Schwangerschaftsabbruch in Deutschland

Alleingelassen, gedemütigt, traumatisiert

Triggerwarnung:

Der folgende Text beschäftigt sich mit negativen Erfahrungen bei Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Schilderungen können belastend sein und negative Reaktionen auslösen.

Verweigerung von Schmerzmitteln, Bloßstellungen, keine Aufklärung – eine CORRECTIV.Lokal-Recherche zeigt, dass die medizinische Versorgung bei Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland teilweise bedenklich ist. Die Folgen für die Betroffenen sind dramatisch – wie ein Fall aus Chemnitz zeigt.

Der Welt entrückt, schockiert, panisch. So wirkt Tina auf ihre Eltern, als sie am Abend des 10. August 2018 bei ihnen ankommt. Wenige Minuten später liegt sie im Wohnzimmer weinend auf der roten Ledercouch.

Am Nachmittag hatte Tina eine Operation in einem nahegelegenen Krankenhaus. Einen Schwangerschaftsabbruch. Bruchstückhaft fängt Tina an diesem Abend an, ihrer Familie von Demütigungen und Bloßstellungen zu erzählen. Von unerträglichen Schmerzen und verweigerter Hilfe. Was Tina damals erlebt hat, hat sie traumatisiert.

Aus Sorge vor Belästigungen und Bedrohungen durch Abtreibungsgegner möchte Tina nicht, dass ihr Nachname öffentlich wird.

Tina ist eine von rund 1.500 Betroffenen, die CORRECTIV.Lokal in einer Umfrage von ihrem Schwangerschaftsabbruch oder ihren Abbrüchen berichtet haben. Mit ihren Erfahrungen ist Tina nicht allein: Rund jede vierte Betroffene berichtete von Problemen bei der medizinischen Versorgung. Etwa einer fließbandmäßigen Abfertigung, schwerwiegenden Komplikationen oder fehlender Aufklärung. Fast so viele Betroffene schilderten, dass medizinisches Personal sie im Zusammenhang ihres Abbruchs gedemütigt, bloßgestellt oder unter Druck gesetzt habe, die Schwangerschaft fortzuführen.

Für die Umfrage nutzte CORRECTIV.Lokal den CrowdNewsroom, eine Online-Plattform für Beteiligungsrecherchen. Mit knapp 30 der Betroffenen, die an der Umfrage teilnahmen, führten CORRECTIV.Lokal und Lokalmedien aus ganz Deutschland vertiefende Interviews. Tina ist eine von ihnen.

Schwangerschaftsabbruch in Deutschland:
Eine mehrwöchige Odyssee

Die CORRECTIV.Lokal-Umfrage ist nicht repräsentativ. Doch sie wirft ein Schlaglicht darauf, wie schlecht Patientinnen in Deutschland bei Schwangerschaftsabbrüchen versorgt werden. Und sie zeigt, wie Ärztinnen und Pflegekräfte offenbar ihre Macht missbrauchen statt zu helfen. Und was für schwerwiegende Folgen das für Betroffene hat.

Rund 100.000 Schwangerschaften werden in Deutschland jedes Jahr abgebrochen. Obwohl Schwangerschaftsabbrüche ein so häufiger gynäkologischer Eingriff sind, gibt es immer weniger Ärztinnen und Ärzte, die ihn durchführen. Auch viele öffentliche Kliniken weigern sich, Schwangerschaften abzubrechen, wie eine Recherche von CORRECTIV.Lokal zeigt.   

Als Tina am Morgen des 10. August 2018 für ihren Schwangerschaftsabbruch in das Klinikum Chemnitz-Rabenstein des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) fährt, hat sie bereits eine mehrwöchige Odyssee hinter sich.

Tina ist 26 Jahre alt und in der neunten Woche schwanger. Es ist eine Zwillingsschwangerschaft. In den vergangenen vier Wochen musste sie sich vor einer Beratungsstelle und immer wieder vor Ärzten rechtfertigen, warum sie die Schwangerschaft abbrechen möchte.

