G8 oder G9: Die Menschen hinter dem Volksbegehren
Vergangene Woche startete in NRW das erste Volksbegehren seit fast 40 Jahren. Mit rund 1,1 Millionen Unterschriften will die Elterninitiative „G9 jetzt NRW“ ihrer Forderung Nachdruck verleihen und die Politik zu einer Rückkehr zum G9er-Abitur an nordhein-westfälischen Gymnasien bewegen. Doch wer steckt hinter dieser Initiative? Die dritte Folge unserer Serie zum G8-G9-Gewackel in NRW.
Unsere Serie: G8 oder G9
Teil 1 – Volksbegehren gegen das Turbo-Abi gestartet
Teil 2 – Das wollen die Parteien, das die Betroffenen
Teil 3 – Die Menschen hinter der Initiative
Teil 4 – Kritik am Volksbegehren
Teil 5 – Aufstand der Bildungsbürger
„Mehr Zeit für Kindheit und Jugend“ heißt der Verein, den der Siegener Marcus Hohenstein gegründet hat – um die Elterninitiative „G9 jetzt NRW“ zu stützen und Spenden sammeln zu können für die politische Arbeit gegen G8. Allein die 810 Kilogramm bedrucktes Papier für die Unterschriftenbögen haben um die 4.000 Euro gekostet. Die Unterschriften aus der Amtseintragung müssen aus den 396 Kommunen auch wieder abgeholt werden. Dazu kommt die freie Unterschriftensammlung, die wieder bei den Gemeinden geprüft werden muss. „Für die Volksinitiative haben wir das alles über Privatkonten bezahlt. Für über eine Millionen Unterschriften entstehen aber so hohe Ausgaben, dass wir das trennen wollten“, sagt Hohenstein.
Deshalb wurde „Mehr Zeit für Kindheit und Jugend e.V.“ mit neun Mitgliedern gegründet. Die Elterninitiative selbst hat rund 2.500 Beteiligte, die vor allem in Mailverteilern vernetzt sind. Der Name des Vereins ist Programm. Den G8-Schülern fehlt Zeit, erklärt Hohenstein, der selbst Vater einer Sechstklässlerin ist, die zum Gymnasium geht. Eine Einser-Schülerin, sagt er, „aber das ändert gar nichts daran, dass ich mir auch als Vater um G8 Sorgen mache.“
Kinder stehen unter Druck
„Ich kann nicht mehr“, schrieb eine seiner besten Schülerinnen kürzlich unter die Physikleistungskursklausur. Darauf angesprochen, brach sie in Tränen aus. Berichtete, dass sie bis spät abends lernt, sich nichts mehr merken kann, immer das Gefühl hat, dass das nicht reicht. Marcus Hohenstein beugt sich vor am Cafétisch in Dortmund, wenn er das erzählt – an seinem freien Tag unter der Woche, den er hat, weil er auf halber Stelle arbeitet. Eigentlich hatten er und seine Frau sich das bei der Geburt ihrer Tochter überlegt – um mehr Zeit füreinander zu haben. Jetzt braucht er seine Freizeit fürs Politikmachen, trifft Journalisten, Politiker, Verbandschefs, andere Eltern.
„Dieses Mädchen ist kein Einzelfall, das macht G8 mit so vielen Kindern“, sagt Hohenstein. „Grundlagen können nicht mehr so erarbeitet werden und erst Recht nicht vertieft. Gerade leistungsstarke und ehrgeizige Schüler setzt das unter Druck, weil sie ja merken, dass sie den Stoff nicht wirklich durchdringen. Andere werden davon faul, weil es eh kaum zu schaffen ist.“ Gute Noten, die trotzdem geschrieben werden, sind für Hohenstein nur bedingt aussagekräftig. „Das Bildungsniveau ist dennoch schlechter, weil man durch die Inhalte rast. Um besorgten Eltern Sand in die Augen zu streuen, wurde dann noch ein paar Stunden in den Nebenfächern weggekürzt – zulasten der Inhalte.“
Keine Zeit, sich zu entwickeln
Hohenstein fasst den Bildungsbegriff weiter. Die Muße für Bücher jenseits des Pflichtprogramms fehle, erklärt der Sprecher der Elterninitiative. Die Zeit für Hobbies werde knapper „und damit die Zeit, sich als Persönlichkeit zu entwickeln und zu bilden.“ Der erzwungene Ganztag nehme Familien die Zeit für gemeinsame Mittagessen, dränge Familien Zeitabläufe auf, die gemeinsame Unternehmungen schwieriger machen, weil die Kinder Zeitpläne wie Berufstätige haben „und dann keiner mehr füreinander Zeit hat.“
Auf der Webseite versammelt Hohenstein auch Stimmen von Verbänden wie dem Kanu-Verein NRW, dem Deutschen Tonkünstlerverband oder dem Olympischen Sportbund, die im G8 die Gefahr sehen, dass die Jugendlichen schlicht keine Zeit mehr haben, Vereinssport zu machen, ein Musikinstrument zu lernen – oder sich ehrenamtlich zu engagieren. „Im ganzen Land berichten das Eltern“, sagt Hohenstein.
