Wirtschaft

Medican: Einer der größten Betrugsverfahren zu Coronatests wird neu verhandelt

Anfang Januar soll der Prozess vor dem Landgericht Bochum um massenhaft falsch abgerechnete Coronatests neu beginnen. Die Revision wirft neue Fragen auf. Auch die Rolle der Kloepfel Group könnte im Verfahren erneut behandelt werden.

von Marcus Bensmann

Beginn Prozess um angeblichen Betrug in Corona-Testzentren
Der Prozess wird wieder aufgerollt. Im ersten Verfahren wurde Can schuldig gesprochen. Er hatte damals ein Geständnis abgelegt. Nun ist alles wieder offen © picture alliance/dpa | Roland Weihrauch

In Nordrhein-Westfalen geht die Suche nach einer Million Coronatests juristisch wieder von vorne los: Das Bochumer Landgericht plant den Beginn des neuen Verfahrens zu einem der größten Corontest-Abrechnungsskandale nach Informationen von CORRECTIV am 22. Januar 2024 . Der Angeklagte Oguzhan Can bestätigt das Datum. Eine Sprecherin des Landgerichts Bochum teilt mit, ein neues Aktenzeichen für das Verfahren liege bereits vor; das Datum sei jedoch noch nicht im System.  

Der heute 50 Jahre alte Geschäftsmann Oguzhan Can aus Essen spielt in der Affäre um den Millionenbetrug die Hauptrolle: Seine Firma Medican hatte in NRW und bundesweit von März 2021 bis zu seiner Verhaftung Anfang Juni 2021 Bürgertests angeboten.  Dabei soll er gewaltige Summen von Steuergeld erwirtschaftet haben. Das Landgericht Bochum bezifferte den Schaden auf über 24 Millionen Euro. 

Vor einem Jahr wurde Can nach einem Geständnis wegen Betrugs und falscher Abrechnung zu sechs Jahren verurteilt. Doch nun hat sich das Bild offenbar geändert: Im Mai dieses Jahres hob der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil auf; es gab Formfehler, ein unsauber geführtes Verfahren, und auch bei den Ermittlungen zeigen sich nach Recherchen von CORRECTIV Auffälligkeiten; nun werfen neue Erkenntnisse weitere Fragen auf. Offen ist auch, welche Rolle Cans Zulieferer spielten, vor allem die ProCare GmbH eine Tochterfirma der Kloepfel Group – eines international agierendes Firmenkonglomerat mit Hauptsitz in Düsseldorf.

Das Landgericht Bochum sah es vor gut einem Jahr als erwiesen an, dass der  Unternehmer  knapp eine Million Tests mehr abgerechnet habe als gemacht wurden. Zudem habe Can die tatsächlich absolvierten Test als ärztliche Leistung abgerechnet, obwohl in den Teststellen kein Arzt praktizierte, und er habe die Sachkosten für die Testkits durch ein Scheingeschäft mit einem Geschäftspartner in die Höhe getrieben. 

24 Millionen Euro soll er damit zu viel eingestrichen haben. Davon wurden mit Hilfe des Angeklagten aber 17 Millionen sichergestellt, wie es in dem Urteil heißt.

Trotz Geständnis ging der Verurteilte beim Coronatestbetrug in Revision und gewann

Can hatte gestanden, trotzdem gingen seine Anwälte in die Revision. Im Mai dieses Jahres hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf und verwies es zur Neuverhandlung.

Vor  mehr als drei  Jahren beherrschte Corona das Leben in Deutschland und der Welt. Findige Geschäftsleute erkannten zugleich den Markt des Mangels: In kürzester Zeit mussten meist aus China Masken, Handschuhe und Tests für die Bevölkerung von Deutschland beschafft werden. Es fehlte an allem, der Preis war egal. 

Im März 2021 beschloss die Bundesregierung, kostenfreie Bürgertests zu ermöglichen – zum ersten Mal in der Bundesrepublik bezahlte der Staat medizinische Leistungen, die nicht nur von Ärzten oder Apotheker angeboten wurden. Jeder und Jede konnte  ein Testzentrum und betreiben und bekam für jeden Test eine fixe Summe. 

Das war die Stunde von Can, dem türkischstämmigen Geschäftsmann aus dem Ruhrgebiet. Mit seiner eigens gegründeten Firma Medican wurde er innerhalb von zwei Monaten zu einem der großen Testanbieter in Deutschland. Das Geschäft florierte, bis ein Beitrag des Rechercheverbundes von ARD und Süddeutscher Zeitung erschien: Die Recherche zeigte, dass weit weniger Menschen sich in den Testzentren testeten als die Firma dem Gesundheitsministerium von NRW meldete. 

Der Skandal nahm seinen Lauf. Can befand sich zu der Zeit in der Türkei.  Die kassenärztliche Vereinigung hatte das Geld für die Tests im April wenige Tage zuvor überweisen, über 25 Millionen Euro. Can kehrte nach Deutschland zurück, obwohl er in der Türkei hätte bleiben und sich so der deutschen Justiz entziehen können. 

