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Die Geschichte vom Sozialbetrug

Mal ist es der Kontoauszug eines Geflüchteten mit einer horrenden Summe Geld, mal ein besonders hoher Arbeitslosengeld-II-Bescheid, mal ein dubioser Zeitungsartikel gespickt mit immensen Zahlen. Im Netz kursieren zahlreiche solcher Dokumente, die belegen sollen, wie Flüchtlinge unser Sozialsystem ausnutzen.

von Pauline Schinkels

Quelle: Screenshot der Seite vom "Deutschen Arbeitgeberverband e.V.", kurz DAV - nicht zu verwechseln mit dem BDA.

Eigentlich ist die syrische Familie schon seit einigen Jahren in Deutschland, und trotzdem sorgt ihre Geschichte noch heute für viel Unmut. Die Familie mit 23 Kindern, vier Ehefrauen und dem Familienvater kam 2015 nach Montabaur. Es dauerte nicht lang und ein Artikel über die Großfamilie und ihre Integrationsschwierigkeiten war in der lokalen „Rhein-Zeitung“ erschienen, wenige Monate später berichtete die „Bild“ über die „XXL-Kinderschar“.

Mitarbeiter der Stadt beschimpft

Entsprechend gemischt waren die Reaktionen auf die Neuankömmlinge, wie der Bürgermeister der Verbandsgemeinde Montabaur, Edmund Schaaf (CDU), damals erläuterte: „Von dem verständlichen Wunsch nach Information bis hin zu Beschimpfungen der mit dem Fall befassten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“

Grund für die Beschimpfungen war vor allem ein Artikel: „30.000 Euro monatlich für syrische Großfamilie“, lautete der Titel eines  Textes, der auf der Internetseite „Deutscher Arbeitgeberverband“ veröffentlicht wurde. Inhalt des Textes: Eine syrische Großfamilie in Montabaur bekommt mehr Geld als viele deutsche Durchschnittsverdiener.

Ein Finanzwirt rechnet vor

Warum? Das rechnete der Autor auch direkt im Text vor: 30.000 Euro an monatlicher Sozialhilfe, macht ein Jahreseinkommen von 360.000 Euro. Und der als Diplom-Finanzwirt ausgewiesene Autor des Textes geht noch weiter. Er vergleicht die Sozialhilfe der syrischen Flüchtlingsfamilie mit dem durchschnittlichen Einkommen eines Handwerkergesellen, das er bei 2.461 Euro festlegt, und kommt zu dem Ergebnis: Mindestens 12,2 Gesellen wären nötig, um auf das Bruttogehalt der Flüchtlingsfamilie zu kommen.

Natürlich sorgte der Vergleich im Netz für viel Aufregung. Der Text wurde zigfach geteilt, unter anderem von den Ortsgruppen der AfD Saarland, Essen und Thüringen. Und noch immer kursiert er im Web, die jüngsten Shares bei Facebook sind gerade einmal wenige Tage alt.

Dabei ist die Summe ziemlich fraglich. „Wir können diese Zahlen nicht nachvollziehen; die Grundlagen für deren Berechnung sind für uns nicht ersichtlich“, stellte Bürgermeister der Verbandsgemeinde Montabaur Schaaf klar. Die Zahlen seien gezielt eingesetzt worden, um Vorurteile zu schüren.

Sozialhilfe von mehr als 1.000 Euro im Monat?

Denn um auf 30.000 Euro im Monat zu kommen, müsste jedes der 28 Familienmitglieder mehr als 1.000 Euro im Monat kriegen, einschließlich aller Kinder. So hoch liegen aber weder die Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes noch die des Sozialgesetzbuches (SGB II). Ein Beispiel: Seit Januar 2017 liegt der Basissatz für Arbeitslosengeld II bei monatlich 409 Euro (gilt für Alleinstehende). Dazu gibt es Zuschüsse für Miete, Heizkosten und gegebenenfalls einmalige Leistungen, wie beispielsweise die Erstausstattung einer Wohnung. 

Die Rechnung ist aber nicht nur deshalb krude: In einer Bedarfsgemeinschaft dürfen nur zwei Lebenspartner eingetragen werden. Im Fall der Großfamilie von Montabaur wurde der Familienvater mit einer Ehefrau in eine Bedarfsgemeinschaft eingetragen. Die übrigen Frauen und Kinder wurden über verschiedene Kommunen verteilt. Es gibt also keine Bedarfsgemeinschaft mit 28 Personen. Das wäre nach dem deutschen Sozialrecht gar nicht möglich.

