Bringt die Bundestagswahl eine neue Ära der Autokraten?
Die Autokraten der Welt schauen gespannt auf den Wahlsonntag. Die Machtverhältnisse im Land könnten sich zu ihren Gunsten verschieben. Was passiert (schlimmstenfalls) mit welcher Partei? CORRECTIV.Exile wagt auf Basis der Wahlprogramme ein Gedankenspiel.
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Der deutsche Winter könnte nach den Bundestagswahlen noch kälter werden, da die Regierung der kommenden Jahre möglicherweise nicht so demokratisch sein wird wie die der vergangenen Zeiten. Die Autokraten der Welt schauen gespannt auf den deutschen Wahlsonntag, denn mit einer neuen Regierung in Berlin könnte sich das Machtverhältnis zwischen Demokratie und Autoritarismus erneut verschieben. Wie werden Russlands Präsident Wladimir Putin, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und andere Despoten auf die angekündigte Außenpolitik Deutschlands reagieren?
Was würde es eigentlich bedeuten, wenn jedes gedruckte Wort der Wahlprogramme umgesetzt würde und die einzelnen Parteien ihre Außenpolitik im Alleingang – ohne Koalitionskompromisse – gestalten könnten? Und mit wem würden Erdoğan und Putin am liebsten am runden Tisch auf einen Tee zusammenkommen?
Wir von CORRECTIV.Exile haben die Wahlprogramme der sieben größten Parteien beim Wort genommen und Zukunftsszenarien entworfen. Dabei gehen wir an der ein oder anderen Stelle sicher über das hinaus, was uns aktuell als politisch mögliche Realität erscheint – aber manchmal muss man provokant sein und auch das Unwahrscheinliche prüfen.
Also bitte setzt euch, macht es euch gemütlich, auf das Schlimmste gefasst und lest unseren Blick auf sieben Zukunftsszenarien, abhängig davon, wer die Zügel der einflussreichsten Demokratie Europas in den Händen hält.
Szenario 1: SPD – Ein gemächlicher Kampf gegen Autokratien
Falls die SPD gewinnt, würde Bundeskanzler Olaf Scholz sich – laut Parteiprogramm – für ein starkes Bekenntnis zur Demokratie einsetzen und zeitgleich eine vorsichtige, aber entschlossene Haltung gegenüber zunehmenden autoritären Einflüssen bewahren. Deutschland würde seine Unterstützung für die Ukraine bekräftigen und gleichzeitig konfrontative Aussagen gegenüber Moskau vermeiden. Diplomatische Bemühungen durch internationale Zusammenschlüsse wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) würden unterstützt, mit dem Ziel eines strategischen Dialogs anstelle von internationalen Feindseligkeiten.
Für Wladimir Putin könnte dieses Ergebnis ein leises Aufatmen bedeuten; Deutschland bliebe ihm gegenüber eine kritische Stimme, würde jedoch aggressive Abschreckungsmaßnahmen weiterhin ablehnen. Unterdessen könnte Erdoğan von Deutschlands Haltung profitieren, indem er seine Repressionen gegen die Opposition in der Türkei sowie hier in Deutschland verstärkt und keine starke Reaktion seitens Deutschland darauf zu erwarten hätte. Andere autoritäre Regime könnten diese deutsche diplomatische Haltung ausnutzen, indem sie wirtschaftliche Angebote bieten und gleichzeitig still und leise etablierte demokratische Werte untergraben.
“Die Türkei ist in der deutschen Politik und in den Medien seit einiger Zeit kein Thema mehr. Dieses Desinteresse zeigt sich auch in den Parteiprogrammen. Die SPD betonte 2017 in ihrem Programm noch die Bedeutung des Verhandlungsprozesses für eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU, aber das diesjährige Programm umfasst Brasilien, Südafrika und Indonesien, aber nicht mehr die Türkei.”
Can Dündar
Correctiv.Exile, Editor-in-Chief ÖZGÜRÜZ
Szenario 2: CDU/CSU – Der „Festung Europa“-Ansatz
Einen deutlichen Kurswechsel würde der Sieg der CDU und der bayerischen CSU bedeuten. Die CDU/CSU würden außenpolitische Sicherheit, militärische Bereitschaft und das Streben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit auch von autoritären Staaten priorisieren. Die rhetorische Verurteilung Russlands würde zunehmen und eine engere Zusammenarbeit mit der NATO und der EU gefördert werden. Wie genau das aussehen würde, bleibt ungeklärt.