Eine bundesweite Bewegung
Die Elterninitiative ist tatsächlich gut vernetzt: 16 Ansprechpartner nennt sie, verteilt überall in NRW. In den sozialen Medien wenig präsent, funktioniert das Netzwerk über Bekannte, über Mundpropaganda in Schulen, Kirchengemeinden, auf Marktplätzen, in Cafés. Marcus Hohenstein ist seit der Gründung 2013 Sprecher der Initiative. Er hat sie gegründet, weil er die Petition der Dortmunder Schülerin Merle Ruge gegen G8 las. „Über die wurde damals im Landtag nur gelächelt“, sagt er. „Wir sind kein Experiment“, hatte die Siebtklässlerin geschrieben, alle seien gestresst von dem Arbeitspensum, G9 soll zurück.
„G9 Jetzt“-Elterninitiativen gibt es auch in Schleswig-Holstein, Hamburg, im Saarland, Berlin und Baden-Württemberg. „Wir kennen uns und tauschen uns aus“, sagt Hohenstein. Ein Volksbegehren ist aber Premiere in der Bewegung. In NRW gab es das letzte vor 39 Jahren. Es hieß „Stop Koop“. Die „Bürgeraktion Volksbegehren gegen kooperative Schulen“ sammelte über drei Millionen Stimmen gegen die Zusammenlegung aller Schulformen zu einer Einheitsschule – die entsprechend nicht kam. Damals unterstützte die CDU die Sammlung.
„Wir sind parteiunabhängig.“
Eine solche Unterstützung einer Partei gibt es diesmal nicht. Parteiunabhängig zu sein, ist für Hohenstein zentral. Von den neun Vereinsmitgliedern sei niemand Parteimitglied. „Wir haben das voreinander offengelegt und würden das bei jedem neuen Mitglied sofort ansprechen“, sagt Hohenstein. Eine „Gesinnungsprüfung“ bei den Eltern in der Initiative gäbe es „natürlich nicht“. Es gibt auch keine Aufnahmeanträge oder offizielle Mitgliedschaften.
„Wir sind politisch bunt gemischt von links bis konservativ. Es eint uns, dass wir über den Bildungsweg unser Kinder entscheiden wollen, und wir den jetzigen falsch finden“, sagt Hohenstein. Allein deshalb müsse man parteiunabhängig bleiben. „Wir arbeiten ausschließlich an dieser einen Sache, zusammen mit allen, die dafür sind und wollen Bürger in dieser einen Sache bewegen.“
Vor zwei Jahren hatte die AfD Hohenstein angefragt, auf einem Parteitag zu sprechen. Er lehnte ab. Generell mache sich die Bewegung mit keiner Partei gemein – auch, wenn sie ebenso das Ziel G9 verfolgt. „Mit Parteien am extremen Rand ist es für uns als Bewegung besonders problematisch. Wir lassen uns nicht instrumentalisieren“, sagt Hohenstein. „Auf den Unterschriftenlisten darf kein Parteilogo auftauchen.“ Unterstützung beim Volksbegehren schließt das aber nicht völlig aus.
„G8 ist keine Grundlage“
Hilfe beim Unterschriftensammeln hat bislang die Piratenpartei in NRW angeboten. „Wie wir das logistisch alles hinkriegen, weiß ich noch gar nicht genau“, sagt Hohenstein. Nach dem Ende der Amtseintragung, bei der jeder Wahlberechtigte noch bis zum 7. Juni diesen Jahres in den Rathäusern und Bürgerbüros der NRW-Kommunen seine Unterschrift abgeben kann, hat die Initiative noch bis zum 4. Januar 2018 Zeit, selbst Unterschriften zu sammeln. Ob es klappt, „darüber kann auch ich nur spekulieren“, sagt Hohenstein. Er hofft, schon mit der Amtseintragung alle Stimmen zu haben, damit G9 bereits zum Schuljahr 2017/18 zurückkommt.
Die Vorschläge von flexiblen Oberstufen wie sie der SPD vorschweben, aber auch die individuelle Lernzeit der Grünen sieht er nicht als Lösung an. „G8 ist keine Grundlage, an die man jetzt irgendein flexibles Jahr dranbauen kann, und dann hat man wieder ein gutes G9. Wir müssen zurück zu G9. Dann kann man alles Mögliche wirklich verbessern.“ Und wer ein Jahr überspringen will, „der konnte das schon immer.“