Die Erzählung von Tinas Geschichte stützt sich auf Gespräche mit ihr, ihren Eltern, ihrem Bruder und einer Freundin. Außerdem liegen CORRECTIV.Lokal Chatverläufe zwischen Tina und dieser Freundin sowie zwischen Tina und ihrem damaligen Partner vor. CORRECTIV.Lokal hat zudem Tinas Patientinnenakten und Ultraschallbilder aus ihrer damaligen gynäkologischen Praxis und der Klinik gesichtet. Kurz nach dem Abbruch hat Tina eine Psychotherapie begonnen – auch die Aufzeichnungen der Therapeutin liegen CORRECTIV.Lokal vor.

Aus diesen Gesprächen und Dokumenten hat CORRECTIV.Lokal die Geschichte rekonstruiert. Einige Aussagen konnten nicht über Dritte überprüft werden. CORRECTIV.Lokal hat das DRK-Klinikum Chemnitz-Rabenstein im Vorfeld der Veröffentlichung zu den einzelnen Vorwürfen konfrontiert. Die Klinik bestätigte Tinas Schwangerschaftsabbruch in ihrem Haus, beantwortete aber keine einzige konkrete Frage zu Tinas Eingriff. Stattdessen teilte die Klinik allgemein mit, dass der Abbruch „leitliniengerecht“ durchgeführt worden sei. Auf Nachfrage, welche Leitlinie gemeint sei, verlinkte der Pressesprecher die Leitlinie „Sicherer Schwangerschaftsabbruch“, die gegenwärtig noch nicht veröffentlicht worden ist und im Jahr von Tinas Abbruch 2018 noch nicht auf den Weg gebracht worden war. Zudem sendete der Sprecher verschiedene Aufklärungsbögen, die Tina erhalte habe.

„Als ich für den Abbruch ins Krankenhaus gegangen bin, dachte ich, jetzt ist der schlimmste Part vorbei. Jetzt wird mir nur noch geholfen“, sagt Tina gut drei Jahre später. „Doch genau das war nicht der Fall.“

„Medizinisch notwendige vorbereitende Maßnahmen sind keine Körperverletzung.“

An einem Sonntag im Dezember 2021 sitzt Tina im Berliner Büro von CORRECTIV und umfasst mit beiden Händen fest eine Tasse Tee. Ihre blonden Haare heben sich leuchtend vom Schwarz ihres Rollkragenkleids ab. Sie spricht mit fester Stimme. Ruhig, wohlüberlegt. 

Am Tag des Abbruchs fährt Tinas Bruder sie morgens ins Krankenhaus. An die genaue Uhrzeit erinnert er sich nicht mehr. Tina glaubt, dass sie gegen acht Uhr angekommen ist. In Tinas Krankenhausakte ist nicht verzeichnet, wann sie ankommt.

Die folgende Schilderung von Tinas Erlebnissen im Krankenhaus beruht auf ihren Erinnerungen. Einige Aussagen konnte CORRECTIV.Lokal über Dokumente und Aussagen von Dritten überprüfen, aber nicht alle. Da sich die Klinik zu diesen Aussagen nicht geäußert hat, wird an diesen Stellen nur Tinas Sicht geschildert.

Kurz nach ihrer Ankunft im Krankenhaus überreicht ihr eine Pflegekraft eine Tablette, die sie sich vaginal einführen soll. So erinnert sich Tina. Sie ist überrascht, fragt nach dem Grund. Das Medikament erweiche den Muttermund. Tina müsse das selbst machen und so den Abbruch einleiten, weil das sonst als Körperverletzung durch das medizinische Personal gewertet werden könne.

Die Klinik beantwortete auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal nicht, ob sie die mutmaßliche rechtliche Einschätzung der Pflegekraft teilt.

