Teaser Bild des CORRECTIV Spotlight Newsletters

Diese für Audio optimierte Kompaktfassung des täglichen Spotlight-Newsletters ist von einer KI-Stimme eingelesen und von Redakteuren erstellt und geprüft.

Autor Bild Anette Dowideit

Liebe Leserinnen und Leser, 

seine umstrittene Aussage zum „Problem mit dem Stadtbild“ hat Bundeskanzler Friedrich Merz in Bedrängnis gebracht. Oppositionspolitiker und Journalisten wollten von ihm Anfang dieser Woche wissen, was genau er denn damit meinte – und er konterte ungeschickt, man solle doch mal „die Töchter“ des Landes fragen. Was ihm zu Recht gleich neue Kritik einbrachte – schließlich kann er nicht wissen, wie sich denn „Töchter“ im Allgemeinen fühlen.

Jedenfalls hat jetzt ein anderer CDUler Merz öffentlich den Rücken gestärkt: der Brandenburger Fraktionschef der Partei, Jan Redmann. Er sagte in einem Interview: Wer mit offenen Augen durch Deutschland gehe, der wisse, dass im Laufe der letzten 10 bis 15 Jahre mehr öffentliche Plätze unsicher geworden seien.

Stimmt das? Wir haben uns heute angeschaut, ob Statistiken ihm Recht geben – oder ob es hier nicht doch eher um „gefühlte Wahrheit“ geht. 

Außerdem im SPOTLIGHT: Thüringens Innenminister verdächtigt die AfD, für Russland zu spionieren. Und: Unser Klimateam hat eine neue Story veröffentlicht – als Teil unserer Wärmewende-Kooperation mit dem SWR. Sie zeigt, dass einige Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg planen, ihre Wärmenetze bald mit Wasserstoff zu betreiben. Doch der grüne Energieträger ist rar, teuer und kaum verfügbar. Hinter dem Traum von der sauberen Fernwärme steckt also ein riskantes Experiment.

Was sagen Sie zur Stadtbild-Debatte? Ein paar unserer Leserinnen und Leser haben uns dazu schon ihre Meinung geschickt. Gerold W. zum Beispiel schreibt, Merz habe durch seine Aussage sein „Feindbild deutlich gemacht, nämlich die Migranten“. Wie sehen Sie es? Sind Sie vielleicht eine „Tochter“ – und wenn ja, was genau stört Sie an unserem Stadtbild? Schreiben Sie mir: anette.dowideit@correctiv.org.

Thema des Tages: Platzangst

Der Tag auf einen Blick: Das Wichtigste

Faktencheck: „Wer ist dieser Typ?“: Viraler Trump-Beitrag über Merz ist nicht echt

Gute Sache(n): Ukrainische Luftkampagne schadet russischer Ölindustrie • Warum Finnlands Bevölkerung besonders gut gegen Falschinfos gewappnet ist • Ein Bluttest kann über 50 Krebsarten erkennen

CORRECTIV-Werkbank: Warum private Spenden für uns so wichtig sind

Grafik des Tages: Klimaschutz: Die Welt hinkt hinterher

Jan Redmann (CDU), Fraktionsvorsitzender CDU Brandenburg im Juni bei einer Sitzung des Brandenburger Landtags. Quelle: picture alliance/dpa | Fabian Sommer

Wir von CORRECTIV hatten in unserer Morgenkonferenz heute den Impuls, diese Aussage müsse sich doch nachprüfen lassen. Also haben wir recherchiert, welche Statistiken es dazu gibt.

Was die offiziellen Zahlen zeigen:
Unser Nachrichtenchef Ulrich Kraetzer, der sich seit vielen Jahren mit dem Thema Innere Sicherheit beschäftigt, hat in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) geschaut. Die Polizei erfasst darin jene Straftaten, die ihr bekannt werden, etwa durch Anzeigen oder Polizeikontrollen. Das Dunkelfeld bleibt also unberücksichtigt. 

Die Statistik sagt auch nichts darüber aus, ob die von der Polizei ermittelten Tatverdächtigen verurteilt werden, oder ob die Vorwürfe vor Gericht in sich zusammenfallen. Die PKS hat also Schwächen. Ein besseres Instrument zur Messung der Kriminalitätsentwicklung gibt es in Deutschland aber derzeit nicht.

