Faktencheck

Chemnitz – Unbelegte Zweifel an Frontal21-Bericht und Überfall auf jüdisches Restaurant

Der Blog Philosophia Perennis zweifelt an der Authentizität eines internen Polizeiberichts, der nahe legt, es habe in Chemnitz Hetzjagden gegeben. Ebenso zweifelt er an dem Angriff auf ein jüdisches Restaurant. EchtJetzt hat mit der Generalstaatsanwaltschaft, der Polizei, Frontal21 und dem Wirt des Restaurants gesprochen.

von Tania Röttger

Wirt Uwe Dziuballa am 9. September vor seinem jüdischen Restaurant in Chemnitz. Einige Blogs bezweifeln, dass es angegriffen wurde.© John MACDOUGALL / AFP

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Der Bericht ist teilweise falsch. Zwar ist nicht zu klären, ob der Polizeibericht echt ist, es gibt aber mehrere Hinweise dafür, u.a. der Überfall auf das jüdische Restaurant. Für anderslautende Behauptungen nennt Philosophia Perennis keine Belege.

Das TV-Format Frontal21 vom ZDF hat am vergangenen Dienstag einen internen Polizeibericht zitiert, der als weiterer Beleg dafür dient, dass Rechtsradikale am vorigen Montag in Chemnitz Hetzjagden auf ausländisch Aussehende gemacht haben.

Der AfD-nahe Blog Philosophia Perennis bezweifelt in einem Artikel vom 11. September die Authentizität dieses Berichts. Titel: „Merkels Rettung? Frontal21 und der angebliche interne Polizeibericht aus Chemnitz.“ Darin heißt es: „Man habe nun ganz überraschend einen internen Polizeibericht zu den Vorkommnissen in Chemnitz gefunden.“

Im letzten Absatz äußert Autor David Berger den Verdacht, dass der Polizeibericht „nachträglich auf Anweisung aus Berlin erstellt“ wurde, um der Kanzlerin die „Peinlichkeit“ zu ersparen, „auf die Fakenews eines linksextremen Twitter-Accounts hereingefallen zu sein“. Belege für diese Vermutung liefert Berger nicht.

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Screenshot vom Artikel auf Philosophia Perennis.

CORRECTIV hat keinen Zugang zu dem Polizeibericht. Frontal21 zufolge enthält er die Zeile: „100 vermummte Personen (rechts) suchen Ausländer.“ Philosophia Perennis schreibt, dass dies gar nicht die Beobachtung der Polizei gewesen sei: „Bei diesem Satz handelt es sich nur um eine Information, die der Polizei zuging.“ Also etwa durch einen Anruf von Passanten oder Demonstranten.

Das könnte stimmen, geht aus der Antwort der Polizei auf Anfrage von CORRECTIV hervor: „Bei jedem polizeilichen Einsatz entsteht eine Vielzahl von verschiedenen Dokumenten. Dazu gehören auch Aufzeichnungen zu eingehenden Informationen, wie z.B. Notrufe oder auch Hinweise von Einsatzkräften. Diese Erstinformationen und Eingangsmeldungen werden im Rahmen des Einsatzes geprüft. Nicht alle in diesem polizeilichen Lagefilm enthaltenen Informationen sind demzufolge gleichzusetzen mit Tatsachen bzw. tatsächlichen Feststellungen der Beamten.“

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Screenshot aus der Email der Polizei.

Doch Christian Rohde, stellvertretender Redaktionsleiter von Frontal21, schreibt zu der Szene per Email: „Aus dem Lagebericht wird klar, dass es sich um eine polizeiliche Anfrage handelte. Die Einsatzleitung fordert laut dem Bericht Kräfte an, um die ca. 100 vermummten Personen zu suchen. Ergebnis der Suche einer Aufklärungseinheit ist, dass die Vermummten nicht mehr angetroffen werden. Die Polizei stellt laut Lagefilm fest, dass die Personen vermutlich ihre Fahrzeuge an einem Parkplatz abgestellt haben. Genau das hat Frontal21 berichtet.“

Material von Frontal21

Die Echtheit des Materials kann oder will die Polizei bisher nicht bestätigen. Eine Sprecherin schreibt: „Inwiefern sämtliche bei Frontal21 zitierten Passagen tatsächlich aus polizeilichen Einsatzdokumenten stammen, wird derzeit intensiv geprüft.“

Rohde von Frontal21 schreibt zu dem Vorwurf, dass der Bericht nicht echt sei: „Der Vorwurf wird schon allein dadurch entkräftet, dass mehrere im internen Polizeibericht (der sogenannte Lagefilm) erwähnte Vorkommnisse überprüfbar sind mit dem, was sich in Chemnitz zugetragen hat. Das eindrücklichste Beispiel ist der Überfall auf ein jüdisches Restaurant in Chemnitz.“ (Dazu unten mehr.)

