Der Prozess, Tag 7
Der siebte Prozesstag in einem der größten Medizinskandale der Nachkriegszeit. Diesmal geht es um den vorgeworfenen Kassenbetrug. Thomas Tix sagt als Zeuge vor Gericht aus. Er ist Prokurist der ALG GmbH, die alle Kassenrezepte der Alten Apotheke abrechnete. CORRECTIV berichtet aus dem Gerichtssaal.
Der Fall: Die Staatsanwaltschaft wirft dem Bottroper Apotheker Peter Stadtmann vor über 60.000 Krebsmittel gestreckt und so die Krankenkassen um mehr als 56 Millionen Euro betrogen zu haben. Als wichtiges Indiz gilt für die Anklage die beschlagnahmte Buchhaltung der Alten Apotheke, nach der weit weniger Wirkstoffe eingekauft wurden, als an die Patienten vergeben. Tausende Patienten in sechs Bundesländer sind betroffen.
Anzahl der Nebenkläger: 29 + 1 Adhäsionsklägerin (Zivilrecht im Strafprozess)
Tag 7: Zeuge Rezepte
Datum: 29.11.2017
Im Gerichtssaal 101 ist eine Leinwand samt Beamer aufgebaut. Von den Presseplätzen und aus dem Zuschauerraum ist nur die Rückseite der Leinwand zu sehen. Es geht um Details der Excel-Tabellen aus den Abrechnungen der ALG GmbH. Knapp 20 Zuschauer sind heute zur Verhandlung im Landgericht Essen gekommen. Außer CORRECTIV sind keine Journalisten im Saal.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Peter Stadtmanns Anwälten gelingt es, zwei mögliche Rechenfehler der Staatsanwaltschaft aufzuzeigen. Nach der Verhandlung sind sie gut gelaunt und verlassen lachend das Gerichtsgebäude. Stadtmann selbst wirkt während der Vernehmung des Zeugens konzentriert. Immer wieder schweift sein Blick in den Zuschauersaal. Der mysteriöse Besucher der letzten Tage, der mit der Verteidigung zusammenarbeitet, fehlt heute.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Viele der Betroffenen sind auch heute als Nebenklägerinnen und -kläger im Gericht erschienen. In den Verhandlungspausen erzählen sie von privaten Dokumenten ihrer Krebsbehandlungen. Sie hätten darauf vergeblich nach konkreten Wirkstoffnamen gesucht. Lediglich der allgemeine Begriff Zytostatika tauche dort auf. Welche konkreten Therapien das waren, könnten sie im Nachhinein zumindest anhand dieser Dokumente nicht nachvollziehen.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
- Nebenklage will mehr Akteneinsicht: Noch immer sind viele Dokumente, die die Anwälte der Nebenkläger erhalten haben, geschwärzt. Ein Anwalt der Nebenklage beantragt nun für die konkrete Befragung des Zeugens, geschwärzte Dokumente, die die ALG GmbH betreffen, freizugeben. Das Fragerecht der Nebenklage könne nur wahrgenommen werden, wenn man in diesem Bereich vollständige Akteneinsicht habe, sagt der Anwalt, „die Nebenklage wird sonst zum Zaungast“. Der Richter lehnt den Antrag kurze Zeit später ab. Es sei vom Gesetzgeber nicht vorgesehen, dass die Nebenklage die gleichen Akteneinsichtsrechte wie die Verteidigung habe, sagt der Richter. Die Verhandlung geht deshalb wie geplant weiter.
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Zeuge Abrechnungsgesellschaft: Der Prokurist Thomas Tix von der ALG GmbH sagt als Zeuge aus. Die Firma ist auf die Abrechnung von Rezepten für Apotheken und Ärzte spezialisiert. Die Alte Apotheke rechnete mit der Firma laut Tix ab 2012 alle Kassenrezepte und später auch Privatrezepte ab. Über Aufstellungen von Kassenrezepten der ALG hat die Staatsanwaltschaft den wirtschaftlichen Schaden von über 56 Millionen Euro durch die gestreckten Krebsmittel errechnet, die den Krankenkassen entstanden sind.
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Herstellerrabatt und die tatsächliche Einkaufsmenge: Über die ALG GmbH wurden auch die gesetzlich vorgesehenen Herstellungsrabatte an die Krankenkassen gezahlt. Im Sozialgesetzbuch sind diese Nachlässe geregelt. Das Prinzip ist ganz einfach. Für jede verkaufte Packung eines Medikamentes erhält die Krankenkasse einen speziellen Rabatt. Diese Rabattzahlungen hätten für die Hersteller ein Hinweis sein können, dass es in dem Zytolabor der Alten Apotheke nicht mit rechten Dingen zugehen könnte. Denn wenn die Krankenkasse von einem Hersteller mehr Rabatt für den Verkauf eines Zytostatikum aus der Alten Apotheke verlangt, als der Hersteller an Peter Stadtmann geliefert hat, könnte dies auffallen. Zwar gehen Krebsmittel auch über Großhändler, aber gleichwohl hätte die Differenz eines Rabatt für eine Menge von einem Krebsmittel, die in dieser Höhe nie tatsächlich geliefert worden ist, ein Hinweis sein können. Die Verteidiger verwehrten einem Anwalt der Nebenklage weitere Nachfragen zu dem Thema. Der Richter Hidding stimmte dem Einwurf der Verteidigung zu.
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Krankenkassen halten drei Millionen Euro zurück: Die Krankenkassen haben sich schon drei Millionen für mögliche Schadensersatzansprüche gesichert, sagt der Zeuge Tix. Dieses Geld hat die Alte Apotheke bisher nicht erhalten. Auf Nachfrage der Nebenklage bestätigt Tix, dass „Frau Stadtmann“ die Alte Apotheke jetzt leitet, also die Mutter des Angeklagten. Der ALG GmbH schuldet die Alte Apotheke nach Aussage von Tix noch ungefähr 30.000 Euro. Der Richter Hidding belehrte den Zeugen, dass er keine weiteren Fragen zu der neuen Besitzerin der Apotheke beantworten müsse. Dies tat Tix dann auch nicht.
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Mögliche Rechenfehler der Staatsanwaltschaft: Thomas Tix beantwortet alle komplexen Fragen zur Abrechnung sicher. Der Verteidigung gelingt es, zwei mögliche Rechenfehler aufzuzeigen, die die Staatsanwaltschaft nach der Durchsicht der Akten der ALG gemacht haben könnte. Dies freut die Verteidiger sichtlich. Aber ein Anwalt der Nebenklage sagt, dass diese Rechenfehler minimal seien und nichts am Gesamtbild ändern würden.