„Die Annahme, die Einleitung des Abbruchs durch das medizinische Personal könne eine Körperverletzung sein, ist in diesem Zusammenhang Unfug“, sagt die Hamburger Strafverteidigerin Gabriele Heinecke. „Die Patientin hat dem Schwangerschaftsabbruch zugestimmt. Medizinisch notwendige vorbereitende Maßnahmen sind damit keine Körperverletzung.“

In Tinas Krankenhausakte ist nicht eingetragen, dass sie ein Medikament vagnial verabreicht bekommen hat. Allerdings steht dort, dass es sich bei ihrem Eingriff um einen Schwangerschaftsabbruch mit Priming handelt. Das heißt, dass vor dem operativen Abbruch ein Medikament verabreicht wird, das den Muttermund erweichen soll.

Um welches Medikament es sich in Tinas Fall handelt, kann durch die fehlenden Angaben in der Krankenhausakte nur vermutet werden. Wahrscheinlich hat sie das Medikament Cytotec bekommen: In einem der Aufklärungsbögen, die Tina zwei Tage vor der Operation unterschrieben hat, gibt es einen Abschnitt zum Off-Label-Einsatz von Cytotec, um den Muttermund zu erweichen. In dem Aufklärungsbogen steht auch, dass es zu vaginalen Blutungen kommen könne.

Auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal beantwortet die Klinik nicht, welches Medikament Tina erhalten hat und warum dies nicht in ihrer Krankenhausakte dokumentiert wurde. 

Tina erinnert sich jedoch nicht an diesen Teil des Aufklärungsbogens oder daran, dass die Ärztin im Vorgespräch mit ihr über den Einsatz und die Wirkung von Cytotec gesprochen habe. Erst recht nicht über vaginale Blutungen. Auch als die Pflegerin ihr die Tablette gegeben habe, sei sie nicht über mögliche Folgen wie Blutungen aufgeklärt worden.

„Ich habe heimlich an mir runtergeschaut“

Nachdem Tina sich das Medikament vaginal eingeführt hat, wird sie – inzwischen nur noch mit einem OP-Kittel bekleidet – in eine Art Vorbereitungsraum mit mehreren Betten geführt, sagt sie. Sie liegt dort mehrere Stunden und wartet auf ihre Operation. 

Sie habe sich unwohl gefühl, sagt Tina heute. Mehrere Frauen hätten in den anderen Betten ebenfalls auf Operationen gewartet. Getrennt seien die Betten an den Längsseiten nur mit Vorhängen gewesen. Nach vorne sei ihr Bett ungeschützt vor fremden Blicken gewesen. Privatsphäre habe es nicht gegeben.

Nach Stunden des Wartens spürt Tina plötzlich, das sie blutet. „Ich habe heimlich an mir runtergeschaut, weil die Frau gegenüber mich ja gesehen hat.“ Schließlich habe sie von einer Pflegerin eine Unterhose mit einer Binde bekommen. „Aber es wurde nicht das Laken gewechselt oder mir angeboten, mich mal zu waschen“, sagt Tina. Warum sie Blutungen hat oder was in Folge davon passieren könnte, habe ihr niemand erklärt.

„Wenn Cytotec vaginal verabreicht wird, sollte es etwa drei Stunden vor dem operativen Abbruch gegeben werden“, sagt die Berliner Gynäkologin Christiane Tennhardt. Wirke es länger ein, könne es zu Blutungen und Schmerzen führen. Darüber sollte man die Patientin aufklären. Tennhardt hat selbst mehrere Jahrzehnte lang medikamentöse und operative Abbrüche durchgeführt. Gemeinsam mit einer Kollegin hat sie gerade ein Praxishandbuch für medizinisches Personal zu Schwangerschaftsabbrüchen veröffentlicht.

