PFAS-Chemikalien im Trinkwasser: Verschwiegene Folgen eines Umweltskandals
Zehntausende Menschen in der Region Niederrhein sind Opfer eines bis heute ungesühnten Umweltverbrechens. Ihr Trinkwasser ist mit giftigen Chemikalien verschmutzt. Der örtliche Wasserversorger und die zuständige Behörde verschweigen das Ausmaß des Skandals.
Leitungswasser genießt in Deutschland einen sehr guten Ruf. Laut dem Umweltbundesamt ist es von „konstant hoher Qualität“ und eines der „am besten kontrollierten Lebensmittel“. Wird es mit Schadstoffen verschmutzt, ist der Aufschrei normalerweise groß. In den niederrheinischen Städten Willich, Tönisvorst und Meerbusch herrscht hingegen Schweigen.
Das könnte daran liegen, dass die Menschen in diesen Städten bislang nicht die ganze Wahrheit über die Qualität ihres Trinkwassers kennen. Seit knapp zwei Jahren ist zwar bekannt, dass es mit Industriechemikalien, sogenannten PFAS, belastet ist. Die Stadtwerke Willich und das zuständige Gesundheitsamt behaupten jedoch: Das Wasser könne „bedenkenlos“ getrunken werden. Eine fragwürdige Einschätzung, wie unsere Recherche zeigt.
Anders als es Stadtwerke und der betroffene Kreis Viersen darstellen, bekommen sie die Belastung durch die gesundheitsgefährdenden Chemikalien nicht in den Griff. Maßnahmen, die „umgehend“ eingeleitet wurden, wirken oft nur vorübergehend. Immer wieder steigen die PFAS-Konzentrationen im Trinkwasser in einen brenzligen Bereich. Das belegen Proben, die die Stadtwerke seit Anfang 2024 wöchentlich nehmen. CORRECTIV liegen die Ergebnisse vor. Eine Grenze, die Schwangere, Kleinkinder und andere vulnerable Gruppen schützen soll, wird wiederholt überschritten. Die rund 100.000 Menschen, die das belastete Wasser beziehen, erfahren davon so gut wie nichts.
Was sind PFAS?
Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, wie die Gruppe der PFAS ausgeschrieben heißt, sind künstlich hergestellte Chemikalien. Sie finden in vielen Bereichen Verwendung, von der Teflon-Pfanne über Ski-Wachs bis zu speziellen Anwendungen in Medizin und Industrie. Auch Löschmittel, die zur Bekämpfung von Bränden eingesetzt werden, können PFAS enthalten. In diesem Fall sind sie offenbar die Quelle der Belastung, ganz ohne Brand.
Und wie überhaupt sind die giftigen Chemikalien ins Trinkwasser gelangt? Antworten könnte ein Prozess liefern, der an diesem Donnerstag am Amtsgericht Krefeld beginnt. Angeklagt sind drei Männer. Als Mitarbeiter einer Recyclingfirma sollen sie Feuerlöschmittel, die PFAS-Chemikalien enthalten, illegal entsorgt haben.
Die Suche nach den mutmaßlichen Verantwortlichen des Trinkwasser-Skandals führt zwar zu einem anderen, längst nicht mehr existierenden Betrieb. Doch Recherchen von CORRECTIV zeigen: Zwischen beiden Unternehmen bestanden enge Beziehungen.

Die erste Spur im Abwasser
Die giftigen Löschmittel beschäftigen die Behörden schon seit vielen Jahren. Das zeigen CORRECTIV-Anfragen bei den verantwortlichen Stellen. Der erste Hinweis, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann, stammt aus dem Jahr 2014. Damals wurden im Abwasser eines Klärwerks in Mönchengladbach PFAS entdeckt. Das bestätigt uns der Niersverband, der das Klärwerk betreibt.
Um den Weg der Chemikalien ins Abwasser zurückzuverfolgen, ließ der Verband Proben in der Kanalisation nehmen. „Einleiterrecherche“ nennt sich diese Spurensuche. Stück für Stück testete man sich vor – bis zu einem Betrieb in Willich. Dessen Betätigungsfeld: das Recycling von ausrangierten Feuerlöschern.