Video:
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Am nächsten Verhandlungstag am Mittwoch, den 06.12.2017, wird die Whistleblowerin Marie Klein als Zeugin aussagen. Zusammen mit Martin Porwoll hat sie die Ermittlungen gegen Stadtmann angestoßen. Marie Klein hatte einen Infusionsbeutel aus der Alten Apotheke zur Polizei gebracht.
Tag 6: Zeugin Kripo II
Datum: 27.11.2017
Knapp 20 Zuschauer sind diesmal zur Verhandlung im Landgericht Essen gekommen. Das Medieninteresse hat dagegen nachgelassen. Nur vier Presseplätze sind besetzt. Peter Stadtmann schweigt weiter zu den Vorwürfen. Der Vorsitzende Richter Johannes Hidding möchte wissen, ob im Laufe der Verhandlung noch mit einer Aussage Stadtmanns wenigsten zu seinem Lebenslauf zu rechnen sei. Seine Anwälte wollen das mit ihrem Mandanten besprechen. Sollte er nicht aussagen, will der Richter Zeugen zu den Lebensumständen von Peter Stadtmann befragen.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Peter Stadtmann und seine Anwälte wirken sehr defensiv. Den souveränen Schilderungen der Kriminalkommissarin Kathrin Gesing haben sie wenig entgegenzusetzen. In den ersten Verhandlungstagen vermied Stadtmann den Blickkontakt mit den Nebenklägerinnen und -klägern. Sie sitzen ihm im Gerichtssaal direkt gegenüber. Heute schweift sein Blick oft durch den Saal.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Die Betroffenen verfolgen, wie schon an den vorherigen Tagen, konzentriert alle Aussagen. Den sicheren Auftritt der Zeugin nehmen sie erleichtert auf, denn die unsicheren Aussagen der vorherigen Ermittlungsbeamte haben sie verunsichert.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
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Die Analysen des LZG: Zu Beginn der Verhandlung geht es noch einmal um den Sachverständigen Christoph Luchte und die Analysen des Landeszentrum Gesundheit NRW. Die Nebenklage und und die Verteidigung wollen die detaillierten Dokumentationen und Rohdaten zur Untersuchung jeder Probe anfordern. Luchte hatte ausgesagt, dass diese Dokumentationen in circa 20 Aktenordner im LZG lagern. Er hatte außerdem von sich aus Fehler im Gutachten berichtigt wie zum Beispiel kleinere Tipp- und Übertragungsfehler. Daraus folgern die Verteidiger, dass Luchte und seine Mitarbeiter noch weitere Fehler gemacht hätten. Die Verteidiger werfen Luchte vor, dass er die Untersuchungen nur beaufsichtigt habe, sie aber nicht selbst ausführte. Er sei wie ein Chefarzt, der nicht selbst operiert habe, aber versichert, dass der Eingriff nach allen Regeln der Kunst abgelaufen sei.
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Souveräne Zeugin: Kathrin Gesing von der Kriminalpolizei Bottrop sagt vor Gericht als Zeugin aus. Sie führte zusammen mit Ulrich Herold die Ermittlungenen gegen Peter Stadtmann. Auf Nachfrage des Staatsanwaltes berichtet die Kommissarin von der Übergabe des ersten Infusionsbeutels durch die Angestellte der Alten Apotheke Marie Klein. „Frau Klein schüttelte den Beutel vor meinen Augen. Ich konnte keinen Schaum sehen.“ Auch ein Einstichloch konnte sie demnach nicht erkennen. Beides hätte laut den Erklärungen von Marie Klein aber deutlich zu sehen sein müssen: der Schaum, weil die deklarierten Wirkstoffe chemisch miteinander reagieren; und das Einstichloch, weil der Wirkstoff per Spritze injiziert wird.
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Argument der Verteidigung widerlegt: Der Vorsitzende Richter Johannes Hidding befragt die Kommissarin Gesing auch zu den sogenannten Verwürfen. Stadtmanns Anwälte hatten behauptet, dass der Apotheker mit den Resten angebrochener Wirkstoffpackungen die fehlende Einkaufsquote ausgeglichen hätte. Gesing widerlegt diese Theorie mit wenigen Sätzen. Der Verwurf sei bereits Teil der Einkaufsmenge. Das heißt, die Differenz zwischen verkauften und gekauften Wirkstoffen würde in diesem Fall noch größer. Der Vorsitzende Richter grinst.
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Der Notfallplan am Tag der Razzia: Wieder taucht die Frage auf, wer sich am Tag der Razzia in der Alten Apotheke um Ersatzmedikamente für die Patienten kümmerte. Die Verteidigung versucht dadurch Stadtmann in ein gutes Licht zu rücken. Er habe sich darum bemüht, schnell Ersatz für die Therapien bereitzustellen. Dabei gibt es für jede Zyto-Apotheke einen Notfallplan. In diesem Fall war der Apotheker Hubertus Ahaus aus Soest vorgesehen. Ahaus sagt, dass er von der Amtsapothekerin Hanneline Lochte angefragt wurde, die Versorgung der Patienten zu übernehmen. Von Stadtmann schreibt Ahaus in der Antwort auf eine CORRECTIV-Anfrage nichts.
Die Antwort im Wortlaut:
„Unser Unternehmen wurde am Morgen des 29.11.2016 darüber informiert, dass das Labor der Alten Apotheke geschlossen worden sei. Wir wurden sodann von der für Bottrop zuständigen Amtsapothekerin gebeten, kurzfristig die Versorgung der Patienten in Lohnherstellung für die Alte Apotheke zu übernehmen. Diese Lohnherstellung erfolgte über einen Zeitraum von wenigen Tagen und im Rahmen eines Vertrages, der bereits früher auf eine entsprechende Forderung der zuständigen Behörde geschlossen worden war, um im Fall eines unvorhersehbaren Ausfalls der Produktionsstätten die Versorgung der Patienten sicherzustellen. Solche Verträge sind branchenüblich (…).“
Video:
Berichterstattung:
Hintergrund: Kampf um Gutachten (CORRECTIV.Ruhr)
Hintergrund: Der Apotheker – Stadtmanns Geschichte (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Am nächsten Verhandlungstag am Mittwoch, den 29.11.2017, wird der Zeuge Thomas Tix aussagen. Er ist Mitarbeiter der ALG GmbH. Über diese Firma lief die Rezeptabrechnung der Alten Apotheke. Die Rezepte sind ein zentraler Teil der Anklage, weil auf den ausgestellten Verordnungen der Ärzte die Berechnung des benötigten Wirkstoffes basiert.