Tina beschreibt einen Abgang auf der Toilette

Kurz nachdem die Blutungen beginnen, hat Tina das Gefühl, auf Toilette zu müssen. Nur mit dem hinten offenen OP-Hemd und einer Unterhose bekleidet, steht sie auf. An ihrer Rückseite spürt sie eine kalte Nässe. Sie sagt einer Pflegerin Bescheid, die sie zur Toilette bringt. Auf dem Weg dorthin rinnt ihr bereits das Blut die Beine herunter. Dort angekommen lässt die Pflegerin sie allein, sagt Tina.

Im Bad hat Tina einen Abgang – zwei Embryos fallen in die Toilettenschüssel. Überall ist Blut – auf den Fliesen, dem Boden. Tina steht unter Schock. Sie ist ganz allein. Tina drückt die Spülung.

Einer Freundin schreibt Tina am nächsten Tag, was sie in dieser Krankenhaus-Toilette erlebt hat. Die Rechtschreibfehler in der folgenden Nachricht entsprechen dem Original. Das Chat-Protokoll liegt CORRECTIV.Lokal vor.

Nachgestellte Chat-Nachricht von Tina, 11.08.18, 10:22:07

Sowohl ihren Eltern als auch ihrem Bruder erzählt sie in den Tagen und Wochen nach dem Abbruch von dem Abgang der Embryos auf der Toilette. Auch ihrer niedergelassenen Gynäkologin berichtet sie im September 2018 von dem Abgang, wie ein Vermerk in ihrer dortigen Patientinnenakte zeigt.

In der Krankenhausakte ist kein Abgang vermerkt. „So etwas sollte dort eingetragen werden“, sagt die Gynäkologin Tennhardt. Sie betont außerdem, dass es wichtig sei, eine Patientin in solch einer Situation emotional gut zu betreuen und aufzuklären. „Idealerweise macht man nach einem potentiellen Abgang einen Ultraschall, um festzustellen, wie viel Gewebe noch in der Gebärmutter verblieben ist.“ Die Ärztin oder der Arzt solle die nächsten Schritte mit der Patientin besprechen. Denn grundsätzlich müsse man nach einem möglichen Abgang nicht noch eine Operation durchführen, sondern könne den Abbruch medikamentös zu Ende bringen. „Was die Patientin möchte, sollte im Vordergrund stehen“, sagt Tennhardt.

In Tinas Fall scheint fast nichts davon passiert zu sein. Kaum emotionale Betreuung. Weder Ultraschall, noch Abklärung, ob sie die OP überhaupt noch möchte oder lieber Medikamente. 

Auch zu diesen Vorwürfe äußerte sich die Klinik auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal nicht.

Vor Schmerzen ist ihr schwindelig

Eine Pflegerin habe ihr gesagt, dass so etwas passieren könne und sie sich wieder hinlegen solle, erinnert sich Tina heute. Die Operation müsse trotzdem durchgeführt werden.

Blutverschmiert legt Tina sich zurück in ihr Bett. Dann setzen Wehen ein. Dass es sich bei den starken Schmerzen, die in Schüben kommen, um Wehen handelt, weiß sie damals allerdings noch nicht. 

Tina hat so starke Schmerzen, dass ihr schwindlig und schwarz vor Augen wird. Sie fragt eine Pflegerin nach Schmerzmitteln. Diese verweigert ihr die schmerzlindernden Mittel mit dem Hinweis, Tina sei selber Schuld an ihrer Situation. So erzählt es Tina gegenüber CORRECTIV.Lokal. Überprüfen lässt sich das allerdings nicht. Denn auch hierzu hat sich die Klinik auf Anfrage nicht geäußert.

Eine weitere mutmaßliche Patientin des Klinikums Chemnitz-Rabenstein berichtet auf einer Klinik-Bewertungsplattform von ähnlichen Problemen. Das medizinische Personal habe sich bei ihrem Schwangerschaftsabbruch im Jahr 2020 abwertend über ihre Entscheidung geäußert. Zudem habe es große medizinische Komplikationen bei dem Eingriff gegeben. CORRECTIV.Lokal konnte die Vorwürfe der mutmaßlichen Patientin nicht weiter überprüfen. Die Klinik nimmt dazu keine Stellung.

