Gesundheit

Hitze in Deutschland: Mindestens neun Millionen Menschen gefährdet

Hohe Temperaturen sind für alleinstehende Ältere und Personen mit Behinderungen lebensbedrohlich – aber weder Bundesregierung noch Städte und Landräte kümmern sich um sie. Dabei zählen in Deutschland nach CORRECTIV-Recherchen rund neun Millionen Personen zu diesen Risikogruppen.

von Annika Joeres , Katarina Huth , Gesa Steeger

Hitze
Mehr als 9 Millionen Menschen in Deutschland benötigen Schutz vor hohen Temperaturen (Foto: Jeremy Bezanger / unsplash.com)

Ältere und geschwächte Personen in Bordeaux, Toulouse oder Paris werden in diesen heißen Tagen sehr umsorgt: Mitarbeitende des Sozialen Dienstes rufen sie täglich an, stellen Ventilatoren in ihren Wohnungen auf, reichen Flüssigkeit. Frankreich hat für Hitzewellen wie die aktuelle schon lange vorgesorgt. Über 65-Jährige, die alleine leben und Menschen mit Behinderungen und Erwerbsunfähige können sich in ihrer Stadt registrieren lassen. Sobald die rote Alarmstufe „Hitzewelle“ gilt, erkundigt sich der Soziale Dienst nach ihrem Wohlbefinden und benachrichtigt sogar die Feuerwehr, sollte die Person nicht zu erreichen sein. „Die Menschen sind uns sehr dankbar“, sagt Marie-Alice Bayle-Dufetelle, Chefin der Gesundheitsbehörde von Frankreichs drittgrößter Stadt Lyon. „Manchmal können wir Leben retten, indem wir unseren schwächeren Mitmenschen ein Glas Wasser reichen.“ 

Die französische Regierung hat schon vor knapp zwanzig Jahren nach einer tödlichen Hitzewelle alle Kommunen verpflichtet, ein solches Register für Schutzbedürftige zu führen. In Deutschland hingegen werden Millionen ältere und vorerkrankte Menschen bislang bei Hitze kaum öffentlich versorgt – obwohl viele darauf angewiesen wären: Nach Recherchen von CORRECTIV beläuft sich die Zahl der Personen, deren Gesundheit bei andauernd hohen Temperaturen potentiell gefährdet ist, auf 8,9 Millionen. 

Vermutlich sind es sogar mehr. Denn für diese Erhebung hat CORRECTIV die Daten schwerbehinderter Menschen zwischen 18 und 65 Jahren (Stand: 2021) und allein lebenden Menschen über 65 Jahren (Stand: 2020) ausgewertet. Die Daten stammen vom Statistischen Bundesamt. Doch diese rund neun Millionen Menschen sind längst nicht die einzigen Betroffenen, die in Frankreichs Schutzregister landen würden. Darin registriert sind auch erwerbsunfähige Menschen, zu denen in Deutschland allerdings verlässliche Zahlen fehlen. Denn die Bundesregierung hat weder ein Register noch eine Ahnung davon, wie viele Menschen durch Hitze gefährdet sind. Auf Anfrage teilte das Bundesgesundheitsministerium mit, Daten zu den Risikogruppen seien nicht verfügbar. Es ist also bislang offiziell nicht nachvollziehbar, wie viele Menschen in Deutschland aktuell vor Hitze geschützt werden müssten.

Bundesgesundheitsministerium hat keinen Plan für Hitzeschutz

Zwar rief Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am 9.Juli auf Twitter dazu auf, „ältere und kranke Menschen vor der Mega Hitzewelle zu schützen” und warnte vor vielen Todesopfern durch die Hitze. Doch das Lauterbach-Ministerium teilte mit, dass „bundesgesetzliche Vorgaben” nicht geplant seien. Also wird es in Deutschland erst einmal kein Register für potentielle Hitzeopfer geben – das Ministerium schiebt die Verantwortung von sich. Es sei in Deutschland Aufgabe der Länder und Kommunen, regional angepasste Hitzeaktionspläne zu entwickeln. Auf diese aber warten die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wohl vergeblich: Zeit Online hatte kürzlich aufgedeckt, dass nur jeder fünfte Landkreis über ein Konzept verfügt, wie besonders gefährdete Menschen vor den tödlichen Folgen steigender Temperaturen geschützt werden könnten. 

Nur in einem Bruchteil der Behörden scheint überhaupt angekommen zu sein, dass der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Hitzewellen zu ihren Aufgaben zählt. Rund 80 Prozent der 299 Landkreise, die auf die Fragen von Zeit Online antworteten, haben kein Hitzeschutzkonzept oder einen Hitzeaktionsplan entwickelt – obwohl Bund und Länder ihnen das vor mehr als fünf Jahren nahegelegt hatten. Neunzig Prozent der Verwaltungen, die geantwortet haben, konnten nicht einmal beziffern, wie viele Menschen in ihrer Region an extrem heißen Tagen in Gefahr geraten.