„Aus dem Ghetto der Political Correctness“

Wie kam der Autor also zu seiner Geschichte? Wer nach dem Deutschen Arbeitgeberverband e.V. (kurz DAV) sucht, wo der Text veröffentlicht wurde, der findet ziemlich schnell heraus: Mit dem deutschlandweit bekannten BDA – sprich der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände e.V. – hat der Verein nichts zu tun. Zur Rubrik „Klartextfabrik“, wo der Text damals erschien, findet sich auf der Seite die Beschreibung: „In ihr arbeiten alle, die uns aus dem Ghetto der Political Correctness befreien.“

Seitdem dieser Artikel im Oktober 2016 veröffentlichte wurde, geistert er durch das Netz. Einen Monat später, landete er im „Wetzlar-Kurier“. Der Wetzlar-Kurier ist eine kostenlose Zeitung. Hier finden sich neben zahlreichen Werbeanzeigen Artikel über Benefizkonzerte, den weihnachtlichen Christstollenverkauf oder die Wetzlarer Bürgerinitiative „Pro Polizei“. Die Auflage liegt, so steht es auf der Seite, bei rund 110.000 Ausgaben, die im Lahn-Dill-Kreis in Hessen verteilt werden. Herausgeber dieser Zeitung ist Hans-Jürgen Irmer. Irmer ist Mitglied der CDU Hessen und Bundestagskandidat für die Bundestagswahl Ende September.

Screenshot Wetzlar-Kurier 112016.png

Auf Seite 4 im Wetzlar-Kurier (11/2016) findet sich der Artikel

Eigentlich war der „Wetzlar-Kurier“ mal ein Parteiblättchen der CDU. Und noch immer steht Herausgeber und CDU-Mitglied Irmer im Vordergrund der Berichterstattung. Aber in der Zeitung finden sich inzwischen auch zahlreiche Artikel, die sich mit den „sogenannten großen Themen wie Innere Sicherheit, Asylmissbrauch, Ausländerkriminalität, Probleme rund um den Islam“ auseinandersetzen. Man wolle, so steht auf der Homepage, eine Gegenöffentlichkeit zu einer vergleichsweise politisch einseitigen Berichterstattung in Wetzlars Monopolzeitung, der WNZ, schaffen.

Bundesweit bekannt wurde die Zeitung, als Irmer, nachdem im „Wetzlar-Kurier“ ein umstrittener Artikel über den Koran veröffentlicht worden war, im Jahr 2015 von seinen Ämtern als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und bildungspolitischer Sprecher der Landtagsfraktion zurücktrat. Seitdem wird auch überregional über Irmer berichtet. Zuletzt etwa, als der CDU-Politiker 2016 einen Artikel für die rechtsnationale Zeitung „Junge Freiheit“ verfasste, in dem er einen Aufnahmestopp von Asylbewerbern forderte.

Kontoauszüge mit Namen veröffentlicht

Zu einem ähnlichen Schauplatz einer virale Empörungswelle wie Montabaur wurde vergangenes Jahr die 35.000-Einwohnerstadt Stadt Merseburg im südlichen Sachsen-Anhalt. Dort stellte Ende vergangenen Jahres jemand den Arbeitslosengeld-II-Bescheid einer afghanischen Flüchtlingsfamilie aus der Stadt ins Netz. Für alle war öffentlich zu lesen, dass die Familie rund 4.300 Euro im Monat bekommt. In dem Bescheid standen ihr vollständiger Name – und ihre Adresse in Merseburg. Unbekannte versuchten daraufhin die Haustür der siebenköpfigen Familie aufzubrechen.

Laut der zuständigen Arbeitsagentur war das hochgeladene Dokument unvollständig. Online standen nur die ersten beiden Seiten. Die eigentliche Summe liege nach allen Abzügen deutlich unter den genannten 4.300 Euro. Das werde bewusst verschleiert, schrieb das zuständige Jobcenter Saalekreis in einer Pressemitteilung vom November 2016 Der Journalisten des MDR rechneten damals auch noch einmal in einer Beispielrechnung nach – und kamen auf etwa 2.100 Euro für die fünfköpfige Familie.

Die Polizei ermittelte damals wegen des Ausspähens von Daten, das Jobcenter stellte eine Anzeige gegen Unbekannt. Nur: wie es zu dem Datenleck im Jobcenter kam und wer das Dokument ins Netz lud, ist bis heute nicht klar. Ein Tatverdächtiger konnte nicht ermittelt werden. Das Verfahren ist laut der zuständigen Staatsanwaltschaft Halle inzwischen eingestellt. Die Familie K. lebt nicht mehr in Merseburg. Sie wurde in einer anderen Kommune untergebracht. Es war ihre zweite Flucht.