Effekt von Spike-Proteinen auf das Immunsystem: Es gibt Zweifel an dieser Studie aus Schweden
Ein wissenschaftlicher Artikel aus Schweden erregt international Aufsehen. Darin heißt es, Spike-Proteine, die der Körper nach einer Covid-19-Impfung bildet, seien womöglich schädlich für das Immunsystem. Laut der Leiterin der zuständigen Abteilung der Universität Stockholm ist das jedoch Spekulation.
Mehrere Webseiten (zum Beispiel hier, hier, hier, hier und hier) berichteten im November über eine Studie aus Schweden. Darin geht es um das sogenannte Spike-Protein des Coronavirus. In einem Artikel der Epoch Times, der auch auf Facebook verbreitet wurde, heißt es, das Spike-Protein dringe in den Zellkern ein und schädige die DNA. Der österreichische Wochenblick schreibt, das Protein hemme das Immunsystem und die „DNA-Reparatur“, oder behindere die „adaptive Immunität“. Dadurch komme es angeblich zu schweren Covid-19-Krankheitsverläufen.
Die verschiedenen Blogs und Medien ziehen aus dem Artikel die Schlussfolgerung, dass Impfungen gegen Covid-19 problematisch seien: „Dieses Resultat ist sowohl für eine SARS-CoV-2-Infektion relevant wie auch für die mRNA- und Vektor-Impfungen, welche die Produktion des SARS-CoV-2-Spike-Proteins in voller Länge verursachen“, heißt es etwa auf der Webseite Corona-Transition, die am 11. November über die Studie berichtete.
Unsere Recherche zeigt: Die Berichte geben den wissenschaftlichen Artikel zwar korrekt wieder, ziehen jedoch teils eigene Schlussfolgerungen, die daraus nicht hervorgehen. Die Forschenden äußerten in ihrer Arbeit zudem selbst Vermutungen, die laut der Universität Stockholm durch ihre Laborexperimente nicht belegt sind. Zudem gebe es Kritik am Studiendesign. Wegen der falschen Interpretation des Artikels in der Öffentlichkeit stellten die Autoren einen Antrag, die Arbeit zurückzuziehen. Direkte Schlussfolgerungen über Impfungen lassen sich aus dem Artikel nicht ziehen, weil keine Spike-Proteine von Geimpften untersucht wurden und die Experimente mit Zellkulturen und nicht an Menschen durchgeführt wurden.
Wissenschaftlicher Artikel aus Schweden befasst sich mit Spike-Proteinen
Der wissenschaftliche Artikel erschien am 13. Oktober 2021 in dem Open-Access-Journal Viruses. Verfasst wurde er von zwei Forschenden der Universitäten Stockholm und Umea in Schweden. Der Titel lautet „SARS–CoV–2 Spike Impairs DNA Damage Repair and Inhibits V(D)J Recombination In Vitro“, was soviel bedeutet wie: Das Spike-Protein beeinträchtige die DNA-Reparatur und gewisse DNA-Prozesse, die wichtig für das adaptive Immunsystem sind – in vitro, also im Reagenzglas.
Die Forschenden wollten die Frage beantworten, weshalb manche Patientinnen und Patienten mit schwerem Covid-19-Verlauf eine verzögerte und schwache Immunantwort haben. Die Antwort glauben sie in dem Spike-Protein des Coronavirus gefunden zu haben.
In der Zusammenfassung des wissenschaftlichen Artikels heißt es wörtlich: „Wir fanden heraus, dass das Spike-Protein im Zellkern auftritt und die DNA-Reparatur beeinträchtigt (…). Unsere Forschung zeigt einen potenziellen molekularen Mechanismus, durch den das Spike-Protein die adaptive Immunabwehr behindert, und unterstreicht die potenziellen Nebenwirkungen von Impfungen, die auf dem vollständigen Spike-Protein basieren.“
Zum Verständnis: Das Spike-Protein sitzt auf der Oberfläche des Coronavirus und sorgt dafür, dass es an menschliche Zellen andocken und diese infizieren kann. Die aktuell in Deutschland eingesetzten mRNA- und Vektorimpfstoffe enthalten die genetische Information dieses Proteins, damit der Körper es selbst bildet und dann Antikörper dagegen entwickelt.