In diesem Szenario würde Putin in Deutschland nicht mehr den zögerlichen Europäer sehen; stattdessen würde Berlin versuchen, sich als mächtige Kraft im europäischen Widerstand gegen Moskau zu positionieren. Die Auswirkungen würden sich langsam in ganz Europa ausbreiten, wobei die verstärkte militärische Unterstützung für die Ukraine Russland dazu veranlassen würde, Deutschland als fokussiertes Ziel hybrider Kriegsführungstaktiken anzuvisieren. Erdoğan, isolierter als zuvor, würde mit Blick auf eine mögliche Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit strengen Warnungen konfrontiert: keine Gespräche ohne demokratische Reformen. Letztlich würde Erdogan vermutlich eher mit noch stärkeren Repressionen gegen innere Gegner reagieren, was die diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Berlin weiter verschlechtern würde.
Der Exiljournalist Sergey Lukashevkiy ist von der Ernsthaftigkeit des Wahlprogramms nicht überzeugt:
„Das CDU-Programm betont deutlich die europäische Sicherheit und Verteidigung. Und es stimmt: Nur ein Clash mit einer realen Macht und dem Risiko, einen neuen Kalten Krieg zu verlieren, kann das russische Regime dazu zwingen, eine neue Politik der „friedlichen Koexistenz“ zu verfolgen. Bei der CDU ist der Mangel an konkreten Aussagen und die fehlende Anerkennung eines grundlegenden Paradigmenwechsels innerhalb der Außenpolitik („Zeitenwende“) alarmierend. Gerade für eine Partei, die kurz davor steht, Wahlen zu gewinnen und eine Regierung zu bilden.”
Sergey Lukashevskiy
Correctiv.Exile, Editor-in-Chief Radio Sacharow
Szenario 3: Die Grünen – Fokus Demokratie
Eine Mehrheit der Grünen könnte einen transformierenden Ansatz einleiten, der tief in der deutlichen Haltung gegen Autokratie verwurzelt ist. Diese Regierung würde den Kampf für Demokratie mit Themen wie Klimagerechtigkeit und dem Schutz der Menschenrechte verknüpfen. Sie würde Russland nicht nur als europäische Bedrohung, sondern als globale Herausforderung betrachten und somit Fokus auf die Unterstützung von Dissidenten und im Exil lebenden Aktivisten legen, die in autokratischen Staaten Verfolgung erfahren mussten.
Für Putin würde diese Entwicklung bedeuten, dass er in kürzester Zeit seine Verteidigungsstrategien stärken muss, um sich gegen ein kompromissloses deutsches Kontrollauge abzusichern. Deutschland würde seine Cyber-Abwehr stärken und europäische Bemühungen koordinieren, um die Abhängigkeit von russischer Energie zu verringern.
Erdoğan wiederum würde einem Berlin gegenüberstehen, das die türkische Zivilgesellschaft lautstark unterstützt und offen Ressourcen in oppositionelle Medien investiert. Dies würde die bilaterale Spannung auf einen Höhepunkt treiben, während die nationalistische Rhetorik in der Türkei dramatisch zunimmt.
“Die Grünen verfolgen den realistischsten Ansatz: Sie unterstützen die Türkei weiterhin als „potenzielles EU-Mitglied“, knüpfen dies jedoch direkt an eine Kursänderung in Bezug auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz von Minderheiten. Noch wichtiger ist, dass sie eine alternative Politik anbieten, die verspricht, die Zivilgesellschaft des Landes als Gegengewicht zu Erdoğan’s zunehmend autoritärer Herrschaft zu unterstützen. Es ist viel sinnvoller, das repressive Regime in Ankara durch Solidarität zu schwächen, als es aus der Ferne zu beobachten oder zu verurteilen.”
Can Dündar
Correctiv.Exile, Editor-in-Chief ÖZGÜRÜZ
Szenario 4: AfD – Ein Schlag gegen die Demokratie
Die Vorstellung einer Regierung der AfD ist nicht nur innenpolitisch besorgniserregend für die Zukunft der Demokratie. Eine alleinige AfD-Regierung würde den politischen Diskurs in Richtung Nationalismus und Souveränität verschieben und Demokratie zugunsten praktischer, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Interessen mit leeren Worten in den Hintergrund verlagern. Deutschland würde weiterhin in der NATO bleiben, jedoch nur so lange, bis sich ein europäisches Militärbündnis ergeben würde.