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Tag 5: Zeuge LZG II
Datum: 22.11.2017
Heute sind knapp 30 Zuschauer in den Saal 101 im Landgericht Essen gekommen. Auch der auffällige Beobachter sitzt wieder im Pressebereich des Zuschauerraums. Wie am vierten Prozesstag, schreibt er alle Details der pharmazeutischen Erklärungen detailliert mit. Die Mittagspause verbringt er mit Stadtmanns Anwälten. Der Zeuge und Sachverständige Christoph Luchte vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG) beantwortet stundenlang souverän die Fragen des Richters, des Staatsanwalts, der Nebenklage und der Verteidigung.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Peter Stadtmann ist sehr konzentriert. Als Apotheker kann er den Ausführungen des Sachverständigen besser folgen als seine Anwälte. Immer wieder scheint er ihnen Details zu erläutern. Seine Verteidiger wirken unsicher, verhaspeln sich bei Fragen mehrfach.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Die Betroffenen versuchen den komplizierten pharmazeutischen Ausführungen von Luchte zu folgen. Das ist für Laien sehr schwierig. Die Befragung zieht sich von 09:30 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags. Dazwischen eine Stunde Mittagspause. Viele der Nebenklägerinnen und -kläger wirken körperlich angeschlagen. Die langen Verhandlungstage sind für sie schwer durchzuhalten.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
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Hätten Ärzte es merken können? Zwei Infusionen, zwei Farben. Der Sachverständige Luchte berichtet von diesem interessanten Detail. Bei der Razzia im Zyto-Labor der Alten Apotheke wurden zwei Zubereitungen beschlagnahmt, die laut Herstellungsprotokoll die exakt gleiche Konzentration von Folinsäure enthalten sollten. Im Labor stellte sich heraus: Eine war korrekt, die andere unterdosiert. Das konnte man wohl auch mit bloßem Auge erkennen. Auf den Fotos vom Tag der Razzia fiel Luchte etwas auf: Die korrekte Infusion war gelb eingefärbt und die unterdosierte farblos. „Es war visuell nachvollziehbar, dass viel weniger Wirkstoff enthalten war“, sagt Luchte. Hätten dann nicht auch die behandelnden Ärzte auf farblose Infusionen aufmerksam werden müssen?
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Liest der Richter CORRECTIV? Der Vorsitzende Richter Johannes Hidding möchte vom Sachverständigen Luchte wissen, ob das LZG detaillierte Dokumentationen und Rohdaten zur Untersuchung jeder Probe erhoben hat. Die Frage bezieht sich auf ein von der Verteidigung in Auftrag gegebenes Gutachten von Fritz Sörgel. Der renommierte Pharmazeut Sörgel hatte nach Informationen von CORRECTIV bemängelt, dass das LZG in seinem Bericht für das Gericht nicht ausreichend darlege, wie es zu den Ergebnissen der Wirkstoffanalyse gelangt sei. Laut Luchte hat das LZG aber alle Proben ausführlich dokumentiert. „Das sind circa 20 Aktenordner. Eine Menge Papier. Externe Experten könnten diese Dokumentation überprüfen“, erklärt Luchte. Der Richter Hidding lässt durchblicken, dass er gedenkt, diese umfangreichen Dokumente anzufordern und Stichproben prüfen zu lassen. Sollten unabhängige Experten die Daten ohne Beanstandung überprüfen, wären die Zweifel der Verteidigung an den Wirkstoffanalysen widerlegt. Wir haben bereits gestern ausführlich zum Hintergrund des Streits um die Gutachten berichtet.
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Neue Erklärungsversuche der Verteidigung: Stadtmanns Anwälte scheinen nach den überzeugenden Antworten des Sachverständigen Luchte zur umfangreichen Dokumentation des LZG von ihren Zweifeln an den Wirkstoffanalysen abzurücken. Stattdessen befragen sie Luchte, ob es denkbar sei, dass in den von den Herstellern gelieferten Ausgangswirkstoffen weniger als der deklarierte Wirkstoff enthalten gewesen sei. Indirekt bezweifeln sie damit die Minderdosierung nicht mehr und liefern eine neue Erklärung, die die Differenz zwischen eingekauften und verkauften Wirkstoffen erklären soll. Der Sachverständige Luchte kann dazu keine Angaben machen. Im Interview mit CORRECTIV erklärt der Anwalt der Nebenklage Aykan Akyildiz, warum diese Argumentation keinen Sinn macht. „Dann müsste man davon ausgehen, dass das bei sämtlichen Proben so gewesen ist. Und so war es ja nicht. Es gab durchaus Proben, die sichergestellt wurden und den vollen Wirkstoff enthielten. Das wäre dann schon ein merkwürdiger Zufall.“ Zusätzlich haben die Anwälte Stadtmanns noch eine weitere neue Erklärung für die Unterdosierungen. An den beschlagnahmten Infusionen hing teilweise Infusionsbesteck. In der Befragung des Zeugen Luchte wollen die Verteidiger wissen, ob möglicherweise die Wirkstoffkonzentration im Infusionsschlauch höher gewesen sein könnte als in der Infusion selbst. „Das sind Lösungen, deshalb sind wir nicht davon ausgegangen“, sagt Luchte.
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Referenzproben und Blitzlicht: Bei einem weiteren Punkt scheinen die Verteidiger Angriffsmöglichkeiten zu sehen. Dabei geht es um sogenannte Referenzproben. Krebstherapien können je nach Wirkstoff sehr instabil und lichtempfindlich sein. Deshalb werden sie normalerweise erst kurz vor der Behandlung zubereitet und falls nötig vor Licht geschützt. Um auszuschließen, dass die Unterdosierung nicht auf einem Abbau der Wirkstoffe beruht, hatte das LZG von allen beschlagnahmten Therapien Kopien angefertigt und untersucht. Das sind die Referenzproben. Stadtmanns Anwälte bemängeln nun, die Referenzproben und die beschlagnahmten Zubereitungen seien nicht vergleichbar. Die bei der Razzia sichergestellten Arzneien seien von der Kripo mit Blitzlicht fotografiert und mit dem Auto ins LZG nach Münster transportiert worden. Die Referenzproben nicht. Allerdings: Wenn Autofahrten die Stabilität eines Wirkstoffes zur Bekämpfung von Krebs beeinflussen, wieso war es dann erlaubt, dass täglich Autos der Alten Apotheke aus Bottrop Zytostatika nach Düsseldorf zum Brustkrebspezialisten Mahdi Rezai lieferten?