Tina ist nicht die einzige Betroffene, die CORRECTIV.Lokal im CrowdNewsroom und in Gesprächen von verweigerten Schmerzmitteln bei einem Schwangerschaftsabbruch berichtet. Mindestens sieben weitere Betroffene schildern ähnliche Vorfälle in anderen Praxen und Kliniken.

Im Aufwachraum wurde ich direkt angeranzt, weil ich nach einem Schmerzmittel gefragt habe. Man müsste das aushalten, wenn man so etwas macht.

— Nordrhein-Westfalen, 2014

Ich habe mich für die medikamentöse Methode entschieden, weil ich keine Begleitperson hatte. Ich hatte so starke Schmerzen, dass ich zwei Mal das Bewusstsein verlor. Das wurde mit ‚Selbst schuld, hätten Sie halt die OP gewählt‘ abgetan.

— Baden-Württemberg, 2019

Insgesamt berichten rund 350 Befragte CORRECTIV.Lokal von einer schlechten medizinischen Versorgung in verschiedenen Kliniken und Praxen. Manche erleben die Betreuung als Massenabfertigung und beschreiben das Gefühl, wie eine Ware behandelt zu werden. Dutzende berichten von fehlender Privatsphäre während des Abbruchs. Diese Fälle haben nichts mit der Klinik zu tun, in der Tinas Abbruch durchgeführt wurdet. Sie zeigen vielmehr wiederkehrende Missstände, die Betroffene während ihres Schwangerschaftsabbruchs erleben.

Miriam

Miriam Lenz beschäftigt sich als Reporterin für CORRECTIV.Lokal hauptsächlich mit Themen wie Sexismus und sozialer Ungleichheit. Auch in Zukunft wird sie weiter zu Missständen bei Schwangerschaftsabbrüchen in Deutschland recherchieren. Haben Sie selbst Missstände bei Ihrem Schwangerschaftsabbruch erlebt? Dann melden Sie sich gerne bei Miriam Lenz.

„Angst und Wehrlosigkeit“

Um kurz vor 15 Uhr wird Tina aus dem Warteraum zum OP gebracht. Das belegt das OP-Protokoll, das CORRECTIV.Lokal vorliegt. Tina ist zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits seit knapp sieben Stunden in der Klinik. Weder hat sie in dieser Zeit Schmerzmittel bekommen, noch wurde ihre blutige Kleidung oder das blutverschmierte Laken gewechselt, sagt Tina. Auch zu diesen Vorwürfen äußerte sich die Klinik nicht gegenüber CORRECTIV.Lokal.

Tinas Bett wird aus dem Vorbereitungsraum in den Flur geschoben. Dort betten sie die Pflegerinnen plötzlich um, ohne mit ihr zu sprechen.

Tina liegt nun auf einer OP-Liege, ihre Beine werden hochgelagert und gespreizt. Die Pflegerinnen fixieren ihre Unterschenkel und ihre Unterarme mit Klett-Bändern. Tina will wissen, warum sie das machen und ob das sein müsse. Die Pflegerinnen hätten erklärt, das sei für ihre eigene Sicherheit, erinnert sich Tina.

„Die Lagerung mit erhöhten, gespreizten Beinen ist für gynäkologische Operationen notwendig“, sagt die Gynäkologin Tennhardt. Oft werde die Patientin allerdings erst in diese sogenannte Stein-Schnitt-Lagerung gebracht, nachdem die Narkose wirke. Wenn die Patientin schon vorher die Position einnehme, dann müsse man mit ihr darüber sprechen und sie aufklären. Dass die Beine mit Bändern gehalten würden, sei erst wichtig, wenn die Narkose wirke.