Für Putin würde eine AfD-Mehrheit eine verlockende Gelegenheit darstellen, die Beziehungen zu Berlin zu stärken und Verbindungen zu fördern, die das Engagement Deutschlands zur Unterstützung der Ukraine verringern.
Erdoğan hingegen würde diesen Wandel als eine Chance für engere Beziehungen wahrnehmen – hauptsächlich aufgrund der Anti-Immigrations- und nationalistischen Einstellungen der AfD, die mit seinen eigenen Zielen übereinstimmen. Durch diese Neuausrichtung der Allianzen würden weitere autokratische Regime Deutschlands innenpolitische Entwicklung als Abkehr von demokratischen Grundwerten interpretieren, was den deutschen Weg für einen autoritären Einfluss in Europa ebnen würde.
„Die AfD versucht, ein Beispiel des nationalen Egoismus und Pragmatismus zu demonstrieren. Das „einzige Problem” ist allerdings, dass weder die amerikanische Regierung noch Putin bei der Umsetzung dieser Ideen mitspielen wird. Ein AfD-Deutschland wird dazu gezwungen sein, zwischen mächtigeren Akteuren zu manövrieren, indem es sich ihnen beugt und nicht die nationalen Interessen schützt, für die die Partei scheinbar eintritt. Für Putin wird dies natürlich die Erfüllung seines Traums von einer „gerechten Rolle“ für Russland in Europa sein.”
Sergey Lukashevskiy
Correctiv.Exile, Editor-in-Chief Radio Sacharow
Szenario 5: FDP – Der strategische Business-Ansatz
Gehen wir davon aus, dass die FDP die Führung übernimmt, würde sich die politische Landschaft erneut drastisch verändern und einen strategischen Ansatz priorisieren, der den Wettbewerb zwischen liberalen Demokratien und autokratischen Regimen betont. Während die Unterstützung für die NATO und die Ukraine beibehalten wird, würde sich die FDP auf Tech-Investitionen und die Resilienz Deutschlands im Angesicht von Cyber-Bedrohungen konzentrieren. Dieser technische Fokus würde Russlands Vertrauen in seine Cyberoperationen hinterfragen. Gleichzeitig würde der zögerliche Ansatz hinsichtlich militärischer Einsätze, Putin bestärken, seine territorialen Angriffskriege fortzuführen. Die FDP spricht sich für einen Beitritt der Ukraine in die EU und NATO aus und will als handlungsfähiges Mitglied die EU- und NATO-Bemühungen stärker verzahnen. Erdoğans Einfluss innerhalb Deutschlands könnte dagegen schwinden, da die FDP bestrebt wäre, extremistische Netzwerke zu bekämpfen, was diplomatische Auseinandersetzungen mit Ankara zur Folge hätte.
Szenario 6: BSW – Der Rückzug von der Weltbühne
Wenn das BSW als stärkste Kraft aus den Wahlen am 23. Februar hervorgeht, würde sich Deutschland voraussichtlich einer Nicht-Interventionspolitik zuwenden. Der Fokus würde dann auf Friedensverhandlungen liegen, die militärische Unterstützung für die Ukraine würde verringert bis eingestellt werden. Dieser Ansatz würde Deutschland von der NATO distanzieren und westliche Interventionen als die Ursache von globalen Konflikten darstellen.
Für Putin wäre ein solches Ergebnis vorteilhaft; ohne die militärische Unterstützung Deutschlands könnte Russland seine Position in der Ukraine stärken und seine Narrative gegen die westliche Politik weiter ausbauen. So könnte Moskau seinen Einfluss in Osteuropa festigen, ohne störende Interventionen seitens Deutschlands.
Erdoğan in der Türkei würde ebenfalls von einer BSW-Regierung profitieren. Berlins Zögern, autoritäre Praktiken zu kritisieren, würde ihn ermutigen und ermöglichen, abweichende Meinungen noch effektiver zu unterdrücken, ohne Reaktionen aus Deutschland zu befürchten. So könnte er seine Kontrolle über oppositionelle Stimmen im Inland weiter festigen. Die Vorstellung von Deutschland als globalem Förderer von Demokratie und Menschenrechte würde unter dem BSW zunehmend verschwinden. So könnte ein Machtvakuum entstehen, das autoritäre Regime ermutigen und demokratische Initiativen weltweit untergraben würde.