Video:
Berichterstattung:
Kampf um Gutachten (CORRECTIV.Ruhr)
Hintergrund: Sieben offene Fragen zu den gepanschten Medikamenten (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Am nächsten Verhandlungstag am Montag, den 27.11.2017, wird die Kriminalkommissarin Kathrin Gesing vor Gericht als Zeugin aussagen. Sie hatte zusammen mit Ulrich Herold die Ermittlungenen gegen Peter Stadtmann geleitet. Zusammen mit dem LZG-Sachverständigen Christoph Luchte sicherte sie außerdem am Tag der Razzia im Zyto-Labor die Krebstherapien. Stadtmanns Anwälte haben schon bei der Vernehmung von Kommissar Herold versucht, ihm Fehler oder Ungenauigkeiten während der Razzia nachzuweisen. Das werden sie wohl auch am Montag bei seiner Kollegin versuchen.
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Tag 4: Zeuge LZG
Datum: 20.11.2017
Acht Journalisten sitzen in der ersten Reihe des Zuschauerraumes. Dahinter bleiben zwei für die Presse reservierte Stuhlreihen leer. Auch die Zuschauer sind überschaubar. Ein Zuschauer im eleganten grauen Anzug fällt auf. Er schreibt detailliert mit. In der Verhandlungspause gesellt er sich zu Stadtmanns Anwälten. Welche Funktion er für die Verteidigung hat, ist unklar. Der Vorsitzende Richter setzt zwölf weitere Verhandlungstage an. Der Prozess wird mindestens bis März 2018 laufen.
Welchen Eindruck machte Peter Stadtmann?
Bei der Befragung des Sachverständigen und Apothekers Christoph Luchte geht es um pharmazeutische Details. Peter Stadtmann fixiert den Gutachter vom Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen mit düsterem Blick und runzelt immer wieder die Stirn. Während des souveränen Auftritts von Luchte verdunkeln sich auch die Mienen der Verteidiger.
Welchen Eindruck machten die Betroffenen?
Der Auftritt des starken Zeugen Luchte beruhigt die Nebenkläger- und klägerinnen. In den ersten Tagen wirkte die Nebenklage teilweise gespalten. Jetzt rücken die Anwälte der Nebenkläger zusammen. Die Betroffenen wollen die Ablehnung des Sachverständigen Christoph Luchte verhindern. Ihre Anwälte verfassen dazu eine gemeinsame Erklärung. Es gilt, was viele Betroffene schon in ihrem Kampf gegen den Krebs erlebt haben: Gemeinsam ist man stärker.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
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Fortsetzung ohne Ergänzungsschöffen: Die Kammer weist den Antrag der Nebenkläger auf Aussetzung des Prozesses zurück. Die Verhandlung geht wie geplant weiter. Allerdings mit einem Risiko. Es steht kein Ersatzschöffe bereit. Sollte einer der zwei aktuellen Schöffen ausfallen, würde der Prozess platzen. Die Entscheidung begründet der Vorsitzende Richter Johannes Hidding mit dem Grundsatz der Beschleunigung und dem Recht auf den gesetzlichen Richter. Damit gemeint sind zwei Dinge: Eine Neuansetzung würde die Verhandlung verzögern. Das ist aus Sicht der Richter nicht vertretbar. Hinzu kommt das Recht auf den gesetzlichen Richter. Der Richter und die Schöffen werden nach einem gesetzlich bestimmten Verfahren bestimmt. Nachträglich berufene Ersatzschöffen lehnt Hidding deshalb ab. Die eventuelle Gefahr eines Scheitern des Prozess reicht nicht aus, um die Kammer neu zu besetzen.
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Verteidiger wollen Sachverständigen verhindern: Am vierten Verhandlungstag soll der Zeuge und Sachverständige Christoph Luchte aussagen. Luchte ist Apotheker und einer der Laborleiter im Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen (LZG). Er hatte die Razzia im Zyto-Labor der Alten Apotheke begleitet und später ein Gutachten zu den Therapien geschrieben. Das LZG hat zusammen mit dem Paul-Ehrlich-Institut die beschlagnahmten Krebstherapien auf Wirkstoffe geprüft. Die Anwälte Stadtmanns wollen verhindern, dass der Laborleiter Luchte zum Sachverständigen ernannt wird. Sie verweisen in ihrem Ablehnungsgesuch auf drei zentrale Gründe. Demnach habe Christoph Luchte seine Kompetenzen überschritten, als er in seinem Gutachten auf Paragraphen im Pharmagesetz verwies. Als Sachverständiger sei es ihm nicht erlaubt, sich zu rechtlichen Aspekten der Untersuchung zu äußern. Als zweiten Punkt werfen sie der Staatsanwaltschaft vor, der Laborleiter sei in die Ermittlungsarbeit eingebunden worden. Für diese Argumentation nutzen die Anwälte Stadtmanns ein Zitat des Kriminialhauptkommissars Ulrich Herold. Er hatte am zweiten Verhandlungstag ausgesagt, dass Luchte bei der Untersuchung des Reinraumlabors im Zuge der Razzia „freie Hand gehabt habe“. Die Verteidiger nutzen unbedarfte Aussagen der Zeugen vor Gericht. Das dritte Argument der Verteidigung ist der angeblich „unsachliche Stil im Gutachten“. Christoph Luchte hatte im Gutachten hinter die Feststellung, dass die beschlagnahmten Zubereitungen unterdosiert waren, ein Ausrufezeichen gesetzt. Dieses Ausrufezeichen interpretieren die Verteidiger als Wertung. Generell habe Luchte „einen sehr hohen Belastungseifer offenbart“. Das widerspreche der Neutralitätspflicht eines Sachverständigen.
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Staatsanwalt kommt in Fahrt: Der Staatsanwalt wirkte bisher oft defensiv. Heute entkräftet er alle Kritikpunkte der Verteidigung in seiner Stellungnahme. Sachverständiger müssten immer juristische Einordnungen vornehmen, argumentiert der Staatsanwalt. Denn seine Aufgabe sei es ja allen Prozessbeteiligten klar zu machen, wie die Ergebnisse einzuordnen sind. Polizeibeamte hätten während der Razzia im Zytolabor den Gutachter Luchte ununterbrochen begleitet und die Medikamente mitgesichert. Damit sei klar, dass Luchte nie Ermittlungen selbst geführt habe, sondern die Kriminalpolizei. Auch auf den Punkt der Ausrufezeichen im Gutachten geht der Staatsanwalt ein. „Völlige Spekulation“ sei die Deutung der Verteidiger. Wofür die Ausrufezeichen stehen, könne letztendlich nur Luchte wissen.
