Russland/Ukraine

Über 10.000 Sanktionen gegen Russland – Eine Zwischenbilanz

Mit dem Sanktionstracker hat CORRECTIV bislang über 10.000 Sanktionen gegen Russland weltweit registrieren können. Oligarchen, Banken, Unternehmen sind betroffen. Aber die EU setzte auch Ausnahmen durch, um dem eigenen Geschäft nicht zu schaden. Fachleute kritisieren inkonsequente Sanktionen.

von Justus von Daniels , Marlene Jacobsen , Jean Peters

G7-Gipfel - Informelles Gruppenbild
Bei Sanktionen demonstriert der Westen eine große Geschlossenheit. Auf dem G7-Gipfel übten sich die Staatschefs und die EU-Kommissionspräsidentin entsprechend in Einigkeit. Foto: Michael Kappeler / picture alliance

Yachten russischer Oligarchen hängen in den Häfen von Hamburg, Südfrankreich oder Italien fest. Gerade in Deutschland ist ungeklärt, wer für Instandhaltungs- und Wartungskosten aufkommt. Für die Soziologin Elisabeth Schimpfossl, Autorin des Buchs „Rich Russians“, stehen die konfiszierten Yachten deshalb für die schlecht durchdachte Umsetzung der Sanktionen gegen Russland.  

Die Oligarchen können ihre Luxusboote zwar derzeit nicht nutzen. Enteignet wurden sie aber nicht. „Es gibt auch die Angst, dass Oligarchen die Staaten verklagen, wenn man ihnen die Yachten wegnehmen würde”, sagt Schimpfossl. „Dann muss der jeweilige Staat nicht nur für die Instandhaltung, sondern auch die Prozesse aufkommen.“

Der Westen geht seit Langem mit Sanktionen gegen Russland vor und greift nun so hart durch wie nie zuvor: Mehr als 10.000 Sanktionen sind seit März 2014 weltweit in Kraft getreten, rund 6.500 kamen seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar dazu. Der Sanktionstracker von CORRECTIV erfasst weltweit alle offiziellen Sanktionen. Vermögen von Oligarchen und Putin-Gefolgsleuten wurden eingefroren, russische Banken von den Kapitalmärkten ausgeschlossen und Exportverbote verhängt. Als Strafmaßnahmen dürfen russische Flugzeuge nicht im Luftraum der EU fliegen, Holz und Kohle aus Russland darf nicht mehr importiert werden. Fehlende Ersatzteile führen in Russland seitdem beim Flugverkehr und der Automobilindustrie etwa zu Problemen.

Welche Oligarchen nicht auf den Sanktions-Listen stehen

Aber nach wie vor ist heftig umstritten, welche Sanktionen wirklich etwas bringen. Können tausende Sanktionen was bewirken oder machen nur wenige den Unterschied? Fachleute wie Elisabeth Schimpfossl sind skeptisch – auch, weil Maßnahmen inkonsequent umgesetzt würden. Bei den Sanktionen gegen Abgeordnete etwa ist zum Beispiel unklar, welche Wirkung erzielt werden soll. Die Mitglieder der Duma, des russischen Parlaments, seien ohne Ausnahme auf der Sanktionsliste der EU gelandet. 

Dabei seien manche Politiker oder Politikerinnen gar nicht auf Kreml-Linie, sagt die Soziologin. „Sie haben sich enthalten, als es um die Krim Annexion ging, was schon mutig genug war.“ Es handelt sich dabei um einige wenige Abgeordnete, die der Annexion nicht zugestimmt hatten. Doch auch diese könne man nicht mehr nach Europa einladen, um mit ihnen zu sprechen.

Wir aktualisieren tagesaktuell, welche individuellen Sanktionen gegen wen verhängt werden und beantworten die wichtigsten Fragen zum Thema.

Einige der wichtigsten Oligarchen werden von den Sanktionen gar nicht berührt. „Wenn man die Forbes-Liste der russischen Milliardäre durchgeht, fehlen zwei Drittel“, sagt Schimpfossl. Vladimir Potanin, letztes Jahr noch der reichste Russe, tauche zum Beispiel nicht auf den europäischen Sanktionslisten auf, „weil Norilsk Nickel ihm gehört und die Angst besteht, dass dann der globale Nickelmarkt einbricht.“ Damit eröffne der Westen Magnaten wie Potanin Wege, ihre Macht auszubauen. Potanin kaufe nun Geschäfte von sanktionierten Russen auf – etwa von Oleg Tinkov, einem der wenigen Oligarchen, die sich trauten, Putin offen zu kritisieren. Großbritannien sanktionierte Tinkov.  Dieser verkaufte seine Bank zum Spottpreis an Potanin. CORRECTIV wertet die Sanktionen zusammen mit Lighthouse regelmäßig danach aus, welche Oligarchen sanktioniert werden.

Sechs Pakete von Sanktionen hat die EU gegen Russland seit Februar beschlossen. Eine Sprecherin der EU-Kommission spricht auf Anfrage von CORRECTIV von „weitreichenden und beispiellosen” Maßnahmen. 

Deutschland setzte sich für Ausnahmen bei SWIFT-Ausschluss von Banken ein

Besonders schmerzhaft für Russland ist, dass die Zentralbank nicht mehr an ihre Devisen kommt und die USA sowie die EU wichtige russische Banken mit massiven Strafen belegt haben. Damit sind Geldüberweisungen nur sehr eingeschränkt möglich. Allerdings sind nicht alle Staaten gleich konsequent vorgegangen: So belegte die USA allein über 70 Banken mit Strafen, während die EU da zaghafter vorgeht.  