Nach der Veröffentlichung der Recherche begann die Bochumer Staatsanwaltschaft mit den Ermittlungen. Can wurde nach seiner Rückkehr verhaftet und blieb bis zur Urteilsverkündung im Juni 2023 in Untersuchungshaft, also mehr als ein Jahr lang.

Geständnis für das Angebot „an die frische Luft“ zu kommen

Das Urteil stützte sich vor allem auf sein Geständnis. Can gab zu, über eine Million Tests bei der kassenärztlichen Vereinigung falsch angegeben und weitere vier Millionen falsch abgerechnet zu haben. Nach dem Urteil wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen und blieb auf freiem Fuß; er muss sich regelmäßig bei der Polizei melden. Der Fall schien gelöst. Das Geständnis unterzeichnte Can mit dem Kürzel „u.E.m.F“., was bedeuten soll: unter Erpressung meiner Freiheit.

Nun aber gab der Bundesgerichtshof der Revision statt. Der Grund: Der Richter hatte das erste Gespräch mit Cans Anwalt über die Möglichkeiten eines Geständnisses nicht angemessen protokolliert. Damit habe der Richter aus Sicht des BGH „die Mitteilungspflicht“ verletzt, heißt es in der Begründung.  Der geständige Angeklagte hätte sich womöglich „effektiver als geschehen“ verteidigen können, wenn ihn das Landgericht Bochum gesetzeskonform informiert hätte, heißt es in der Urteilsbegründung des BGH. 

Der Richter in Bochum hatte angedeutet, dass Can nach einem Geständnis an die „frische Luft“ könne. Zu der Zeit war der Unternehmer schon über ein Jahr lang in Haft, die Staatsanwaltschaft bereitete zudem ein Verfahren gegen dessen Sohn vor.  Cans Sohn war als Geschäftsführer von Medican angestellt; das Gericht sieht aber nicht ihn, sondern Can als Hauptverantwortlichen. Nach Can Geständnis wurde  das Verfahren gegen den Sohn mit einer Zahlungsauflage eingestellt.

Nun muss der Prozess  vor dem Landgericht Bochum wieder aufgerollt werden. Der Unternehmer Can äußerte sich auf Anfragen von CORRECTIV nicht dazu, ob er sein Geständnis wiederholen werde. Er hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er mit seinem Nachnamen in der Berichterstattung genannt werden will.

Der Bundesgerichtshof verfügte, dass es in jedem Falle in dem neuen Verfahren eine Beweisprüfung geben muss – selbst, wenn Can den Betrug erneut gesteht. 

Bei den Bürgertests herrschte Abrechnungschaos

Das Verfahren gegen Can eröffnet damit auch den Blick zurück in eine Phase des Chaos: Zwar finanzierte der Staat die Bürgertests, aber in den ersten zwei Monaten war unklar, wie die Abrechnungen laufen sollten. Die kassenärztliche Vereinigung trat für den Staat in Vorleistung und räumte den Testzentren eine großzügige Korrekturmöglichkeit ein. „Die Frist zur Korrektur von bereits abgerechneten Leistungen und/oder Sachkosten endet grundsätzlich nach 6 Monaten nach Abrechnungsmonat“, heißt es in einem Formblatt.

Fehlangaben waren offenbar eingeplant. In dem Antrag für die Abrechnung weist ein Absatz darauf hin, dass es noch eine Zeile für „Korrekturen“ gebe. 

Auch wenn Medican von März bis April eine beachtliche Zahl an Teststellen eröffnet hatte, navigierte der Unternehmer in einem Nebel aus unklaren behördlichen Vorgaben und dem Wirrwarr seines Betriebs. Das stellte das Urteil fest. Das ursprüngliche Buchungssystem einer Kölner Firma kündigte die Zusammenarbeit.  Can beauftragte einen Informatiker aus der Türkei, nur dieses Buchungssystem funktionierte nicht. „Die Anzahl der unter der Registrierung der Medican tatsächlich durchgeführten Bürgertests vermochte die Kammer nicht festzustellen. Sie ist konkret auch dem Angeklagten unbekannt“, heißt es in der Urteilsbegründung. Selbst die Anzahl der Teststellen war demnach unklar: „Die genaue Anzahl vermochte die Kammer nicht festzustellen. Sie belief sich jedoch im mittleren zweistelligen Bereich.“

Der größte Lieferant von Coronatests, die Kloepfel Group, blieb außen vor

Angesichts dieser verworrenen Lage stützte sich das Gericht bei der Bewertung des Schadens auf die Anzahl der von Medican gekauften Testkits und setzte sie zu einem Verhältnis zu den abgerechneten Tests. Der Vergleich zeigte eine Differenz von minus einer Million. Doch auch diese Zahlen bieten keine verlässliche Grundlage. Denn selbst bei den Lieferscheinen und der Lagerung herrschte Chaos. 

Verfolgt man die Lieferwege, führen die Spuren zu einem sehr viel größeren Akteur: Medican erhielt die Tests von der Düsseldorfer Kloepfel-Group, einer international agierenden, auf Einkauf und Logistik spezialisierten Beratungs-Firmengruppe mit dreistelligem Millionenumsatz. Lieferscheine, die CORRECTIV einsehen konnte, zeigen, dass die Kloepfel Group die Testkits von China über Firmen in Dubai und der Slowakei nach Deutschland eingeführt wurden. 