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„Stadtmann klammert sich an Ausrufezeichen“: Die Nebenkläger gehen auf die Unterstellungen der Verteidigung in einer gemeinsamen Erklärung ein. „Herr Stadtmann klammert sich nicht an einen Strohhalm, sondern an ein Ausrufezeichen“, sagt der Nebenklage Anwalt Khubaib-Ali Mohammed. Inhaltlich argumentieren sie wie der Staatsanwalt.
- Erfolg für die Anklage: Stadtmanns Anwälte scheitern mit ihrem Ablehnungsgesuch gegen den Sachverständigen Christoph Luchte. Der Apotheker und Laborleiter des LZG kann nach stundenlangem Warten den Saal betreten und als Zeuge und Sachverständiger aussagen. Luchte sagt, dass das LZG bei der Prüfung von Zytostatika Expertise habe, und verweist auf das Projekt ZYTOK von 2012. Der wichtigste Zeuge der Anklage berichtet detailliert und kompetent von den Analysemethoden der beschlagnahmten Krebsmedikamente. Er wirkt deutlich sicherer als die vorherigen Zeugen der Kriminalpolizei. Immer wieder erfragt der Vorsitzende Richter Johannes Hidding Details zu den komplexen Untersuchungen. Luchte kann alle Fragen souverän beantworten. Er soll am nächsten Verhandlungstag weiter berichten.
Video:
Berichterstattung:
Projekt ZYTOK: Bottrop nicht geprüft (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Am nächsten Verhandlungstag am Mittwoch, den 22.11.2017, wird die Aussage des Sachverständigen und Zeugen Christoph Luchte fortgesetzt. Dann haben auch Staatsanwaltschaft, Nebenklage und Verteidigung die Möglichkeit Fragen zu stellen. Der eigentlich für Mittwoch geladene Zeuge Dr. Siegfried Giess vom Paul-Ehrlich- Institut wird für einen anderen Tag geladen.
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Tag 3: Neuer Schöffe
Datum: 17.11.2017
Der Medienrummel der ersten Tage ist vorbei. Nur wenige Journalisten begleiten den Prozess am dritten Tag. Dafür wird es auf der linken Seite des Saales langsam eng. Denn dort sitzen die Nebenkläger und -klägerinnen. Ihnen ist es wichtig jeden Prozesstag zu begleiten.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Der Angeklagte hört aufmerksam zu. Während der Vernehmung des Zeugen Björn Tröster, Wirtschaftsexperte der Kripo, macht Stadtmann sich Notizen. Immer wieder flüstert er seinen Anwälten Informationen zu, als im Gerichtssaal über Wirkstoffe und Lagerbestände diskutiert wird.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Die Nebenklägerinnen tragen auch am dritten Verhandlungstag weiße Rosen und wollen damit ihre Verbundenheit ausdrücken. Sie verfolgen den Verlauf des Prozesstages akribisch und melden sich sogar zweimal selbst zu Wort.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
- Neuer Schöffe und mögliche Aussetzung des Verfahrens: Gleich zu Beginn der Verhandlung erklärt der Vorsitzende Richter Johannes Hidding den Schöffen Heinz-Jürgen Kranfeld auf Antrag einiger Nebenkläger für befangen. Er scheidet damit aus dem Prozess aus. Kranfeld hat selbst als Apotheker in Bottrop gearbeitet. Seine Ehefrau wird aktuell in der onkologischen Praxis von Dirk Pott zur Krebsnachsorge behandelt. Die Praxis von Pott gehörte zu den wichtigsten Kunden von Stadtmann. Die Verteidiger von Peter Stadtmann sehen in dem Arzt einen Entlastungszeugen. Für den ausgeschiedenen Schöffen Kranfeld rückt der dafür vorgesehene Ergänzungsschöffe Frank Laskowski nach.
- Gefahr für Prozess: Das bedeutet allerdings, für die beiden aktuellen Schöffen gibt es jetzt keinen Nachrücker mehr. Das ist eine Gefahr für den ganzen Prozess. Der Prozess wird lange dauern. Sollte zu irgendeinem Zeitpunkt ein weiterer Schöffe ausfallen, gäbe es kein Ersatz mehr für ihn. Dann müsste der Prozess neu angesetzt werden. Sollte dies nach vier bis fünf Monaten passieren, könnte die Verteidigung von Peter Stadtmann sogar fordern, dass der Angeklagte dann aus der Untersuchungshaft entlassen werden müsse.
- Lieber früh als spät: Dies wollen die Anwälte der Nebenklage verhinden, und lieber jetzt am Anfang des Prozesses die Notbremse ziehen. Der Prozess ist erst drei Tage alt, das neue Verfahren könnte innerhalb von einer Woche neu aufgestellt werden und dann gleich mit zwei Ersatzschöffen. „Es muss dann nur noch mal die Anklage neu verlesen werden und die zwei Zeugen gehört werden“, sagt der Anwalt der Nebenklage Khubaib-Ali Mohammed. Die Tagungstermine seien ja schon terminiert. Dann sei sicher, sagt Mohammed, dass der Prozess nicht später platzen würde und Stadtmann dann womöglich auf freien Fuß käme.
- Kein Schwurgericht aber Verurteilung wegen Tötungsdelikts möglich: Die von der Nebenklage geforderte Verlegung an das Schwurgericht lehnt die Kammer ab. Der Prozess wird weiterhin vor der Wirtschaftskammer des Landgerichts Essen verhandelt. Nur der Angeklagte Peter Stadtmann habe das Recht eine Verlegung des Prozesses während des Verfahren zu fordern, sagt der Richter Johannes Hidding. Aber auch die Wirtschaftskammer kann ein Urteil wegen eines Tötungsdeliktes verhängen. „Die Kammer hat die Rechtsmacht, jedwede Sanktion auszusprechen“, sagt Hidding am dritten Prozesstag.