Die Forschenden aus Schweden schrieben über Möglichkeiten, die durch ihre Experimente nicht belegt sind
Für ihre Aussagen in dem Artikel hatten die Forschenden keine ausreichenden Belege, schrieb uns Neus Visa, Leiterin der Abteilung für Molekularbiologie an der Universität Stockholm, per E-Mail. „Der Artikel von Hui Jiang und Ya-Fang Mei belegt nicht, dass das Spike-Protein das Immunsystem schwächt.“
Visa erklärte weiter: „Die Autoren haben den Effekt des Spike-Proteins auf das Immunsystem nicht getestet. Sie haben sich weder die Spike-Proteine angeschaut, die nach Impfungen produziert werden, noch haben sie die Spike-Proteine von realen Coronaviren untersucht. Sie nutzten künstliche Überexpressionssysteme im Labor, die keine Schlussfolgerungen über die Effekte des Spike-Proteins im Körper zulassen. Daher ist das spekulative Statement ‘Unsere Forschung (…) unterstreicht die potenziellen Nebenwirkungen von Impfungen, die auf dem vollständigen Spike-Protein basieren’ nicht belegt.“
Zudem seien die Experimente, auf denen die Aussage beruht, dass das Spike-Protein im Zellkern auftauche und die DNA-Reparatur behindere, nicht ausreichend kontrolliert und reproduzierbar durchgeführt worden. Reproduzierbar bedeutet, dass Experimente so durchgeführt werden müssen, dass andere Forschende sie wiederholen könnten. Das ist ein Grundsatz des wissenschaftlichen Arbeitens. Es gebe auch Widersprüche zu zuvor veröffentlichten Publikationen, die in dem Artikel nicht berücksichtigt worden seien, so Visa.
Wir haben die Forschenden Ya-Fang Mei und Hui Jiang per E-Mail kontaktiert. Ya-Fang Mei antwortete am 7. Dezember, die Ergebnisse ihrer Arbeit hätten nichts mit dem Verursachen einer Immunschwäche zu tun. Es handele sich um ein In-Vitro-Modell zur möglichen Erklärung des klinischen Phänomens, dass Antikörper gegen SARS-CoV-2 teils erst zwei bis vier Wochen nach der Infektion gebildet würden. Ihre Erkenntnisse aus den Laborversuchen deuteten darauf hin, so die Wissenschaftlerin, dass die Impfungen gegen Covid-19 möglicherweise effektiver sein könnten, wenn sie nicht das vollständige Spike-Protein nutzen, sondern nur einen Teil davon.
Forschende stellten Antrag, den Artikel zurückzuziehen
Neus Visa von der Universität Stockholm wies uns darauf hin dass die Autoren in Kontakt mit dem Fachmagazin seien, um den Artikel zurückzuziehen.
Ya-Fang-Mei und das Fachmagazin Viruses bestätigen dies. Auf Nachfrage teilte uns der zuständige Redakteur, der Biologe Oliver Schildgen, am 2. Dezember per E-Mail mit, dass er vor zwei Wochen über den Wunsch der Autoren informiert worden sei, den Artikel zurückzuziehen. Es sei dazu im Verlag ein Prozess angestoßen worden, der derzeit noch laufe. Laut Ya-Fang Mei war der Auslöser für den Antrag die falsche Interpretation der Arbeit in der Öffentlichkeit.
Faktenchecks von AFP, Politifact und Lead Stories kamen zu demselben Ergebnis wie wir: Der Artikel belege nicht, was behauptet wird. Auf der Webseite des Journals Viruses ist er noch unverändert online (Stand 3. Dezember 2021).
Behauptungen über Impfungen, Spike-Proteine und das Immunsystem sind nicht neu
Schon häufiger kursierten in den vergangenen Monaten ähnliche Behauptungen. Ihre Grundlage sind Forschungen über das Spike-Protein: Es gibt Hinweise, zum Beispiel durch Tierversuche, dass das Original-Spike-Protein des Coronavirus schädlich sein kann. Diese Erkenntnis lässt sich aber nicht einfach auf Impfungen übertragen. Es gebe derzeit keine Hinweise, dass das durch Impfungen vom Körper produzierte Spike-Protein auf diese Weise schädlich ist, erklärten uns Experten bereits für mehrere Faktenchecks (hier und hier).
Auch gibt es keine Belege für die ebenfalls häufig geäußerte Behauptung, die Impfung schwäche das Immunsystem und begünstige deshalb schwere Verläufe von Covid-19. Faktenchecks dazu haben wir hier, hier, hier und hier veröffentlicht. Die bisher verfügbaren Daten zeigen, dass die Impfungen das Risiko für schwere Krankheitsverläufe stark verringern.
Redigatur: Matthias Bau, Tania Röttger
Update, 6. Dezember 2021: Wir haben korrigiert, dass der Begriff „in vitro“ nicht „im Laborversuch“ bedeutet, sondern „im Reagenzglas“.
Update, 7. Dezember 2021: Wir haben eine Antwort der Autorin Ya-Fang Mei erhalten und diese im Artikel ergänzt, sowie einige Textstellen und die Bewertung angepasst.
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- „SARS–CoV–2 Spike Impairs DNA Damage Repair and Inhibits V(D)J Recombination In Vitro“, Viruses: Link (archiviert)