Faktencheck

Irreführende Behauptungen zu Nord Stream 1 und Russland in Umlauf

In einem Facebook-Beitrag wird behauptet, dass Russland kein Gas an Deutschland liefern konnte, weil eine Turbine von Nord Stream 1 nicht aus Kanada habe geliefert werden können. Der angebliche Grund dafür: die Sanktionen gegen Russland. Außerdem habe Deutschland das Angebot des Kreml ausgeschlagen, das Gas über Nord Stream 2 zu liefern. Ein Faktencheck.

von Steffen Kutzner

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Die reduzierten Gaslieferungen aus Russland sorgen seit Wochen für Diskussionen (Symbolbild: Steven / Pixabay)
Behauptung
Nord Stream 1 werde jeden Sommer zur gleichen Zeit gewartet. Eine für den Betrieb notwendige Turbine hänge wegen der Sanktionen gegen Russland in Kanada fest. Russland habe angeboten, die Gaslieferungen an Deutschland über Nord Stream 2 abzuwickeln, was Deutschland aber abgelehnt habe.
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Fehlender Kontext
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Fehlender Kontext. Es ist richtig, dass die Wartungsarbeiten an Nord Stream 1 jedes Jahr stattfinden und eine Turbine aufgrund der Sanktionen in Kanada festhing. Die Turbine ist jedoch für den Betrieb nicht essenziell und werde laut Bundesregierung als Vorwand verwendet, weniger Gas zu liefern. Putin sagte, er habe eine Lieferung über Nord Stream 2 angeboten. Allerdings ist das aktuell nicht möglich, da die Pipeline bislang nicht einsatzbereit ist.

Seit Ende Juni werden in mehreren Facebook-Beiträgen, die mehrere tausend Mal geteilt wurden, eine Reihe von Behauptungen über die Gasversorgung aus Russland verbreitet. Der Tenor: Deutschland sei selbst Schuld am momentanen Gasmangel, weil die Sanktionen und andere politische Entscheidungen die Gaslieferungen behindern würden. Die wichtigsten Behauptungen, die wir in diesem Faktencheck prüfen, sind: 

  1. Die Pipeline Nord Stream 1 sei wegen Wartungsarbeiten abgeschaltet gewesen, die jedes Jahr zur gleichen Zeit stattfinden.
  2. Eine Turbine, die in Kanada repariert wurde, und ohne die Nord Stream 1 nicht laufen könne, habe nicht zurück nach Russland geliefert werden können, weil die Sanktionen gegen Russland die Auslieferung verhindert hätten.
  3. Russland habe angeboten, das Gas, das durch die verzögerten Wartungsarbeiten ausgefallen ist, über Nord Stream 2 zu liefern, was Deutschland jedoch abgelehnt habe.
Auf Facebook wird suggeriert, Deutschland sei für die gedrosselten Gaslieferungen aus Russland selbst  verantwortlich (Quelle: Facebook; Screenshot und Schwärzung: CORRECTIV.Faktencheck)

Behauptung 1: Nord Stream 1 war wegen jährlich zur selben Zeit stattfindender Wartungsarbeiten abgeschaltet

Diese Behauptung stimmt. Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums schrieb uns auf Anfrage: „Nord Stream 1 wurde in den vergangenen Jahren immer im Juli gewartet und so auch in diesem Jahr.“ Diese Wartungsarbeiten waren in diesem Jahr für den 11. bis 21. Juli angesetzt und wurden in diesem Zeitraum begonnen und abgeschlossen.

Grund für die jährlichen Wartungsarbeiten ist eine Regelung der Deutschen Vereinigung des Gas und Wasserfachs, kurz DVGW, wie die Sprecherin erklärt: „In Deutschland hat jede Leitung laut DVGW-Regelwerk eine Art ‚Wartungspass‘. Darin steht fest, in welchen Abständen welche Aspekte einer Leitung oder Station gewartet werden müssen […]. Demnach muss jährlich eine Wartung stattfinden.“

Eigentümer und Betreiber der Pipeline ist die Nord Stream AG, die zu 51 Prozent Gazprom gehört. Auch die Nord Stream AG hatte am 1. Juli eine Pressemitteilung herausgegeben, in der erklärt wurde, dass beide Leitungen von Nord Stream 1 vom 11. bis 21. Juli für die jährlichen Wartungsarbeiten gesperrt werden. Seit dem 21. Juli fließt wieder Gas, jedoch weit unterhalb der Kapazitätsgrenze, wie unter anderem die Tagesschau berichtete. Am 27. Juli wurde der Gasdurchfluss weiter gedrosselt und liegt seither bei 20 Prozent.