- Nebenkläger wollen Mitarbeiter von Hexal als Zeugen: Nachdem CORRECTIV.Ruhr seine Recherchen zu den Schwarzkäufen und den Fakeretouren sowie die Dementis des Pharmaunternehmens Hexal veröffentlicht hat, beantragt die Nebenklage den Hexal-Vertreter Wilfried Harseim und einen weiteren Mitarbeiter der Firma als Zeugen zu hören. Sie sollen bezeugen, dass die Behauptungen von Stadtmanns Verteidigern falsch sind. Die Anwälte hatten behauptet, Stadtmann habe regelmäßig Schwarzmedikamente aus dem Kofferraum heraus von dem Hexal-Vertreter gekauft. Außerdem habe der Apotheker mit Wissen der Pharmafirmen von Fakeretouren profitiert. Das heißt, er habe Retouren angemeldet und verbucht, die Waren aber weiterhin in der Apotheke für Zubereitungen verwendet.
- Eigentor für Stadtmanns Anwälte: Der Vorsitzende Richter entlarvt ein zusätzliches Entlastungsargument der Verteidigung. Neben angeblichen Schwarzkäufen, Vorratslagerungen und Fakretouren sind auch „Verwürfe“ ein Posten für Stadtmanns Anwälte, der belegen soll, dass in der Alten Apotheke mehr Krebsmittel waren, als die Buchhaltung verzeichnet hatte. „Verwürfe“ sind die Restmengen aus einer Packung, die eigentlich vernichtet werden müssen. Die Verteidigung sagt, Stadtmann habe die Restmengen für andere Therapien genutzt und will so die Differenz zwischen eingekauften und verkauften Wirkstoffmengen rechtfertigen. Der Richter bemerkt allerdings einen logischen Fehler in dieser Argumentation, denn die „Verwürfe“ seien ja nicht zusätzlich, sondern sie müssten wie die ausgegebenen Therapien Teil der gelieferten Einkaufsmenge sein. Wegen dieser „Verwürfe“ müssten die Einkaufsmengen sogar höher sein als die Verkaufsmengen, weil angebrochene Packungen eigentlich entsorgt werden müssten.
- Kripobeamter Tröster sagt als Zeuge aus: Heute sagt der Polizeibeamte Björn Tröster vor Gericht als Zeuge aus. Er berät die Kripo in Fällen von Wirtschaftskriminalität. Tröster war als gelernter Betriebswirt am Morgen der Razzia in der Alten Apotheke zuständig für die Sicherung des Buchungssystems. Das zentrale Indiz der Anklage. Der Zeuge wirkt auf Nachfragen der Verteidigung, wie schon der Kriminalhauptkommissar Ulrich Herold, unsicher. In der Befragung wird deutlich, dass die Ermittler der Verteidigung mehrere Angriffspunkte bieten. Ein Beispiel: Tröster berichtet über die Nachmeldung von Lieferungen durch den Pharma-Großhändler Noweda aus Essen. Der Ermittler muss auf Nachfrage der Verteidigung einräumen, dass er andere Hersteller nicht zu eventuellen Nachmeldungen befragt habe.
Video
Berichterstattung:
Die Nebelkerzen der Verteidigung (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag am 20.11.2017:
Das Gericht muss entscheiden, ob der Prozess mit zwei Ergänzungsschöffen neu aufgesetzt wird. Außerdem soll einer der Laborleiter des Landeszentrum Gesundheit Nordrhein-Westfalen, Christoph Luchte als Zeuge aussagen. Er war verantwortlich für die Wirkstoffprüfungen der beschlagnahmten Medikamente. Die Verteidigung will seine Ernennung zum Sachverständigen verhindern und wird versuchen, die Wirkstoffanalysen der beschlagnahmten Medikamente zu entkräften.
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Tag 2: Zeuge Kripo
Datum: 14.11.2017
Diesmal ist es deutlich leerer als am ersten Prozesstag. Viele Plätze im Zuschauerraum bleiben leer. Fünfzehn Journalisten sind gekommen. Schon jetzt ist klar, die 14 angesetzten Verhandlungstage werden nicht ausreichen, um alle Zeugen zu hören. Weitere Termine im Februar und März 2018 sollen am Freitag bekannt gegeben werden.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann ?
Peter Stadtmann trägt wieder einen schwarzen Rollkragenpullover und ein schwarzes Sakko. Er wirkt angespannter als am ersten Tag. Immer wieder berät er sich ausführlich mit seinen Anwälten. Ansonsten schweigt er.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen ?
Einige Betroffene können nach ihrer gestrigen Zulassung als Nebenkläger- und klägerinnen heute das erste Mal auf der linken Seite im Gerichtssaal Platz nehmen. Sie sitzen Peter Stadtmann direkt gegenüber. Empörung löst unter ihnen eine Aussage der Verteidigung aus. Die Anwälte Stadtmanns sprechen von „überdurchschnittlichen Behandlungserfolgen in mehreren Praxen, die von der Alten Apotheke beliefert wurden“. (Dazu mehr weiter unten). Die Betroffenen schütteln nur die Köpfe und werfen sich fassungslose Blicke zu.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
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Befangenheitsantrag vertagt: Die Entscheidung über den gestern vorgebrachten Befangenheitsantrag gegen einen der zwei Schöffen wird auf den nächsten Verhandlungstag am Freitag verschoben. Erst nach dieser Entscheidung wird das Gericht auch über die Verlegung des Prozesses an ein Schwurgericht entscheiden können.
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Schöffin ausgefallen: Den Vorwurf von Stadtmanns Verteidigern, eine Schöffin sei unrechtmäßig von ihrem Amt freigestellt worden, weist der Richter ab. Die Anwälte Peter Stadtmanns haben Zweifel an der ordnungsgemäßen Besetzung der Kammer, weil eine vorgesehene Schöffin wegen einer Augen OP von ihrem Amt freigestellt worden war. Der Richter geht jedoch davon aus, dass der Schöffin nicht zugemutet werden konnte, die OP zu verschieben. Auch habe man keine Verzögerung des Prozesses riskieren können.