Im Kontext der Merz-Äußerung zum „Stadtbild“ erscheint vor allem eine Zahl aus der PKS interessant: die Zahl der Opfer von gefährlicher oder schwerer Körperverletzung im öffentlichen Straßenland. 

Umgerechnet auf 100.000 Einwohner wurden im Jahr 2003 demnach 70 Menschen zum Opfer solcher Straftaten. 2007 stieg der Wert auf 100. Danach sank er viele Jahre. 2021 lag er dann ungefähr wieder auf dem Niveau von 2003. Das bedeutet: Im Jahr 2021 war das Risiko, im öffentlichen Straßenland verprügelt zu werden, ungefähr so niedrig wie knapp 20 Jahre zuvor. Die Behauptung, Deutschland werde „immer unsicherer“, ist also falsch.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Wert seit 2021 wieder steigt – und zwar ziemlich steil. Im Jahr 2024 wurden im öffentlichen Straßenland (wiederum umgerechnet auf 100.000 Einwohner) laut Statistik etwa 90 Menschen Opfer einer schweren oder gefährlichen Körperverletzung. Das ist weniger als beim zwischenzeitlichen Höchststand im Jahr 2007 – aber eben auch deutlich mehr als noch vor vier Jahren. Der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, nannte den Anstieg der Gewaltkriminalität denn auch „besorgniserregend“.

Legt man die PKS zugrunde, stimmt es also: An öffentlichen Plätzen gibt es heute mehr Straftaten als noch vor einigen Jahren. 

Aber haben die Straftäter einen Migrationshintergrund?
Das ist die eigentliche Frage – denn die Merz-Aussage zum Stadtbild insinuiert, „man“ (also die Töchter? Wir alle? Menschen ohne Migrationshintergrund?) könnten sich auf diesen öffentlichen Plätzen wegen Zugewanderter nicht mehr sicher fühlen.

„Kriminalität im Kontext von Zuwanderung”: Das BKA hat diesem Thema ein eigenes Lagebild gewidmet. Es wurde im Juli dieses Jahres veröffentlicht. Als „Zuwanderer“ gelten demnach Asylbewerber und anerkannte Schutzberechtigte, Kontingentflüchtlinge, Menschen mit einer Duldung sowie Personen ohne  Aufenthaltserlaubnis. 

Betrachtet man sämtliche Straftaten (ohne Verstöße gegen das Ausländerrecht) wurden im Jahr 2023 den BKA-Zahlen zufolge 8,9 Prozent aller Delikte von „Zuwanderern“ verübt. Bei Gewalttaten („Roheitsdelikten“) sowie Straftaten gegen die persönliche Freiheit lag der Anteil von Zuwanderern sogar bei 9,1 Prozent.

Gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung (rund dreieinhalb  Prozent) sind Zuwanderer in der PKS also deutlich überrepräsentiert. Es gibt zudem deutliche Unterschiede. Geflüchtete aus der Ukraine begehen laut Statistik weniger Straftaten, als es ihr Bevölkerungsanteil vermuten ließe. Zuwanderer aus den Maghreb-Staaten sind besonders deutlich überrepräsentiert.

Für diese Überrepräsentation gibt es Gründe. Zuwanderer sind zum Beispiel besonders oft männlich, und sie sind besonders jung. Und junge Männer verüben – unabhängig von ihrer Herkunft – deutlich häufiger Straftaten als der Rest der Bevölkerung. Geflüchtete haben zudem oft mit Integrationsschwierigkeiten zu kämpfen, mitunter auch mit Rassismuserfahrungen, die das Risiko, straffällig zu werden, ebenfalls erhöhen. Über diese möglichen Ursachen für die Kriminalität von Zuwanderern sagt die Statistik allerdings nichts aus. 

Das Thema ist also komplex, und der Teufel steckt wie so oft im Detail. Auch unser Faktencheck-Team hat das Oberthema, also Kriminalität und Zuwanderung, schon unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Schaut man sich nur schwere Straftaten an (Morde, Vergewaltigungen, Körperverletzungen), dann stimmt es nicht, dass die Zahlen durch Zuwanderung sprunghaft gestiegen sind.

Polizeibeamte patroullieren durch eine deutsche Fußgängerzone
Fachleute bestätigen: Gewaltkriminalität geht in Deutschland langfristig zurück (Foto: Michael Nguyen / Picture Alliance / NurPhoto)

In unserem Faktencheck ging es allerdings ausschließlich um schwere Straftaten – nicht um jene, die jetzt CDU-Politiker Redmann meint, wenn er von Kriminalität auf öffentlichen Plätzen spricht. Da geht es eher um gewalttätige Auseinandersetzungen, um Schlägereien, um Bedrohungen.

