Papst-Prozess in Traunstein: 350.000 Euro für ein zerstörtes Leben
Im Zivilprozess eines Missbrauchsopfers vor dem Landgericht Traunstein hat der Klägeranwalt nun die Höhe des Schmerzensgeldes beziffert: Nach Unterlagen, die CORRECTIV, BR und der Zeit vorliegen, fordert er 300.000 Euro vom Erzbistum München und Freising und 50.000 Euro von den Erben des verstorbenen Papst Benedikt XVI.
Der Anwalt eines früheren Opfers von Priester H. fordert: 350.000 Euro für den Missbrauch im Pfarrhaus in Garching an der Alz.
In einem Schriftsatz an das Landgericht Traunstein, der CORRECTIV, dem Bayerischen Rundfunk (BR) und der Zeit vorliegt, beziffert der Berliner Rechtsanwalt Andreas Schulz die Forderungen seines Mandanten. Er beantragt, das Erzbistum München und Freising zur Zahlung von 300.000 Euro Schmerzensgeld zu verurteilen. Dem Kläger sollen demnach „alle materiellen und immateriellen Schäden“ ersetzt werden, die ihm „aus der Missbrauchstat im Tatzeitraum zwischen 1994 bis 1996 entstanden sind sowie in der Zukunft noch entstehen werden.“
Gegen die Erben des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. richten sich zusätzlich Schmerzensgeldforderungen in Höhe von 50.000 Euro.
Derzeit diskutieren Rechtsexperten darüber, wie sich die Folgen von sexuellem Missbrauch in der Kirche finanziell bewerten lassen. Der ehemalige Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts Köln Lothar Jaeger bewertet bisher übliche Schadensersatz-Zahlungen als weit zu niedrig. Nicht nur in Traunstein, auch in Köln verklagt ein Betroffener wegen Missbrauchs durch den Priester das jeweilige Erzbistum auf eine sechsstellige Summe. Sollten sich die Kläger durchsetzen, würden sie Rechtsgeschichte schreiben. Dann könnten auch andere Missbrauchsopfer ähnlich hohe Summen fordern.
Die Beklagten in Bayern können bis zum 16. Juni zu der Forderung Stellung nehmen. Das geht aus einem Schriftsatz des Landgerichts Traunstein hervor, der CORRECTIV, BR und Zeit vorliegt. Der erste Verhandlungstag ist auf den 20. Juni terminiert.
Zuvor muss das Gericht entscheiden, ob es das Verfahren aufspaltet: Der Klägeranwalt fordert, den Prozess gegen die Papst-Erben von dem Verfahren gegen das Erzbistum, den ehemaligen Erzbischof Friedrich Wetter und den Missbrauchstäter H. zu trennen. Hintergrund ist, dass einige Erben Ratzingers noch nicht gefunden sind. Nur eine Cousine hat die Erbschaft bereits ausgeschlagen.
Die Verantwortung des Kardinals Joseph Ratzinger für den Missbrauch
Diese gesonderte Forderung begründet der Anwalt damit, dass der verstorbene Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, eine Mitverantwortung für H.s Taten trage: 1986 hatte Ratzinger dem bereits verurteilten Sexualstraftäter H. gestattet, Traubensaft statt Wein in der Messe zu verwenden. Ratzinger war damals Chef der Glaubenskongregation und damit eine Art oberster Aufseher in Fragen von Sitte und Moral. Dass H. mehrfach unter Einfluss von Alkohol Kinder missbraucht hatte, war innerhalb der Kirche bekannt. Mit der von ihm unterschriebenen „Traubensaft-Erlaubnis“ machte Ratzinger den Einsatz des pädokriminellen Priesters in der Gemeinde möglich, wo H. später den Kläger missbrauchte.
Die Recherche von CORRECTIV und BR hatte das geheime Vatikan-Dokument an die Öffentlichkeit gebracht. Nach der strafrechtlichen Verurteilung von Priester H. im Jahr 1986 suchte das Erzbistum einen Weg, wie man H. wieder in die Gemeindearbeit einsetzen könne. Dem stand aus Sicht der Kirchenoberen offenbar nichts entgegen, solange dieser keinen Alkohol trinke.
Das heute 39 Jahre alte Missbrauchsopfer Andreas Perr hatte den ehemaligen Priester Peter H., das Erzbistum München und Freising, den früheren Erzbischof Friedrich Wetter sowie Benedikt XVI. im Juni vorigen Jahres verklagt.
Da es sich um ein Zivilverfahren handelt, gehen die Ansprüche des Klägers von dem verstorbenen Papst auf dessen Erben über.
Nach Verzicht auf die Verjährung folgte die Schmerzensgeldforderung
Das Erzbistum München und Freising hätte sich auf die Verjährung der Taten berufen können. Darauf verzichteten die Beklagten und erkannten die Haftung für die Mitarbeiter des Erzbistums vom Priester bis zum Erzbischof an. Zudem erklärte das Erzbistum eine generelle Bereitschaft, Schmerzensgeld zu zahlen. Es war das erste Mal, dass das Bistum diesen Begriff ausdrücklich verwendete.