- Eröffnungsrede der Verteidigung: Die Verteidiger von Peter Stadtmann nutzen die Möglichkeit ein sogenanntes „opening statement“ abzugeben. Dadurch soll der Angeklagte die Möglichkeit bekommen sich zur Anklage zu äußern. Doch Stadtmann selbst schweigt. „Das Schweigen ist nicht zuletzt den massiven Vorverurteilungen in den Medien geschuldet“, erklärt einer seiner Anwälte. In weiten Teilen der Öffentlichkeit gehe man schon jetzt zu Unrecht von der bewiesenen Schuld Stadtmanns aus. Bezogen auf die Anklage kritisieren seine Anwälte die Wirkstoffanalysen der beschlagnahmten Therapien. Das Paul Ehrlich Institut habe gar keine Möglichkeit, die Therapien korrekt auf Wirkstoffe zu untersuchen. Das Institut schreibt uns: „Mit diesen Methoden ist es möglich Antikörper zweifelsfrei nachzuweisen“. Außerdem monieren die Verteidiger, die von der Staatsanwaltschaft ermittelten zu niedrigen Einkaufsquoten seien nicht haltbar. Überfüllungen der Medikamente und Rabattlieferungen seien nicht berücksichtigt worden. Außerdem fehle in der Kalkulation der in der Alten Apotheke vorhandene Anfangsbestand an Medikamenten. Die Anwälte Stadtmanns verweisen außerdem auf ein aus ihrer Sicht „entscheidendes entlastendes Indiz“. Demnach seien die Behandlungserfolge mehrerer Praxen, die von der Alten Apotheke beliefert wurden, überdurchschnittlich. Die Überlebensrate der Patienten in diesen Praxen liege zum Teil deutlich höher als bei internationalen Studien. Solche Erfolge seien bei gepanschten Medikamenten unmöglich. Die Anwälte von Stadtmann beziehen sich auf folgende Ärzte: Mahdi Rezai, der Praxisgemeinschaft Pott, Hannig, Tirier, Rudolf Voigtmann und Dörte Schaffrin-Narbe.
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Kripo im Zeugenstand: Um kurz vor 12 ruft der vorsitzende Richter Johannes Hidding Kriminalhauptkommissar Ulrich Herold in den Zeugenstand. Der erste Zeuge des Prozesses. Herold leitete die Ermittlungen gegen Stadtmann, vernahm Zeugen und entwarf den Plan für die Durchsuchung der Alten Apotheke, des Zytolabors und des Privathauses. Er berichtet auch von der Festnahme Stadtmanns. Der Apotheker sei morgens um kurz nach sechs in seinem Kellerlabor verhaftet worden. Er habe angespannt gewirkt, sei rot angelaufen. Laut Herold liegen aktuell 146 Strafanzeigen gegen Stadtmann vor.
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Dementi von Hexal: Der Richter Johannes Hidding befragt den Kommissar Herold auch zu möglichen Schwarzverkäufen. Laut einem Schreiben von Stadtmanns Verteidigern soll ein Pharmavertreter von Hexal, Wilfried Harseim, aus dem Kofferraum Wirkstoffe schwarz an Stadtmann verkauft haben. Nach Unterlagen, die CORRECTIV vorliegen, behaupten die Verteidiger, dass Wilfried Harseim 2014 monatlich Peter Stadtmann die Zytostatika aus dem Kofferraum zu Preisen stark unter Marktwert verkauft haben solle. Peter Stadtmann soll zu diesem Zweck 2014 über 200.000 Euro bar abgeholt haben, schreiben die Anwälte. Der Schwarzhandel soll mit dazu beitragen, den Hauptpfeiler der Anklage zu stürzen. Die Differenz zwischen eingekauften und verkauften Wirkstoffmengen. Wir haben Hexal und Wilfried Harseim gefragt. Der Pharmavertreter hat nicht geantwortet. Aber der Sprecher von Hexal. Wir veröffentlichen die Antwort von Hexal von heute:
„Zytostatika werden im Werk Salutas Pharma (Tochtergesellschaft von Hexal) in Barleben (bei Magdeburg) von einem spezialisierten Logistikunternehmen abgeholt und von dort direkt in die Apotheken (oder zu Großhändlern) gebracht, die die Ware bestellt haben. Das heißt, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Außendienst kommen mit Ware nicht in Kontakt und können demnach Ware auch nicht selbst – wie von Ihnen geschildert — verkaufen. Wir hatten und haben keinerlei Hinweise darauf, dass sich außerhalb des geschilderten Vertriebswegs Ware von Hexal im Markt befand oder befindet. Selbstverständlich haben wir mit Herrn Harseim direkt über Ihre Anfrage gesprochen. Er selbst hatte uns auch über die Anfrage informiert, die Sie an ihn gestellt hatten. Im Gespräch mit uns hat Herr Harseim klargestellt, dass es die von Ihnen geschilderten Verkäufe nicht gegeben hat.“ Das ist ein klares Dementi.
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Positives zum Angeklagten: Stadtmanns Verteidiger versuchen dem Kommissar Herold mit wiederholten Fragen eine Bestätigung Ihrer Darstellung der Festnahme zu entlocken. Demnach habe Stadtmann sich am Tag der Razzia vorbildlich um Ersatzmedikamente für die Krebspatienten gekümmert. Dabei ist ein Notfallplan für jede Zyto-Apotheke Standard. Wie der Apotheker, der am Tag der Razzia eingesprungen war, uns gegenüber erklärte, gab es eine vertraglich festgehaltene Vereinbarung zwischen ihm und Stadtmann für „den Fall eines unvorhersehbaren Ausfalls der Produktionsstätten“.
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Steuerstrafverfahren: Im Rahmen der Befragung durch die Anwälte der Nebenklage, sagt der Zeuge Herold vor Gericht aus, dass während der Ermittlungen eine Anfrage an die Steuerbehörden gestellt wurde. Herold sagt aus, dass demnach im Februar 2016 ein Steuerstrafverfahren im Bereich Kassenmanipulation gegen Stadtmann vorgelegen haben soll. Die Anwälte der Nebenklage können diese Information bisher nicht einsehen, da in den Akten dieser Teil geschwärzt ist.
Video
Berichterstattung:
Pharmariese Hexal widerspricht Verteidigung (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag:
Das Gericht muss am nächsten Verhandlungstag am Freitag, den 17.11.2017, entscheiden, ob einer der Schöffen befangen ist. Wenn das entschieden ist, kann die Kammer auch über die Forderung der Nebenklage befinden, den Prozeß vor die Schwurkammer zu bringen. Außerdem soll am Freitag die Kriminalkommissarin Kathrin Gesing als Zeugin aussagen.
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Tag 1: Anklage
Datum: 13.11.2017
Schon am frühen Morgen warten Journalisten und Betroffene vor dem Landgericht Essen. Später im Gerichtssaal ist der Zuschauerraum voll. Sowohl die Plätze für Zuschauer als auch für Journalisten sind komplett besetzt. Knapp 50 Betroffene und 40 Journalisten sind anwesend.
Was ist heute passiert?