„Nicht die Kloepfel Group, sondern die Firma ProCare GmbH hat bei drei Herstellern bzw. Vertriebspartnern Testkits bezogen“, schreibt der Sprecher der Kloepfel-Group auf Anfrage von CORRECTIV, „es handelt sich um die Firmen Solid Even Group FZE, TrenGroup s.r.o. und DJS General Trading LLC.  Vertragspartner der ProCare GmbH sei die Firma Yener TBS GmbH gewesen, so der Sprecher, „die Testkits sind von diesen Gesellschaften unmittelbar an die Firma ProCare GmbH geliefert worden.“ Die DJS und die TrenGroup seien Geschäftspartner der ProCare GmbH, nicht aber der Kloepfel Group, so der Sprecher.

Medican bezog auch Tests von drei anderen Anbietern, doch diese lieferten nur in geringem Ausmaß, mal 1000 Tests und einmal 50.000 Tests. Der große Anteil kam von Kloepfel.

Die Kloepfel Group machte in der Coronazeit gute Geschäfte. Erst organisierte sie aus China Masken und danach Test für sich und für Medican. Ein gemeinsamer Bekannter, der Medican eine Anschubfinanzierung gewährte, brachte die Kloepfel Group und Medican zusammen. Bis Ende April wurden gemeinsame Testzentren betrieben.

Während der Ermittlungen und im Prozess traten die Geschäftsführung und die Mitarbeiter der Kloepfel Group als Zeugen auf, der Firmenrechtsanwalt stand nach Recherchen von CORRECTIV im regen Austausch mit der Bochumer Staatsanwaltschaft. Fragwürdig scheint, dass die Justizbehörde sich offenbar damit zufrieden gab, was der Anwalt freiwillig preisgab, er schickte ihr etwa Unterlagen der Kloepfel Group zu Bestellungen und Lieferungen der Testkits zu.

Eigene Hausdurchsuchungen führte die Staatsanwaltschaft bei der Kloepfel Group offenbar nicht durch.  Bei andere Unternehmen, mit denen Medican während der Tatzeit kooperierte, wurde dagegen ermittelt.

„Mit Schreiben vom 01.06.2021 trat u.a. die ProCare GmbH, nicht die Kloepfel Group, an die Staatsanwaltschaft Bochum heran und legte Einzelheiten zur Lieferung und dem Preisgefüge dar“, schreibt der Sprecher der Kloepfel Group auf Anfrage von CORRECTIV, „gleichzeitig wurde die Zuverfügungstellung weiterer Unterlagen angeboten, dadurch konnte eine Durchsuchung abgewendet werden.“  Dennoch habe die Staatsanwaltschaft unangekündigte Ermittlungen vor Ort durchgeführt, so der Sprecher,  „die Veranwortlichen der ProCare GmbH sowie die seinerzeit vernommenen Zeugen stehen natürlich auch weiterhin als Zeugen zur Verfügung.“

Die Sprecherin der Bochumer Staatsanwaltschaft schreibt auf Anfrage von CORRECTIV, „dass  die Staatsanwaltschaft Bochum sich zu Hintergründen von erfolgten bzw. nicht erfolgten einzelnen Ermittlungsmaßnahmen grundsätzlich nicht äußert.“ 

Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen im Verfahren seien mit Anklageerhebung im Oktober 2021 abgeschlossen worden, schreibt die Sprecherin, für das neue Verfahren bestünde „für neue Ermittlungen in diesem Verfahren“ damit kein Raum.

CORRECTIV konnte einen Beweisantrag  aus dem April 2022 von Cans Anwälten einsehen. Darin steht die Behauptung, die Kloepfel Group habe eine Million Testkits mehr eingeführt als sie angegeben habe. Das würde  ziemlich genau der Differenz entsprechen, dass das Gericht bei Medican  ausgemacht habe. In diesem Antrag kritisiert Cans Anwalt auch die Rolle, die dem Anwalt der Kloepfel Group eingeräumt wurde: Die Staatsanwaltschaft habe ihm eine Ermittler ähnliche Stellung zugestanden, dies laufe der Strafprozessordnung zuwider. 

„Der Inhalt des Beweisantrags ist nicht bekannt“, schreibt der Sprecher der Kloepfel Group.

Cans Anwälte zogen diesen Beweisantrag zurück, als der Angeklagte gestand.

Die Frage, ob der Beweisantrag in dem neuen Prozess eingeführt wird, hat Can mit Hinweis auf das laufende Verfahren nicht beantwortet.

Update vom 19.10.2023:  Erst nach der Veröffentlichung meldete sich der Sprecher der Kloepfel-Group bei CORRECTIV, und beantwortete die Anfrage zu dem Fall nachträglich. Die Presseanfragen an die Kloepfel-Group hatte CORRECTIV drei Werktage vor Veröffentlichung verschickt. Wir haben die Antworten in den Beitrag eingefügt.