Szenario 7: Die Linke – zurückhaltender Antiimperialismus
Im Gegensatz dazu bringt die Aussicht auf eine von der Linkspartei (Die Linke) geführte Regierung eine anti-imperialistische Philosophie mit sich, die eine Neubewertung militärischer Beteiligung auf der globalen Bühne fordert. Indem sie sich für weltweiten Frieden einsetzt und militärische Interventionen verurteilt, würde Die Linke einen NATO-Austritt anstreben und auf eine Außenpolitik der internationalen Kooperation setzten, während sie gleichzeitig Putins Handlungen in der Ukraine verurteilt.
Ihr Aufstieg könnte eine Abkehr von der militärgetriebenen deutschen Politik implizieren, die das Land zu einem lautstarken, rhetorischen Kritiker russischer Aggression macht, aber trotzdem seine aktive Rolle in der kollektiven Verteidigungsstrategie der NATO schwächen würde. Erdoğan würde sich erneut intensiverer Überprüfung ausgesetzt sehen, da Die Linke sich für die Unterstützung der kurdischen Rechte einsetzt und ein Waffenembargo gegen die Türkei fordert. Dieser politische Schwenk könnte einen Keil in die deutsch-türkischen Beziehungen treiben, die Spannungen erhöhen und eine feindselige diplomatische Atmosphäre fördern.
So könnte es also aussehen – oder eben auch nicht, da wir keine Ein-Parteien-Regierung erwarten. Ein Einblick in die idealistischen parteipolitischen Maßnahmen der Außenpolitik ist es allemal und was dann wirklich umgesetzt wird und wie die Autokraten dieser Welt auf Deutschland blicken werden, wird sich wohl in den nächsten vier Jahren zeigen.
Was wir jedoch tun können, ist euch potenziellen Koalitionsszenarien, die diese Entwicklungen konkret gestalten könnten zu beschreiben. Diese Szenarien verdeutlichen, wie unterschiedliche Regierungsbildungen sich auf die außenpolitischen Strategien auswirken und wie sie so möglicherweise die Balance zwischen der Verteidigung demokratischer Werte und der notwendigen diplomatischen Zusammenarbeit beeinflussen werden. Und auch hier gilt: Dies ist, wie der gesamte Text, ein Gedankenspiel, das dazu einlädt, verschiedene Perspektiven zu erdenken und mögliche Zukünfte zu erspinnen.
Koalitions-Szenarien: Verbündete, Feinde und die Grauzone
- Das Autokratische Ideal: AfD + BSW + Die Linke → Deutschland kehrt sich der Innenpolitik zu, reduziert militärischen Verpflichtungen, schränkt die demokratische Unterstützung im Ausland ein und setzt „pragmatische“ Beziehungen zu autoritären Staaten in den Vordergrund, während es eine Anti-NATO-Haltung einnimmt.
- Der Autokratische Alptraum: CDU-CSU + Die Grünen + FDP → Eine Regierung, die autoritären Regimen aggressiv entgegentritt, die europäische Verteidigung stärkt, harte Sanktionen verhängt und aktiv oppositionelle Bewegungen in autoritären Staaten finanziert.
- Die Grauzone: SPD + FDP → Ein Mix aus diplomatischem Engagement und außenpolitischen Sicherheitsstrategien, die autoritäre Regime verurteilen, während gleichzeitig ein gewisser Grad an wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Verhandlung aufrechterhalten wird.
- Der strategisch pragmatische Weg: SPD + CDU-CSU → Eine starke, aber pragmatische Koalition, die versucht Diplomatie mit klaren Sicherheitsmaßnahmen in Einklang zu bringen, dabei wirtschaftliche Resilienz sicherstellt und gleichzeitig eine rhetorisch Haltung gegen autoritäre Bedrohungen beibehält.
- Die Neuausrichtung: CDU-CSU + SPD + BSW → Eine Regierung, die Stabilität und europäische Sicherheit betont, aber einen diplomatischen Ansatz gegenüber Russland verfolgt, sich auf Deeskalation konzentriert und eine protektionistische Wirtschaftspolitik einführt, während sie Interventionen in ausländische Konflikte einstellen.
Redigatur: Anette Dowideit
Grafiken: Viera Zuborova
Kommunikation und Social Media: Katharina Roche