Gefühle statt Fakten:
Die Merz-Aussage zum „Stadtbild“ ist aber vor allem aus einem anderen Grund perfide, sie ist sogar rassistisch. Denn Merz sprach ja gar nicht von Kriminalität, wie sein brandenburgischer Parteikollege jetzt. Er sprach davon, dass das Stadtbild irgendwie gefühlt nicht angenehm sei.

Er sprach nicht aus, was er konkret meinte, und wollte sich ja auch auf Nachfrage nicht festlegen. Er habe strategisch eine kommunikative Unschärfe genutzt, kommentiert die linke Tageszeitung nd-aktuell.

Missbrauch im Sport: Neues Zentrum setzt auf freiwillige Aufarbeitung
Nur freiwillige Mitarbeit, Warnung vor Überlastung und verschobener Start: Neue Pläne für ein staatliches Zentrum zur Aufarbeitung von Missbrauch im Sport sorgen für Kritik. Die Staatsministerin verteidigt ihre Pläne. In der Debatte wird auch wiederholt auf die gemeinsame Recherche von CORRECTIV und 11 Freunde zum Missbrauchsproblem im Nachwuchsfußball Bezug genommen.
correctiv.org

Lokal: Gutachten wertet Weihnachtsmarkt-Anschlag in Magdeburg als terroristische Tat 
LKA und BKA stufen den Anschlag bislang nicht als Terroranschlag ein und sehen in Taleb A. einen verwirrten Einzeltäter. Ein Fachgutachten widerspricht nun. Demnach habe der Psychiater seinen Anschlag lange vorbereitet und verortete sich in einem internationalen rechtsextremen Netzwerk.
volksstimme.de (€) / oldenburger-onlinezeitung.de

CORRECTIV: Der Traum von Wasserstoff in Wärmenetzen
Städte und Gemeinden in Baden-Württemberg planen, ihre Wärmenetze bald mit Wasserstoff zu betreiben – doch der grüne Energieträger ist rar, teuer und kaum verfügbar. Die Fernwärmekunden haben kein Mitspracherecht, zahlen die Rechnung und sind dem Anbieter ausgeliefert. Hinter der sauberen Fassade steckt ein riskantes Experiment: ein Wärmewende-Versprechen, das auf heißer Luft basiert.
correctiv.org

Trump und Merz trafen sich zuletzt bei einer Veranstaltung zur Waffenruhe in Gaza am 13. Oktober in Ägypten (Quelle: Evan Vucci / Associated Press / Picture Alliance)

So geht’s auch
Finnland führt seit Jahren den European Media Literacy Index an. Das Ranking misst, wie widerstandsfähig die Bevölkerung der 41 untersuchten Länder gegenüber Desinformation und Fake News ist. Deutschland liegt derzeit nur auf Platz 11. Die Strategie des skandinavischen Landes: Schon in den 1970er-Jahren wurde Medienkompetenz in den nationalen Lehrplan aufgenommen, und zwar nicht als eigenes Fach, sondern als Teil des gesamten Lehrplans. In Geschichte kann man über Mechanismen von Propaganda sprechen, im Matheunterricht über die Funktionsweise von Algorithmen. Damit geht es schon im Grundschulalter los. 
goodimpact.eu

Fundstück
Ein einfacher Bluttest könnte die Krebsdiagnostik grundlegend verändern: Der sogenannte Galleri-Test des US-Unternehmens Grail kann über 50 Krebsarten erkennen – viele davon, bevor Symptome auftreten. In einer nordamerikanischen Studie mit 25.000 Teilnehmenden wurde bei fast einer von hundert Personen Krebsverdacht festgestellt, der sich in 62 Prozent der Fälle bestätigte. Der Test identifiziert kleinste DNA-Spuren von Tumoren im Blut. Auch der britische Gesundheitsdienst NHS prüft derzeit, ob der Test künftig Teil der Routinevorsorge werden könnte.
watson.de


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An der heutigen Ausgabe haben mitgewirkt: Maximilian Billhardt, Till Eckert, Leonie Georg, Sebastian Haupt und Ulrich Kraetzer.