„Die Hitze ist ein stiller Killer“, sagt Alexandra Schneider. Sie forscht am Helmholtz-Zentrum München. Dennoch würden die Warnsysteme für Hitze in Deutschland noch gar nicht funktionieren, viele Menschen wüssten nicht einmal, dass es welche gäbe. Dabei sei die Hitze ein Problem, das für alle immer größer werde. „Die Menschen werden immer älter, somit steigt auch der Prozentsatz der besonders gefährdeten Personen stetig an“, sagt die Wissenschaftlerin. Schon jetzt registriert Deutschland zunehmend hitzebedingte Todesfälle. Auch, weil viele Menschen offenbar nicht ausreichend informiert sind, wie sie sich schützen können. Etwa durch helle Kleidung, das Verweilen im Schatten oder gekühlten Räumen und regelmäßiges Trinken.

Je heißer es wird, desto mehr Menschen landen im Krankenhaus

„Trotz Hinweisen auf eine gewisse Anpassung an Hitze zeigen besonders die Jahre 2018–2020, dass Hitzeereignisse nach wie vor eine bedeutende Bedrohung für die Gesundheit der Menschen in Deutschland darstellen,“ schreiben Forschende des Robert Koch-Instituts und des Deutschen Wetterdienstes (DWD) in einer Studie. Demnach sind zwischen 2018 und 2020 rund 19.000 Menschen hitzebedingt verstorben. Viele weitere haben große gesundheitliche Probleme. So liegen die hitzebedingten Krankenhauseinweisungen je Million AOK-Versicherte über 65 Jahre im Jahr 2018 in Deutschland durchschnittlich bei 488. Das geht aus Daten des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change  (MCC) hervor. Und das sind nur diejenigen, die als solche geführt werden – Alexandra Schneider hebt hervor, dass die meisten Hitzetoten und Hitzefolgen noch immer von Ärzten nicht erkannt werden.

Hitze in Deutschland: Kooperation mit zahlreichen Medienhäusern

Diese Recherche ist Teil einer Berichterstattung zur steigenden Hitze und gesundheitliche Folgen. Über unser Netzwerk CORRECTIV.Lokal kooperieren wir dabei mit Zeit Online und zahlreichen Lokalmedien in Deutschland. Darunter Augsburger Allgemeine, Märkische Allgemeine, Sächsische Zeitung und Nordkurier. Weitere Informationen zum Klimaschwerpunkt unter correctiv.org/klima

Auch in Frankreich steigen die Zahlen in den Registern stetig an – weil auch dort mehr Menschen länger leben und es eine gewisse Zeit braucht, um alle zu informieren. Die Städte haben unterschiedliche Wege gefunden, um sie zu erreichen. Das südfranzösische Nizza fordert Hausärzte, Nachbarn und Familien auf, Personen zu melden, die gefährdet sein könnten. Diese müssen dann zunächst zustimmen, von den Sozialarbeitern kontaktiert zu werden, damit sie bei einem Anruf nicht misstrauisch den Hörer auflegen. Toulouse setzt Zivildienstleistende ein, die in den einzelnen Vierteln für das Register werben und anschließend telefonisch bei den Registrierten nach ihrem Wohlergehen fragen. Und etwa danach, ob die Fensterläden zur Mittagszeit geschlossen sind, ob sie genügend Wasser zur Verfügung haben, wie es ihnen grundsätzlich gehe. Lyon führt in seinem Register ungefragt einige tausend Personen – nämlich alle diejenigen, die Anspruch auf häusliche Hilfen hätten, weil sie etwa vorerkrankt sind oder gehbehindert, aber dennoch keinen Service in Anspruch nehmen. Sie seien so isoliert, dass sie besonders betreut werden müssten.

„Ein Register und ein Vorgehen wie in Frankreich wäre auch in Deutschland gut“, sagt Gesundheitsexpertin Schneider. Vielleicht muss Deutschland aber auch erst die tragische Erfahrung machen, die im Nachbarland zu all den Aktionsplänen führte: Während der Hitzewelle 2003 verloren in ganz Europa bis zu 70.000 Menschen ihr Leben, alleine in Frankreich waren es mindestens 20.000 innerhalb von wenigen Wochen. Viele von ihnen waren alleinstehende Ältere. Einige Verstorbene wurden erst gefunden, als es in ihren Hausfluren nach Verwesung roch. 

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