Ohne Decke ist Tina kalt in ihrem dünnen OP-Hemd, erinnert sich Tina. Ihre Beine und ihr Schoß sind mit Blut verschmiert. Breitbeinig auf der Liege fixiert und nur spärlich mit dem OP-Hemd bedeckt wird sie offen über den Flur gerollt und in den OP geschoben. Mit den Füßen voran. Frontal auf das medizinische Personal zu, das dort schon steht und sich miteinander unterhält.

„Das war eine Situation, in der ich so unglaublich viel Stress empfunden habe. Da war so viel Angst, Scham und auch Trauer über das, was da auf dem WC passiert ist“, sagt Tina heute. „In erster Linie aber Angst und Wehrlosigkeit. Auch dadurch, dass ich fixiert war, gefroren habe.“

„Niemand sollte in der Stein-Schnitt-Lagerung durch die Gegend gefahren werden – erst recht nicht unbedeckt“, sagt die Gynäkologin Tennhardt. 

Auch hierzu äußert sich die Klinik nicht.

„Ich musste nackt über den Flur in den OP“

Weitere Betroffene berichteten CORRECTIV.Lokal in der CrowdNewsroom-Umfrage, dass das medizinische Personal bei ihrem Schwangerschaftsabbruch nicht ihre Intimsphäre geschützt, sondern sie bloßgestellt habe.

Die Anästhesistin ist sehr rabiat mit mir umgegangen, dadurch hatte ich Angst im OP-Saal. Ich lag mit gespreizten Beinen zur Tür und auf meine Bitte hin, die Tür zu schließen, warf sie mir aus der Ferne ein Handtuch zwischen die Beine, damit ich mich bedecken kann.

— Niedersachsen, 2014

Von Anfang an feindselige Behandlung in der Praxis einschließlich Bruch der Schweigepflicht. Abbruch selber: untenrum freimachen, auf dem Stuhl festgeschnallt 20 Minuten warten lassen. Arzt legt Zugang und spritzt Narkose kommentarlos. Nach dem Eingriff schlimme Schmerzen, mehrfach erbrochen, keine Unterstützung. Im Hinterhof hätte es nicht schlimmer sein können.

— Baden-Württemberg, 2017

Ich musste nackt über den Flur in den OP…
— Nordrhein-Westfalen, 2020

Als Tina im Operationssaal ankommt, begrüßt sie niemand oder erklärt ihr, was nun passiert. So erinnert sie sich heute. Plötzlich habe sie gespürt, wie kaltes Metall in sie eingeführt wird, erzählt sie im Gespräch mit CORRECTIV.Lokal. Sie sei laut geworden und habe nach einer Narkose verlangt. Schließlich wird ihr eine Narkosemaske gereicht. Auch zu diesen Schilderungen von Tina beantwortet die Klinik keine Fragen.

Entlassung „bei subjektivem Wohlbefinden“

„Ich habe so richtig schnell und richtig tief Luft geholt, um so schnell wie möglich ausgeknockt zu werden von der Narkose. Um der Situation zu entkommen, in der ich war“, erinnert sich Tina heute.

Tinas Operation dauert elf Minuten. Das zeigt das OP-Protokoll.

Sie wacht in demselben blutigen Bett auf, in dem sie vorher Stunden gewartet hat. Es geht ihr schlecht. Durch die Narkose ist sie aufgewühlt. Sie weint und schreit wohl auch. Die Pflegerin, die ihr die Schmerzmittel verweigert habe, habe sie angeherrscht, dass sie sich zusammenreißen und leise sein solle, sagt Tina. Danach, wie es ihr gehe, habe sie dagegen niemand gefragt. 