Rohde weiter: „Im Übrigen ist im Lagefilm auch die Ankunft des ZDF-Teams von Frontal21 vermerkt. Die Aufzeichnungen der Polizei stimmen mit unserer dokumentierten Arbeitszeit überein.“

Hintergrund: Hetzjagd-Debatte

Seit Wochen diskutieren Politik und Medien, ob es in Chemnitz Hetzjagden durch Rechte auf Ausländer gegeben hat. Bundeskanzlerin Merkel und Regierungssprecher Steffen Seibert hatten den Begriff für das Geschehen in Chemnitz benutzt, als verschiedene Gruppen wegen eines Totschlags in der Stadt protestierten. Die AfD und der Chef des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen bezweifelten, dass tatsächlich Hetzjagden stattgefunden hatten. Ebenso sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), „es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome.“

Mehrere Videos aus Chemnitz wurden außerdem angezweifelt – sowohl die Echtheit als auch, ob das, was zu sehen ist, eine Hetzjagd darstellt –, unter anderem von Maaßen. Seine Äußerungen gegenüber Bild haben ihm inzwischen eine Personal-Krise eingebracht. Die SPD und die Grünen fordern seine Entlassung. Manche meinten, der Begriff „Jagdszenen“ wäre zutreffender gewesen. Auf Blogs, die flüchtlingsfeindliche Artikel veröffentlichen, wurde die Debatte als Beispiel dafür gesehen, dass Medien und Politik „Fake News“ verbreiten.

Überfall auf jüdisches Restaurant?

Philosophia Perennis bezweifelt außerdem, dass das jüdisches Restaurant „Schalom“ in Chemnitz überfallen wurde. Frontal21 zufolge hatten vermummte  Männer das Lokal mit Steinen, Flaschen und einem Stahlrohr beworfen. Außerdem hätten sie den Wirt beschimpft („Hau ab aus Deutschland, du Judensau“).

Bei Philosophia Perennis steht: Die Sache habe ein „Geschmäckle“, denn das Restaurant habe an dem Tag des angezeigten Überfalls Ruhetag gehabt, und die Polizei habe bloß „Gegenstände in der Nähe des Restaurants“ gefunden. Diese These verbreitet auch der rechte Blog Halle Leaks.

Auf der Webseite des Restaurant steht tatsächlich, es sei Freitags und Montags geschlossen.

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Screenshot von der Webseite des Restaurants.

CORRECTIV hat am vergangenen Mittwoch gegen 13 Uhr im Restaurant angerufen. Uwe Dziuballa, der Wirt, meldete sich am Telefon und wirkte sehr aufgebracht, als er den Grund für den Anruf erfuhr. Er sagte: „Der Ruhetag ist also Beweis dafür, dass ich gelogen habe?“ Auch jetzt habe das Restaurant geschlossen, trotzdem sei er da. Er fühle Zorn und Wut.

Dziuballa erklärte, dass er seit ein paar Jahren die Räume des Restaurants am Montag vermiete oder für Vorträge nutze. So auch am 27 August. Da fand ein Vortrag über die Folgen der Arisierung jüdischer Unternehmen unter der NS-Herrschaft statt. Um 21:44 habe er draußen Krach gehört und sei rausgegangen. Da seien schon Steine geflogen, einer habe ihn an der Schulter getroffen, die jetzt noch schmerze.

Seit die Medien über den Fall berichteten, bekommt er viele Zuschriften, sagt Dziuballa. Der Großteil sei positiv, aber er bekomme auch Hassmails, zum Beispiel hätten sie ihn Lügensau genannt – viele zweifeln an dem Überfall, mit dem Hinweis, dass sein Lokal ja geschlossen gewesen sei. Dabei hatte er am 27. August um 19:19 Uhr auf der Facebook-Seite des Lokals ein Foto der Veranstaltung veröffentlicht:  

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Screenshot von der Facebook-Seite des Restaurants.

In dem Fall wird ermittelt, wie ein Sprecher der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft per Email bestätigt.

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Screenshot aus der Email der Polizei.

Lagefilm auf einer Stufe mit Haftbefehl?

Eine weitere Behauptung von Philosophia Perennis: Die Verbreitung der Auszüge aus dem Lagefilm sei illegal, wie die Verbreitung des Haftbefehls gegen einen der mutmaßlichen Täter in dem Mordfall, der die Proteste in Chemnitz ausgelöst hat. Philosophia Perennis nimmt den Lagefilm als Anlass, um dem ZDF Heuchelei vorzuwerfen. Schließlich habe der Sender die Verbreitung des Haftbefehls als illegal gerügt.

Die Polizei prüft derzeit, ob eine Straftat vorliegt: „Es wurde bereits am vergangenen Dienstag seitens der Polizeidirektion Chemnitz ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht eingeleitet.“

Allerdings hinkt der Vergleich von Philosophia Perennis: Im Fall des Haftbefehls wurden persönliche Daten veröffentlicht, nur ein Teil der Wohnadresse war geschwärzt. Im Fall des Lageberichts veröffentlichte das ZDF lediglich Auszüge aus einem amtlichen Dokument.