Vor Ort deutet heute nichts mehr auf den Betrieb im Willicher Ortsteil Anrath hin. Seine früheren Hallen dienen mittlerweile einem Dachdecker als Lager. Im Gespräch mit CORRECTIV erinnert sich lediglich ein Mitarbeiter einer benachbarten Firma: „Da haben zwei oder drei Leute gearbeitet. Die standen vor den Hallen und haben Feuerlöscher aufgeflext.“ Was in den Hallen vorgegangen ist, habe er nicht gesehen.
Der Kreis Viersen erhielt damals einen Hinweis des Niersverbandes und rückte zur Kontrolle aus. „Untersuchungen bestätigten PFAS-Befunde in der Grundstückskanalisation und in den Betriebsbereichen des Unternehmens“, so ein Sprecher des Kreises heute auf Anfrage von CORRECTIV. Die gefährlichen Chemikalien sind Bestandteil flüssiger Löschschaummittel, die der Betrieb offenbar einfach in den Abfluss gekippt hatte.
Illegale Entsorgung von Löschmitteln: Ermittlungen eingestellt
Der Kreis untersagte anschließend die „Einleitung von Löschschaum in die Kanalisation“ und ordnete die fachgerechte Entsorgung vorhandener Reste und die Reinigung der Kanalisation an. Außerdem folgte eine Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Krefeld. Zeitnah sanken im Klärwerk die PFAS-Gehalte. Für den Kreis Viersen der Beleg dafür, dass seine Maßnahmen wirkten. Hinweise darauf, dass PFAS nicht nur in die Kanalisation, sondern auch in die Umwelt gelangt sein könnten, habe es nicht gegeben.
Gesundheitliche Gefahren durch PFAS
Was genau die Staatsanwaltschaft Krefeld damals unternommen hat, ist heute unklar. Sie hat das Verfahren eingestellt, Unterlagen dazu seien „aufgrund der gesetzlichen Frist“ vernichtet worden, wie eine Sprecherin berichtet. Im Jahr 2017 stellte auch die Firma, die die Löschmittel in der Kanalisation entsorgt haben soll, den Betrieb ein. Der Fall wurde ad acta gelegt – und geriet in Vergessenheit.
In all der Zeit hat offenbar niemand daran gedacht, dass sich nur rund 500 Meter von dem Betrieb entfernt die Brunnen des Wasserwerks Willich befinden. Jahre später dann die böse Überraschung.

Bevölkerung über Schadstoffe im Trinkwasser im Ungewissen
Es war im August 2023, als die PFAS wieder auffielen. Es war gleichzeitig das erste Mal, dass die Stadtwerke in ihren Brunnen nach den Industriechemikalien suchten. Zuvor hatten sie dafür offenbar keinen Grund gesehen.
Von dem PFAS-Fall, der sich Jahre vorher bei dem nahegelegenen Recyclingbetrieb für Feuerlöscher ereignet hatte, wussten die Stadtwerke lange Zeit wohl nichts. Der Wasserversorger will erst im März 2024 „im Rahmen der Gespräche mit den Behörden“ erfahren haben, dass die unsachgemäße Entsorgung Ursache des PFAS-Schadens sein könnte.
Im Dunkeln bleibt auch die Bevölkerung – bis heute. Anfang März 2024, Monate nach der Entdeckung, erfuhr sie zwar über mehrere Pressemitteilungen des Kreises Viersen von dem brisanten Fund in ihrem Wasser. Unter Berufung auf einen „aktuellen Testwert“ gaben Kreis und Stadtwerke aber Entwarnung. Die Förderung aus den vergifteten Brunnen sei reduziert und an anderen, unbelasteten Standorten erhöht worden. „Diese Maßnahme stellt sicher, dass die Menschen in den von Anrath aus belieferten Gebieten Willich, Tönisvorst und Meerbusch-Osterath das Leitungswasser weiterhin bedenkenlos trinken können.“
Die Ergebnisse der Trinkwasser-Proben, die CORRECTIV vorliegen, belegen jedoch: Die Schadstoffkonzentrationen steigen immer wieder in besorgniserregende Höhen.
Zwar existiert bis heute kein gesetzlich festgelegter Grenzwert für PFAS im Trinkwasser. Erst im neuen Jahr, ab dem 12. Januar 2026, müssen die knapp 6.000 Wasserversorger in Deutschland eine vorgeschriebene Höchstbelastung einhalten.
