika dort. In Griechenland zum Beispiel kann sich jede und jeder Antibiotika in der Apotheke kaufen, ohne Rezept. Je sorgloser Antibiotika eingesetzt werden, desto stärker können sich die Bakterien anpassen.
Schlechte Datenlage
Die Klarheit dieser Karten ist verführerisch, doch das täuscht. Die Daten sind unvollständig: Sie werden auf freiwilliger Basis erhoben. Es gibt große Unterschiede, wie viele Krankenhäuser in den einzelnen Ländern dabei sind. Das kann zu Verzerrungen führen, wenn etwa in kleinen Ländern vor allem Unikliniken mitmachen, die für die schwereren Fälle verantwortlich sind – und deshalb vermutlich mehr Patienten mit resistenten Bakterien behandeln.
Zudem sind die Daten räumlich nur grob aufgelöst. Wie viele Resistenzen es in einzelnen Regionen gibt, in Städten oder gar in jedem einzelnen Krankenhaus, ist öffentlich kaum bekannt. Dass die Datenlage selbst im reichen Europa so schlecht ist, gibt zu denken.
Verbrauch bei Mensch und Tier
Wie viele Antibiotika werden eingesetzt bei Menschen und bei Tieren? Die Datenlage ist ähnlich dünn wie bei der Verbreitung der Keime – es gibt kaum detaillierte Angaben. Oft werden Zahlen nur freiwillig mitgeteilt. Dabei ist der Verbrauch von Antibiotika äußerst wichtig, um Resistenzen zu verstehen – und zu bekämpfen. Anfang 2015 hat die Europäische Kommission deshalb einen umfassenden Bericht veröffentlicht, der den Antibiotikaverbrauch bei Mensch und Tier verglichen hat.
Der Bericht geht zum ersten Mal systematisch der Frage nach, wie wichtig der Faktor Tier für die menschliche Resistenz in Europa ist. Das Ergebnis: Die Untersuchung fand einen Zusammenhang zwischen dem Verbrauch einiger Antibiotika in der Tierzucht und dem Vorkommen von gegen sie resistente Bakterien beim Menschen. Die genaue Wirkweise und die Relevanz für die menschliche Gesundheit haben die Forscher bisher allerdings noch nicht entschlüsselt.
Antibiotika in der Tiermast
Der Masseneinsatz von Antibiotika in der Tierzucht ist gesellschaftlich höchst kontrovers. So werden Antibiotika zum Teil zur Mästung genutzt. Denn die Arzneimittel haben in niedriger Dosis die rätselhafte Wirkung, bei Tieren und wohl auch bei Menschen das Gewicht zu erhöhen. Anders als etwa in den USA ist der Einsatz zur Mästung in der EU mittlerweile verboten, findet aber unter dem Mantel der Krankheitsprävention offenbar weiterhin statt. Zudem verdienen Tierärzte zum Beispiel in Deutschland am Verkauf der Arzneimittel mit. Sie sind Apotheker und Arzt zugleich. Sogenannte Reisetierärzte machen oft einen Großteil ihres Umsatzes über den Verkauf der Antibiotika. Derartige Fehlanreize sind Mitschuld an am lockeren Einsatz von Antibiotika in deutschen Ställen.
In der EU bekommen dem Bericht zufolge Tiere mehr Antibiotika als Menschen. Pro Kilogramm Körpergewicht und Jahr bekamen Tiere zuletzt im Schnitt 144 Milligramm Antibiotika, beim Menschen waren es 116 Milligramm. Dabei gab es starke Unterschiede zwischen einzelnen Staaten: In 15 EU-Ländern war der Antibiotikaverbrauch bei Tieren niedriger als bei Menschen, in drei Ländern ähnlich hoch, in acht Ländern war der Verbrauch bei Tieren höher als bei Menschen.
Besonders viele Antibiotika bei Tieren verbrauchen Deutschland, Italien und Spanien mit jeweils mehr als 1500 Tonnen im Jahr. Auch im Vergleich mit der Masse an produziertem Fleisch sind diese Länder Spitzenreiter, ergänzt um Frankreich und Zypern. Auch solche Antibiotika, die für Menschen besonders wichtig sind, wurden bei Tieren häufig eingesetzt. Der Pro-Kopf-Einsatz von Antibiotika bei Menschen war in Frankreich und Italien am höchsten.
Sogar diese EU-Daten haben Schwächen: Die Forscher haben verschiedenste Antibiotika zusammengefasst, bei manchen Ländern haben sie den Verbrauch aus Krankenhäusern nicht berücksichtigt, zudem waren Daten für verschiedene Tierarten nicht einzeln verfügbar. Und auch hier gibt es ein Transparenzproblem: Die Öffentlichkeit weiß nicht, welcher Tierfabrikant besonders viele Antibiotika verbraucht, wer also besonders viele Resistenzen provoziert.
Resistenzen bekämpfen
Sich ein klares Bild über das Ausmaß resistenter Keime zu machen, ist schon schwer – noch schwerer sind Empfehlungen, wie man Resistenzen verhindern kann, wie man die Ausbreitung der gefährlichen Keime eindämmen kann. Mehr Pflegepersonal, das sich um Infektionen kümmert, ist teuer. Patienten mit Verdacht auf Resistenz sofort zu isolieren, ist aufwändig und kann den Patienten schaden, weil ihre medizinische Versorgung schwieriger wird.
Eines ist jedoch klar: Je weniger Antibiotika wir benutzen, desto länger bewahren sie ihre Wirksamkeit. Das ist wissenschaftlich gut belegt. Und oft ist die Resistenz auch umkehrbar, wenn ein Arzneimittel wieder seltener eingesetzt wird. Treffen Bakterien seltener auf einen Wirkstoff, lohnt es sich für sie nicht, sich gegen den Wirkstoff zu wehren. Die Resistenz-Gene gehen zurück.
Deshalb sollte der Einsatz der Antibiotika bedacht werden. Doch zwischen Vorsatz und Realität klafft eine gewaltige Lücke, vor allem bei der Bevölkerung selbst. Trotz aller Kampagnen und Mahnungen denkt etwa jeder zweite Europäer, dass Antibiotika auch bei Grippe und Erkältung helfen, und will womöglich damit behandelt werden. Doch Grippe und Erkältung werden in den allermeisten Fällen durch Viren verursacht. Und dagegen sind Antibiotika vollkommen nutzlos.
Du erreichst unseren Reporter Hristio Boytchev per E-Mail: hristio.boytchev@correctiv.org
Titelfoto: Ivo Mayr