Die EU-Verhandlungen über Finanzsanktionen zeigen, wie nationale Interessen eine gemeinsame Strategie der Europäischen Union unterlaufen. Aus CORRECTIV vorliegenden Dokumenten geht hervor, dass sich Deutschland zwar für einen SWIFT-Ausschluss einiger russischer Großbanken stark machte  – zugleich aber offensiv Ausnahmen unterstützte. Die europäischen Tochterbanken der russischen Banken sollten davon verschont bleiben. 

In den internen Unterlagen ist das deutsche Verhandlungsziel für den zuständigen Ausschuss im Europäischen Rat klar formuliert: „kein de-SWIFTing der außerrussischen Tochterunternehmen“. Auf Vorschlag der EU beschlossen die Mitgliedstaaten die Ausnahme  – und ließen dem russischen Finanzsektor damit ein Schlupfloch. Denn über die Tochterunternehmen können Firmen und Privatpersonen weiter Zahlungen abwickeln. Nur dürfen die Banken die Gelder nicht mehr an die russische Mutterbank überweisen.

In den internen Dokumenten findet sich ein Grundsatz: Die Sanktionen müssten „Russland mehr schaden als uns.“ Einige Strafmaßnahmen haben zwangsläufig Auswirkungen in beide Richtungen. Das zeigt die Debatte um Sanktionen im Energiesektor. Lisandra Flach, Ökonomin am Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) sagt dazu, „nur zwei Prozent des deutschen Handels wird mit Russland abgewickelt, allerdings ist im Energiesektor die Abhängigkeit vom russischen Markt weiterhin relativ groß.”

Laut einer ifo-Umfrage aus dem April 2022 haben fast 70 Prozent der Industrieunternehmen, die vor dem Krieg nach Russland exportierten, ihre Beziehungen zu Russland eingeschränkt oder abgebrochen.

Deutsche Unternehmen weiter in Russland

Allerdings machen einige deutsche Unternehmen weiter Geschäfte in Russland, trotz der Sanktionen. Auf einer Liste der Universität Yale zu wirtschaftlichen Aktivitäten in Russland tauchen zum Beispiel Unternehmen wie Remondis, Fresenius, Storck oder WIKA auf. Auf Anfrage von CORRECTIV bestätigen auch der Tunnelbauer Herrenknecht oder der Industriedienstleister Bilfinger laufende Geschäfte in Russland. Sie weisen darauf hin, dass sie  ihre Geschäfte abwickeln oder nur noch laufende Verträge bedienen. 

Auch im Bausektor und der Pharmabranche läuft vieles weiter, wenn auch im Flüsterton. Das Unternehmen HeidelbergCement betreibt weiterhin drei Zementwerke in Russland, der Baustoffhersteller Sika ließ die Anfrage von CORRECTIV zu seinen Geschäften in Russland unbeantwortet.

Griechenland setzte Ausnahmen für Öl-Transporte durch

Zu zögerlich, zu halbherzig – der Experte Erdal Yalçin, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Hochschule Konstanz, kritisiert den inkonsequenten Kurs der internationalen Gemeinschaft. In dem Sanktions-Flickenteppich der EU äußern sich zum Teil widersprüchliche Wirtschaftsinteressen einzelner Mitgliedsstaaten. 

Manche Branchen in der EU fürchten um ihr Geschäft. Das Ergebnis sind immer neue Ausnahmen bei den EU-Sanktionen. Wirtschaftsprofessor Erdal Yalçin nennt zum Beispiel griechische Reedereien, die einen erheblichen Anteil der russischen Öl-Exporte verschiffen: „Die griechische Regierung hat deshalb in der letzten Sanktionswelle der EU erfolgreich verhindert, dass der Transport von russischem Öl mit EU-Unternehmen untersagt wird.“

Es fehle der weltweite Zusammenschluss

Nach Einschätzung von Yalçin werde die Wirkung von Sanktionen generell überschätzt: „Man sollte nicht so naiv sein und erwarten, dass Kriege durch den ausschließlichen Einsatz von Wirtschaftssanktionen gelöst werden können“, sagt er. Zwar könnten Handels- und Finanzsanktionen die Wirtschaft eines Landes schwächen. Das bedeute aber noch längst nicht, dass damit auch die gewünschten politischen Ziele erreicht würden. 

Damit Sanktionen tatsächlich greifen, käme es zudem auf eine breite globale Unterstützung an. Die sei derzeit in Bezug auf Russland nicht in Sicht. Denn Länder wie Indien und China treiben weiter mit Russland Geschäfte oder bauen sie sogar ausgebaut, sagt Yalçin: „Die UN konnte keine Phalanx gegen Russland bilden.“

Die Spannung ist offensichtlich: Die einschneidenden Sanktionen gegen Russland einerseits, die Abhängigkeit der EU vom russischen Erdgas andererseits. Die Bundesregierung muss zwischen dem Schutz der deutschen Wirtschaft und Strafmaßnahmen abwägen, die Russland tatsächlich schaden. Das ist ein heikler Balanceakt, auch das geht aus den internen Unterlagen des Auswärtigen Amtes hervor: Der Grundsatz, dass Sanktionen Russland mehr schaden müsse als der EU, „ist nicht so einfach umzusetzen”, heißt es in einem Papier mit Hinblick auf die weitere Strategie. Und: „Insgesamt wird ein langer Atem nötig sein.“

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