Nach Angaben des Klägers Andreas Perr habe Priester H. ihn zusammen mit anderen Jungen an einem Sommertag Mitte der 1990er Jahre zum Ansehen von Pornofilmen und Masturbieren genötigt. Dabei habe der Pfarrer sich entblößt, onaniert und die Jungen im Intimbereich berührt. Als Perr seiner Mutter von den Taten erzählte, glaubte sie ihrem Sohn nicht. Die Reputation und der Status des Priesters in der oberbayerischen Gemeinde schützten den Täter.
„Der Kläger wurde so um sein Lebensglück gebracht, aus der Lebensbahn geworfen und suchte deswegen Zuflucht in Drogen und Alkohol mit all seinen Folgen für seinen beruflichen Lebensweg“, heißt es im Schriftsatz seines Anwalts. Die Folgen für den Kläger: „traumaassozierte Albträume, Flashbacks und Symptome der Vermeidung, die sich darauf beziehen, belastende Erinnerungen und Gedanken an das erlebte Gewaltereignis zu verdrängen.“
Der Tathergang wird weder von den Anwälten des Erzbistums noch von dem Verteidiger des ehemaligen Priesters bestritten.
Anwalt: Sein Mandant sei durch den Missbrauch aus der Lebensbahn geworfen
Die Anwälte des Erzbistums geben jedoch „Nichtwissen“ an, zu welchen Folgen der Missbrauch bei dem Kläger geführt habe. Der Anwalt des ehemaligen Priesters H. „bestreitet, dass durch einen derartigen einmaligen Vorgang alle diejenigen Folgen, die der Kläger schriftsätzlich behauptet, kausal verursacht wurden.“
Darin sieht der Klägeranwalt eine Strategie.
„Der zugestandene Missbrauch unter gleichzeitigem Bestreiten eines Schadens ist eben jene Fata Morgana“, schreibt Schulz, die „Verantwortungsübernahme“ der Kirche nur vortäusche. Tatsächlich wolle diese „jedoch weder moralisch noch rechtlich und vor allem nicht finanziell für die Folgen des Missbrauchs einstehen“.
Der Kläger will nun eine Entscheidung von einem weltlichen Gericht. Die sechsstellige Schmerzensgeldforderung stützt sich auf Aufsätze des ehemaligen Vorsitzenden Richters des Oberlandesgerichts Köln, Lothar Jaeger.
Wie Jaeger schreibt, habe bisher noch nie ein Gericht über das Schmerzensgeld für klerikalen Missbrauch entschieden. Deshalb gebe es keine Vergleichsmöglichkeit.
Jaeger: Schmerzensgeldbetrag für klerikalen Missbrauch nicht geringer als 800.000 Euro
Neben dem Verfahren in Traunstein wird auch vor dem Landgericht Köln die Klage eines anderen früheren Missbrauchsopfers geführt: Der Kläger Georg Menne fordert, ähnlich wie Andreas Perr in Bayern, Schadenersatz vom Erzbistum Köln, auch er wirft einem inzwischen verstorbenen Priester sexuellen Missbrauch vor. Menne fordert 800.000 Euro. Am 13. Juni ist in Köln der zweite Verhandlungstermin angesetzt.
Bisher regeln die deutschen Bistümer die Geldzahlungen für die Opfer des sexuellen Missbrauchs in Eigenverantwortung. Dort gehen die Zahlungen in der Regel bis 50.000 Euro. Das ist aus Sicht des ehemaligen Richters Jaeger zu wenig.
Er vergleicht den Schaden infolge des Missbrauchs durch einen Kleriker mit dem Schaden eines schweren Verkehrsunfalles. „Für Missbrauchsfälle, in denen das Opfer „völlig aus der Bahn geworfen wurde, sollte der Schmerzensgeldbetrag nicht geringer sein als für einen Schwerstverletzten und somit heute bei mindestens ≥ 800.000 € angesiedelt werden,“ schreibt Jaeger im Februar 2023 in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift Versicherungsrecht.
Klägeranwalt Schulz sieht zudem eine zweite Verantwortung des Erzbistums und des verstorbenen Papstes für die Lebenssituation des Klägers. Perr hatte den Missbrauch bereits 2010 bei dem Erzbistum angezeigt. Kurz zuvor hatte die New York Times aufgedeckt, dass der damalige Erzbischof in München, Kardinal Ratzinger, den Priester H. trotz mehrerer Straftaten weiter in der Gemeindearbeit eingesetzt hatte. Aus internen Unterlagen geht hervor, wie die Kirche die Übergriffe offenbar bagatellisiert hat: „Der Kläger wurde verunsichert und in vermeintliche Widersprüche verstrickt“, schreibt der Anwalt in dem vorliegenden Schriftsatz über die erste kirchliche Befragung des Klägers vor 13 Jahren. Die Mitarbeiter des Erzbistums München und Freising seien damals eher bereit gewesen, „den Kläger erneut zu traumatisieren“ als die Verantwortung des damaligen Papstes „endlich zu benennen“, schreibt der Anwalt.
Die Klage Perrs wird von der Initiative „Sauerteig“ aus Garching an der Alz über ein Crowdfunding unterstützt. Nach Angaben einer der Gründerinnen, Rosi Mittermeier, seien bisher 25.000 Euro eingegangen. Die Summe entspricht etwa den Gerichtskosten für die Schmerzensgeldforderung in erster Instanz. Das Landgericht Traunstein setzt nach CORRECTIV, BR und Zeit vorliegenden Unterlagen den Streitwert des Verfahrens nach Erhalt der Schmerzensgeldforderung nun auf 362.000 Euro fest