Der künftige Grenzwert liegt bei 100 Nanogramm pro Liter (ng/l) für die Summe von 20 PFAS-Varianten. Zwei Jahre später kommt noch ein strengerer Wert hinzu. Er liegt bei 20 ng/l für die Summe von vier Substanzen: PFOA, PFNA, PFHxS und PFOS.
Bis dahin gilt für PFOA und PFOS, zwei besonders toxische Varianten aus dem Spektrum der PFAS-Chemikalien, ein sogenannter Vorsorge-Maßnahmen-Wert. Dieser liegt bei 50 Nanogramm pro Liter (ng/l) – und sollte auch für den Kreis Viersen verbindlich sein. Darauf einigten sich Kreis und das nordrhein-westfälische Umweltministerium. In einem Bericht der Landesregierung heißt es dazu: Es bestehe „von Beginn an Einigkeit“ darüber, dass die Konzentration der Schadstoffe „zuverlässig“ und „dauerhaft“ unterhalb des Vorsorge-Wertes liegen müsse.
Als am 10. Januar 2024 die Stadtwerke erstmals nicht nur das Brunnen-, sondern auch das Trinkwasser untersuchen, wird diese Grenze für die Substanz PFOS jedoch bereits deutlich überschritten – um beinahe das Doppelte. Trotz Umstellung der Brunnenförderung. In den nächsten knapp zwei Jahren folgen weitere Überschreitungen, allein zwischen dem 5. September und dem 10. Oktober 2024 bei acht von insgesamt zwölf Proben.

Schwangere und Kleinkinder „besonders empfindlich“
Der Vorsorge-Maßnahmen-Wert gilt laut einer Empfehlung des Umweltbundesamtes (UBA) für „besonders empfindliche Bevölkerungsgruppen“: für Schwangere, stillende Mütter, Säuglinge und Kleinkinder im Alter von bis zu 24 Monaten. Alexander Eckhardt, Toxikologe beim UBA, erklärt dazu auf Anfrage von CORRECTIV: „Der Wert basiert nicht auf einer breiten toxikologischen Datenbasis, sondern auf dem Vorsorgegedanken.“
Das wirft die Frage auf, wie wichtig dem Kreis Viersen und den Stadtwerken dieser Gedanke ist. Was tun sie, um die Menschen in Willich und den anderen Orten zu schützen? „Das Umweltbundesamt empfiehlt, die betroffene Bevölkerung zu informieren und Maßnahmen zu ergreifen, um die vorgegebenen Werte wieder einzuhalten“, so Eckhardt. Die Bevölkerung aufzuklären sei wichtig, damit betroffene Personen belastetes Wasser meiden könnten.

Erst vor kurzem wurde in Baden-Württemberg ein ähnlicher Fall bekannt – und dort klärten die Behörden die Bevölkerung auf. Hier ging es um PFOA, die andere toxische Einzelsubstanz.
Weil das Ergebnis einer Probe mit 59 ng/l knapp über dem Vorsorge-Wert lag, richtete sich die Gemeinde Sinzheim in einer öffentlichen Mitteilung an Schwangere und andere vulnerable Gruppen: „Bis zu einer dauerhaften Absenkung unter diesen Vorsorgewert, empfiehlt das Gesundheitsamt, das Leitungswasser nicht zu trinken, zu verzehren oder zur Zubereitung von Speisen zu verwenden.“ Betroffenen bot sie Wasser aus einer anderen Quelle zum Abfüllen an, 30 Liter pro Tag. Nach rund zwei Wochen hob Sinzheim die Warnung wieder auf.
Konkrete Messergebnisse: Fehlanzeige
Und der Kreis Viersen? Auf Nachfrage von CORRECTIV verweist der Kreis auf seine Internetseite, wo er „laufend“ über „aktuelle Untersuchungsergebnisse“ informiere.
Nach ein paar Klicks lassen sich dort tatsächlich ein paar Angaben finden. Am 3. Dezember dieses Jahres heißt es da, dass „die aktuellen Testwerte vom 13.11.2025 für das Trinkwasser unter dem Vorsorge-Maßnahmenwert“ liegen. Konkrete Messergebnisse? Fehlanzeige. Stattdessen wird unter Verweis auf eine mehr als anderthalb Jahre alte Pressemitteilung behauptet, dass der Vorsorge-Wert „konstant“ eingehalten wird.