Behauptung 2: Eine für den Betrieb von Nord Stream 1 „essenzielle“ Turbine, die in Kanada überholt wurde, hing dort wegen der Sanktionen gegen Russland fest

Das ist teilweise falsch. Bereits vor den Wartungsarbeiten und der vorübergehenden Komplett-Abschaltung von Nord Stream 1 waren die Gaslieferungen nach Deutschland Mitte Juni auf 40 Prozent gedrosselt worden. Begründet wurde das Medienberichten zufolge unter anderem damit, dass eine für den Betrieb essenzielle Turbine in Kanada feststecke und wegen der Sanktionen gegen Russland nicht zurückgeschickt werden könne. Die Turbine wurde von Siemens Energy in Kanada gewartet. Von deutscher Seite aus heißt es, die Turbine sei nicht essenziell für den Betrieb. Eine Sprecherin der Bundesnetzagentur schrieb uns: „Die Pipeline könnte auch Gas ohne die Turbine transportieren“. Auch eine Sprecherin des zuständigen Bundeswirtschaftsministeriums teilte uns am 15. Juli: „Bei der Turbine in Kanada handelt es sich um eine Ersatzturbine.“ 

Eigentümer der Turbine ist Gazprom. Gazprom teilte am 13. Juli mit, dass die weitere Versorgung mit Gas über Nord Stream 1 nicht garantiert werden könne, weil es keine Bestätigung darüber gebe, dass die Turbine zeitnah aus Kanada geliefert würde. Medienberichten zufolge bestätigte Siemens Energy, dass die Turbine aufgrund der gegen Russland verhängten Sanktionen nicht zurückgeschickt werden konnte. Ein Sprecher des Konzerns, Tim Proll-Gerwe, teilte uns am 14. Juli per E-Mail mit: „Unser Ziel ist es, die Turbine so schnell wie möglich zu ihrem Einsatzort zu transportieren.“ 

Kanada kündigte bereits am 10. Juli an, eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, die es ermögliche, die Turbine zu verschiffen. Doch die Turbine ist bislang nicht zurück in Russland, sondern befindet sich momentan (Stand: 3. August) in einem Werk von Siemens Energy in Mülheim an der Ruhr in Deutschland. Die Turbine hätte bereits am 25. Juli weiter nach Helsinki transportiert werden sollen, jedoch behauptete Gazprom, dass für den Transport notwendige Unterlagen unzureichend wären. 

Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Turbine am 3. August besichtigte, erklärte, sie stehe jederzeit für die Auslieferung bereit. „Es ist offensichtlich, dass nichts, aber auch wirklich gar nichts dem Weitertransport dieser Turbine und ihrem Einbau in Russland entgegensteht“, erklärte Scholz laut eines Berichts der Deutschen Welle. Es gebe keinerlei technische Gründe für die Reduzierung des Gases in Nord Stream 1, so Scholz. Die Turbine könne jederzeit transportiert und genutzt werden. Das bestätigte Medienberichten zufolge auch Christian Bruch, Vorstandschef von Siemens Energy. Bruch erklärte außerdem, dass die Liefermenge von aktuell 20 Prozent nichts mit der Turbine zu tun habe; diese sei nur eine von mehreren und aktuell laufe von den fünf Turbinen in Nord Stream 1 nur eine. Das sei der Grund für die geringe Liefermenge.

Behauptung 3: Russland habe angeboten, die ausbleibenden Gaslieferung wegen der nicht gelieferten Turbine über Nord Stream 2 abzuwickeln – Deutschland habe das abgelehnt

Dieser Behauptung fehlt Kontext. Putin hat bei einer Pressekonferenz am 19. Juli der russischen Presse erzählt, dass das Gas auch via Nord Stream 2 geliefert werden könne und die Pipeline einsatzbereit sei. Er habe darüber auch mit dem Bundeskanzler gesprochen. Eine Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums teilte uns mit, Nord Stream 2 sei bisher noch nicht durch die Bundesnetzagentur zertifiziert, also nicht einsatzbereit. Eine Regierungssprecherin erklärte uns dazu per E-Mail: „Die Bundesregierung hat als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg die Zertifizierung von Nord Stream 2 ausgesetzt.“ 

Zu dem angeblichen Angebot, das wegen der nicht gelieferten Turbine zu wenig gelieferte Gas über Nord Stream 2 zu liefern, habe das Wirtschaftsministerium keine Informationen. Das Presseamt der Bundesregierung lehnt einen Kommentar des angeblichen Angebots unter Verweis auf die Vertraulichkeit der Gespräche zwischen Scholz und Putin ab.

Nord Stream 2 ist jedoch nicht die einzige Pipeline, die für einen Ersatzbetrieb infrage käme. Die Jamal-Pipeline, die von Russland aus durch Belarus und Polen nach Deutschland verläuft, wäre eine Option, ebenso wie eine weitere Pipeline durch die Ukraine. Beide Optionen werden jedoch nicht genutzt, so die Sprecherin des Wirtschaftsministeriums: „Die Jamal-Pipeline oder die Ukraine-Transit-Pipeline stehen für den Transport zur Verfügung. Die Jamal-Pipeline wurde von Russland sanktioniert, so dass deswegen hier kein Gas durchfließt. Daneben stünde auch die Ukraine-Transit-Pipeline zur Verfügung um weitere Mengen auszunehmen.“ Diese Optionen würden von Russland jedoch nicht genutzt.

Redigatur: Matthias Bau, Uschi Jonas