Nach Explosion auf Krim-Brücke: Video zeigt einen Stau in Richtung Kiew, keine fliehenden Menschen
Der Telegram-Kanal „Neues aus Russland“ behauptet zu einem Video, es zeige einen „riesigen Stau“ an der Ausfahrt von Kiew am 17. Juli – an dem Tag, als eine Explosion die Krim-Brücke beschädigte. Die Menschen sollen angeblich flüchten, weil sie „Putins Vergeltung“ fürchten. Doch das Video ist veraltet und der Stau ist in Richtung Kiew, nicht weg von der Stadt.
Eine Explosion beschädigte am 17. Juli 2023 die für Russland strategisch wichtige Krim-Brücke. Sie verbindet die völkerrechtswidrig von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim mit dem russischen Festland. Präsident Wladimir Putin machte die Ukraine für den Angriff verantwortlich und kündigte Vergeltung an. Daraufhin behauptete unter anderem „Neues aus Russland“, der für Desinformation bekannte Telegram-Kanal von Alina Lipp: Die Leute fürchteten Putins Vergeltung für die Krim-Brücke, weshalb sich ein 25 Kilometer langer Stau an der Ausfahrt von Kiew gebildet habe. Die Behauptung verbreitete sich auch auf Facebook.
Fest steht: Das Video kursiert mindestens seit dem 21. August 2022 und der Stau bildete sich nicht stadtauswärts, sondern stadteinwärts nach Kiew.
Video zu Stau bei Kiew bereits 2022 zu finden
Oben links im Video steht der Nutzername des Instagram-Accounts, der es ursprünglich veröffentlichte. Da es sich um eine Privatperson handelt, haben wir ihn aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unkenntlich gemacht. Um zu erfahren, wann das Video genau aufgenommen wurde, haben wir den Instagram-Account kontaktiert. Eine Antwort erreichte uns bis zur Veröffentlichung nicht.
Doch es gibt weitere Hinweise zum Aufnahmeort: Neben den Worten „Kiewer Bewegung“ und der Ortsangabe „Autobahn Kiew-Schytomyr“ in kyrillischen Buchstaben steht der Name eines weiteren Instagram-Accounts im Video: dtp.kiev.ua. Das ist eine Plattform, die unter anderem Bildmaterial zur Verkehrslage von Privatpersonen veröffentlicht.
Dieser Account ist mittlerweile auf privat gestellt. Wir konnten aber davor sehen, dass dort dasselbe Video bereits am 21. August 2022 auf Instagram veröffentlicht wurde. Dazu heißt es: „Auf der Schytomyr-Autobahn gibt es derzeit einen riesigen Stau. Viele Menschen versuchen vor Beginn der Ausgangssperre durchzukommen.“ Das Video ist also mindestens ein Jahr alt. Vom 21. August bis zum 28. August 2022 gab es tatsächlich eine Ausgangssperre in der Region Kiew. Das belegt ein Dokument der regionalen Militärverwaltung vom 19. August 2022.
Zudem schrieb die Plattform dtp.kiev.ua am 17. Juli 2023 auf Instagram: Das Video werde für russische Propaganda genutzt. Es zeige aber eigentlich Menschen, die nach Kiew zurückkehren.
Video zeigt Stau stadteinwärts nach Kiew
Bildete sich der Stau also nicht wie behauptet stadteinwärts, sondern stadtauswärts in Richtung Schytomyr, einer Stadt westlich von Kiew? Mit Hilfe von Kartendiensten lässt sich der Aufnahmeort des Videos herausfinden.
Bilder von Mapillary (einer Plattform, auf der Fotos von Straßen veröffentlicht werden) aus 2019 zeigen, dass das Video tatsächlich bei einer Fahrt auf der Autobahn zwischen Kiew und Schytomyr aufgenommen wurde, etwa 16 Kilometer vom Kiewer Stadtzentrum entfernt.
Ein erster Hinweis ist die Ähnlichkeit der Bäume und Laternen links sowie rechts von der Straße. Vor einer Laterne ist ein blaues Straßenschild, unmittelbar danach mündet eine Einfahrt von rechts in die Autobahn, eine Öffnung in der Leitplanke ist zu erkennen.
Außerdem ist im Video rechts in der Ferne eine Leuchttafel. Bei Mapillary findet man dort eine Shell-Tankstelle. Auch eine Trennung zwischen den Fahrbahnen kurz vor der Shell-Tankstelle am Mittelstreifen, die gegen Ende des Videos zu sehen ist, findet man bei dem Kartendienst.
Viele dieser Details, wie das Schild, die Einfahrt rechts und die Trennung am Mittelstreifen lassen sich auch mit Bildern von Google Maps aus 2015 gegenprüfen.
Die angesprochene Shell-Tankstelle liegt auf Fahrbahnseite entgegen der Stau-Richtung – ein Abgleich mit Google Maps zeigt: Sie liegt in Fahrtrichtung Schytomyr, der Stau folglich in Richtung Kiew:
Wie auch die Faktencheck-Redaktion der DPA berichtete, zeigt die Lokalisierung des Videos: Die Aufnahmeperspektive ist in Fahrtrichtung Schytomyr. Der Stau, der auf der linken Seite im Video zu sehen ist, bildete sich also stadteinwärts nach Kiew.
Wir haben Alina Lipp unsere Recherche vorgelegt und nach der Quelle für ihre Behauptung gefragt. Eine Antwort erhielten wir bislang nicht.
Im Russland-Ukraine-Krieg tauchten schon häufiger veraltete Videos auf, die angeblich Fluchtbewegungen dokumentierten. Zum Beispiel kurz nach Putins Teilmobilisierung im September 2022 oder nach dem Drohnenangriff in Sewastopol im Mai 2023.
Einen Überblick mit allen Faktenchecks von uns zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier.
Redigatur: Viktor Marinov, Uschi Jonas