Tatsächlich wiegt das Problem mit den giftigen Chemikalien so schwer, dass die Stadtwerke im vergangenen Sommer eine radikale Entscheidung trafen: Sie gaben eines ihrer Versorgungsgebiete auf. Seitdem versorgt ein anderes Unternehmen die rund 7.000 Einwohnerinnen und Einwohner des Ortes Vorst mit Trinkwasser.
Auch dies sollte die Förderung aus den vergifteten Brunnen reduzieren und damit auch den Eintrag von PFAS ins Trinkwasser, so die Stadtwerke auf Nachfrage von CORRECTIV. Nach den uns vorliegenden Daten wurden danach dennoch wieder vereinzelt die Vorsorge-Werte überschritten, zuletzt am 6. November.
Immer wieder taucht derselbe Nachname auf
Wie fatal die Folgen illegaler Entsorgung sein können, zeigt auch der Fall, der nun am Amtsgericht Krefeld verhandelt wird. Das Trinkwasser blieb hier zwar verschont. Doch Boden und Grundwasser sollen kontaminiert sein.
Der Schauplatz dieses mutmaßlichen Umweltverbrechens liegt ebenfalls in Willich, wenn auch in einem anderen Ortsteil. Auch hier zerlegte ein Recyclingbetrieb alte Feuerlöscher in ihre Einzelteile und – so der Verdacht – entsorgte giftige Löschmittel in der Umwelt.
PFAS-haltige Löschmittel gelten als gefährlicher Abfall und müssen im 1.200 Grad heißen Ofen einer Sondermüllverbrennungsanlage beseitigt werden. Das ist teuer. Mit ihren fragwürdigen Methoden sollen die Beschuldigten zwischen 2020 und 2024 Kosten in Höhe von rund 230.000 Euro gespart haben. Das erklärte die bei der Staatsanwaltschaft Dortmund angesiedelte Zentralstelle für die Verfolgung von Umweltkriminalität in Nordrhein-Westfalen im Juni.

Die räumliche Nähe, das gleiche Geschäftsmodell – dazu kommen konkrete geschäftliche Beziehungen zwischen dem Betrieb der Angeklagten und der Firma, die für die Belastung des Trinkwassers verantwortlich sein soll. Das bestätigt die Bezirksregierung Düsseldorf auf Nachfrage. So trat die eine Firma 2015 als Transporteur auf, während die andere die Feuerlöscher aus München entsorgte.
Daneben könnten familiäre Beziehungen zwischen beiden Betrieben existiert haben. Das legen CORRECTIV-Recherchen nahe: Im Laufe der Jahre meldeten mehrere Personen mit teils identischen Nachnamen in Willich ein Gewerbe zur Verwertung von Feuerlöschern an. Das geht aus dem Gewerberegister der Stadt hervor. Ob die jeweiligen Personen tatsächlich miteinander verwandt sind, bleibt offen.
Über ihre Anwälte haben wir die Angeklagten zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft und zu ihren Verbindungen zu dem anderen Recyclingbetrieb befragt. Doch niemand hat unsere Fragen beantwortet. Die bald beginnende Gerichtsverhandlung könnte hier mehr Klarheit bringen. Sicher ist dagegen schon heute: Ein neuer Betreiber setzt in Willich die Zerlegung von Feuerlöschern fort. Sein Familienname ist ein altbekannter.
Im Kampf gegen die PFAS-Belastung des Trinkwassers setzen der Kreis Viersen und die Stadtwerke ihre ganze Hoffnung nun auf eine 1,4 Millionen Euro teure Filteranlage, die seit Juli errichtet wird. Mittels Aktivkohle soll sie die Chemikalien aus dem Wasser entfernen. So will man den Grenzwert einhalten, der ab kommenden Januar bundesweit für die gesundheitsgefährdenden Chemikalien gilt.
Text und Recherche: Michael Billig
Redigat: Annika Joeres, Anette Dowideit
Textproduktion: Samira Joy Frauwallner
Faktencheck: Annika Joeres
Fotos: Michael Billig
Grafik: Rose Mintzer-Sweeney
Collage: Ivo Mayr