Vor ihrer Entlassung aus der Klinik spricht Tina mit einer Ärztin. Sie habe ihr berichtet, was sie in den Stunden zuvor erlebt hat. Die Ärztin habe ihr zugehört, aber ihre Schilderungen nicht kommentiert, sondern ihr den Entlassungsbrief in die Hand gedrückt, sagt Tina heute. Dieser liegt CORRECTIV.Lokal vor. Zum Verlauf der Operation heißt es dort: 

„Bei komplikationslosem Verlauf erfolgt die Entlassung der Patientin bei subjektivem Wohlbefinden.“

Auch zum Entlassungsgespräch äußert sich die Klinik gegenüber CORRECTIV.Lokal nicht.

Abends bricht Tina bei ihren Eltern zusammen. In den Wochen nach dem Abbruch geht es ihr so schlecht, dass sie an Suizid denkt. Die traumatischen Erfahrungen im Krankenhaus verfolgen sie. Knapp vier Wochen nach dem Abbruch beginnt Tina eine Therapie. Die Akte ihrer Therapeutin bestätigt die Suizidgedanken. Die Therapeutin diagnostiziert eine akute Belastungsreaktion und eine schwache Depression. Tina spricht in den folgenden Wochen immer wieder mit ihrer Therapeutin über ihre traumatischen Erfahrungen im Krankenhaus, wie die Patientinnenakte zeigt.

Heute geht es Tina besser. Sie hat eine neue Gynäkologin gefunden, der sie vertraut.

Die Folgen schlechter Versorgung

Beleidigungen, Bloßstellungen, Vorhaltungen,Verweigerung von Schmerzmitteln, keine Aufklärung – viele Betroffene berichteten CORRECTIV.Lokal in der CrowdNewsroom-Umfrage und in Gesprächen, dass sie das Verhalten von medizinischem Personal bei ihrem Schwangerschaftsabbruch traumatisiert habe.

Meinen Abbruch habe ich nie bereut. Aber die Erfahrungen in der Praxis, in der der Abbruch durchgeführt wurde, haben mich traumatisiert. Ich konnte danach mein eigenes Blut nicht mehr sehen. Liegende Positionen bei ärztlichen Untersuchungen haben mir Angst gemacht. Die gynäkologische Praxis ist für mich zu einem richtigen Angstraum geworden. Deshalb habe ich eine Therapie gemacht.

— Baden-Württemberg, 2019

Mein damaliger Gynäkologe hat mir schlimme Vorwürfe gemacht und gesagt, dass Abtreibungen Mord seien. Am Ende bin ich für meinen Abbruch in die Niederlande gefahren. Ich habe mich nach dem Schwangerschaftsabbruch jahrelang nicht zu einem Frauenarzt getraut. Auch als ich in ein anderes Bundesland gezogen bin. Obwohl ich wusste, dass ich meine Gesundheit riskiere, weil ich nicht zu Vorsorgeuntersuchungen gehe. Ich habe mich immer wieder überwunden und Termine beim Frauenarzt gemacht, aber dann doch kurz vorher abgesagt, weil ich so Angst hatte.

— Baden-Württemberg, 2015

Einige beginnen danach wie Tina eine Therapie. Viele haben nach dem Erlebten so große Angst vor Gynäkologen und Gynäkologinnen, dass sie sich jahrelang in keine gynäkologische Praxis trauen.

Insgesamt haben 1.505 Menschen CORRECTIV.Lokal von ihrem Abbruch berichtet. Ihre Geschichten geben einen bisher nicht dagewesenen Einblick. Auf unserer Themenseite fassen wir alle Recherchen zusammen. Auch von zahlreichen Lokalmedien aus ganz Deutschland, mit denen wir gemeinsam recherchiert haben und die zeitgleich berichten. Teilen Sie diese Geschichten mit einem Klick auf den folgenden Link, wenn Sie helfen wollen, die Recherchen bekannt zu machen.
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Autorin: Miriam Lenz
Redaktionelle Mitarbeit: Jonathan Sachse, Gesa Steeger

Faktencheck: Pia Siber
Illustration: Mohamed Anwar
Design: Belén Ríos Falcón