Der Richter Johannes Hidding eröffnet den Prozess. Das Gericht besteht neben Hidding aus zwei weiteren Richtern, zwei Schöffen und einem Ergänzungsschöffen. Das mit den Schöffen ist wichtig. Warum, erklären wir weiter unten. Der Staatsanwalt Rudolf Jakubowski verliest die Anklageschrift in gekürzter Fassung. Viele Zahlen und Medikamentennamen. Der Prozess wird eröffnet. Aber er könnte morgen schon vorbei sein.
Welchen Eindruck macht Peter Stadtmann?
Peter Stadtmann betritt den Gerichtssaal ganz in schwarz gekleidet Er hat deutlich abgenommen und wirkt selbstsicher. Sein Gesicht verdeckt er nicht. Während der Verlesung der Anklageschrift hört er konzentriert zu und bespricht sich mit seinen Anwälten.
Welchen Eindruck machen die Betroffenen?
Die Anspannung der Betroffenen ist zu spüren. Einige tragen weiße Rosen. Die juristischen Feinheiten des Gerichtsprozesses am ersten Tag waren für einige schwer erträglich. Aber sie sind erleichtert, dass endlich der Prozess begonnen hat.
Die wichtigsten Ereignisse des Tages:
- Erfolg für die Betroffenen: Der Richter lässt zusätzliche Nebenklagen zu. Mehrere weitere Nebenklagen sollen kurzfristig in den nächsten Tagen zugelassen werden. Einziges Kriterium: Die Patienten müssen nachweisen, dass sie im für die Anklage relevanten Zeitraum Medikamente der Alten Apotheke erhalten haben. Dafür reicht es, auf den Patientenlisten zu stehen. Der Richter fragte zur Zulassung der Nebenklage beispielsweise das Geburtsdatum einer Mandantin ab, eine andere Mandantin musste ihr Familienstammbuch einreichen. Damit geht der Richter deutlich weiter als die Staatsanwaltschaft und ermöglicht tausenden Betroffenen die Nebenklage. Die Staatsanwaltschaft hatte sich bisher vor allem auf den wirtschaftlich Schaden beschränkt, den Peter Stadtmann durch sein Panschen verursacht haben soll.
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Tötungsabsichten: Die Anwälte der Nebenklage setzen dagegen einen klaren Ton. Sie werfen dem Angeklagten Peter Stadtmann „Tötungsabsichten bis zum Mordversuch“ durch das Panschen von Medikamenten vor. Sie kritisieren, dass der Staatsanwalt in der Anklage hunderte Seiten Zahlen herunterleiert, aber dem angerichteten Leid widmet er nur zwei Absätze. Die Anwälte der Nebenklage argumentieren, die Wirtschaftskammer sei daher nicht der richtige Ort für den Strafprozess. Deshalb fordern sie die Verlegung des Prozesses gegen Peter Stadtmann an das Schwurgericht.
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Formale Mängel: Die Anwälte Stadtmanns zweifeln an der rechtmäßigen Benennung eines der Schöffen wegen formaler Mängel. Schöffen sind ehrenamtliche Richter, ohne juristische Ausbildung. Während der Verhandlung haben sie das gleiche Recht wie Berufsrichter. Sie entscheiden über Unschuld oder Schuld. Jeder Deutsche kann theoretisch als Schöffe benannt werden und ist dann verpflichtet das Amt auszuüben. Hier muss man wissen: Das Schöffenamt kann man nicht wegen einer Grippe ablehnen. Es gibt enge gesetzliche Grenzen, um von dieser Aufgabe befreit zu werden. Hier setzt die Verteidigung an. In diesem Fall wurde eine anfangs bestimmte Hauptschöffin wegen einer angeblich unkomplizierten Augenoperation vom Richter ausgetauscht. Die Verteidigung argumentiert, der vorgegebene Grund sei nicht relevant genug, und zweifelt deshalb die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Gerichts an. Diese formale Verfahrenskritik birgt Sprengstoff. Denn dies könnte dazu führen, dass die ganze Verhandlung neu aufgerollt werden müsste. Sollte das passieren, könnten die Verteidiger Stadtmanns fordern, dass dann die Untersuchungshaft des Apothekers ausgesetzt werden müsse. Die nicht ordnungsgemäße Zusammensetzung eines Gerichtes ist außerdem ein Revisionsgrund.
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Ein Apotheker als Schöffe: Aus inhaltlichen Gründen zweifelt dagegen der Anwalt der Nebenklage Khubaib-Ali Mohammed an einem Schöffen. Er sei befangen. Der Mann hat als Apotheker in Bottrop gearbeitet und kannte die Eltern von Stadtmann. Im Laufe des ersten Verhandlungstages stellte sich heraus, dass die Ehefrau des Schöffen seit drei Jahren in der onkologischen Praxis von Dirk Pott zur Krebsnachsorge behandelt wird. Allerdings hat sie nach Aussage des Schöffen nie Medikamente aus der Alten Apotheke erhalten. Das ist für den Prozess brisant, da die Verteidiger den Arzt aus Bottrop als Entlastungszeugen benannt haben. Die Gemeinschaftspraxis von Pott, Hanning und Tirier liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Alten Apotheke und sie gehörte zu den wichtigsten Kunden von Peter Stadtmann, Tausende Patienten haben allein über diese Praxis Krebsinfusionen von dem Angeklagten erhalten. Der Befangenheitsantrag Mohammeds wird aber nicht von allen Anwälten der Nebenklage unterstützt. Es zeigen sich erste Differenzen zwischen den Anwälten der Nebenkläger und -klägerinnen.
Video
Berichterstattung:
Patientenschicksale rücken in den Fokus (CORRECTIV.Ruhr)
Ausblick auf den nächsten Verhandlungstag am 14.11.2017:
Das Gericht muss am nächsten Verhandlungstag entscheiden, wie es mit der Kritik an der Zusammensetzung, dem Vorwurf der Befangenheit des Schöffen und der Forderung nach einer Verlegung an das Schwurgericht umgeht. Sollte das Verfahren aber wie geplant weiterlaufen, will die Verteidigung eine 20-minütige Erklärung zur Anklage abgeben. Außerdem soll der Kriminalhauptkommissar Ulrich Herold als Zeuge gehört werden.
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Anmerkung der Redaktion: Bilder von Peter Stadtmann aus dem Gerichtssaal müssen auf Anordnung des Richters verpixelt werden. CORRECTIV behält sich rechtliche Schritte dagegen vor.