#Pillenkick

„Das Problem ist im Amateurfußball sogar noch größer als bei den Profis“

Zahlreiche Hobbyfußballer nehmen Schmerzmittel wie Ibuprofen missbräuchlich ein. Das haben die Ergebnisse unserer Umfrage zu Schmerzmitteln im Amateurfußball gezeigt. Neue Recherchen von Lokalzeitungen aus dem CORRECTIV-Partnernetzwerk decken auf, dass der #Pillenkick noch weiter verbreitet ist. „Das ist selbstverständlich geworden“, sagt ein Trainer.

von Bianca Hoffmann , Arne Steinberg , Jonathan Sachse

191129_Gorilla_IM-7529
Ein Amateurspiel in Mönchengladbach, auch hier sind Schmerzmittel ein Thema. Foto: Ivo Mayr/ CORRECTIV

DIE #PILLENKICK-RECHERCHE
Diese Geschichte ist Teil einer Recherche von CORRECTIV und der ARD-Dopingredaktion zum Thema Schmerzmittelmissbrauch im Fußball. Wir berichten in mehreren Artikeln, in einer TV-Dokumentation und im Radio darüber, wie Fußballer und Fußballerinnen von der Kreisliga bis in die Champions League durch Schmerzmittelmissbrauch ihre Gesundheit riskieren. Wir benennen Verantwortliche und zeigen, welche gesundheitlichen Folgen entstehen.

Schmerzmittel im Amateurfußball, das sei „leider definitiv ein Thema“, sagt Andreas Meise, ein erfahrener Trainer aus dem Ruhrgebiet im Interview mit dem Sportteil der WAZ aus Herne. Ein paar Kilometer weiter in Wattenscheid kommt Bruno Staudt, Spieler bei der SG Wattenscheid 09 zu einem ähnlichen Ergebnis:  „Es gibt in jeder Mannschaft mindestens einen, der regelmäßig Schmerzmittel dabei hat. Es gibt auch Situationen, in denen die Tabletten in der Kabine rumgehen.” Die Zahlen, die CORRECTIV und die ARD-Dopingredaktion im Rahmen der Schmerzmittelumfrage erhoben hatten, seien „absolut realistisch“. 

1142 Fußballerinnen und Fußballer hatten sich an einer CrowdNewsroom-Befragung von CORRECTIV und der ARD-Dopingredaktion beteiligt, fast 80 Prozent gaben an, im Verlauf der Karriere Schmerzmittel geschluckt zu haben. Mehr als ein Drittel sogar mehrmals pro Saison. Mehr als 40 Prozent der Antworten bezogen sich auch darauf, dass die Spieler nicht nur Schmerzen lindern wollen – eine höhere Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit waren auch Ziele, die die Spieler sich von der Schmerzmitteleinnahme versprachen.

Auch die WAZ in Gelsenkirchen berichtete über unsere Recherche. Ayhan Karaca betreut als Physiotherapeut viele Amateurkicker der Region. Er ist sich sicher: „Das Problem ist im Amateurfußball sogar noch größer als bei den Profis. Viele Amateurfußballer haben keine Geduld und brennen darauf, spielen zu können.” Der frühere Amateurtrainer Oliver Röder sagt in der WAZ aus Mülheim: „Das ist selbstverständlich geworden und geht von der Kreis- bis in die Oberliga.” 

Lokalzeitungen berichten zum #Pillenkick

Die Zitate stammen aus den regionalen Sportteilen der WAZ, die im Rahmen der #Pillenkick-Recherche den Schmerzmittelmissbrauch in ihrer Region untersuchten. Dafür hat CORRECTIV.Lokal, das Netzwerk für investigative lokale Recherchen, vor zwei Wochen Zeitungen in ganz Deutschland kontaktiert und die lokalen Kolleginnen und Kollegen mit Recherchematerial unterstützt. Neben der WAZ griffen so allein in den ersten zwei Tagen nach der Veröffentlichung 20 Lokalzeitungen aus ganz Deutschland das Thema auf.

Vor Ort sprachen die Kollegen mit Trainern, Spielern und Physiotherapeuten über das Ausmaß des Problems. So wurden die Ergebnisse unserer nicht-repräsentativen Umfrage (Alle Ergebnisse als PDF-Download) mit konkreten Erfahrungsberichten ergänzt. Und diese Fälle verdeutlichen, welche Konsequenzen Schmerzmittelmissbrauch haben kann.

Ein Spieler, der sich offen zu seinem Tablettenkonsum äußert, ist Fabian Rose. Der 27-Jährige spielte bis vor kurzem bei TuS Strudden in Ostfriesland. Nun aber, so der Anzeiger für Harlingerland, müsse er seine Karriere beenden – der Grund: ein Knorpelschaden vierten Grades. „Statt auf die Warnsignale seines Körpers zu hören, warf Rose regelmäßig Ibuprofen-Tabletten ein, um seinen persönlichen Ansprüchen gerecht zu werden”, heißt es im Text. 

Rose selbst sagt: „Hätte ich das früher behandeln lassen, statt weiter zu spielen, hätte ich vermutlich jetzt auch nicht aufhören müssen. Dies hat mir der Arzt so auch bestätigt. So aber hat sich das Fußballspielen für mich auf jeden Fall erledigt.”

Für Gerrit Schökel aus Sande an der Nordseeküste, ebenfalls nur wenige Kilometer von Wilhelmshaven entfernt, gehörte der Griff zur Tablettenpackung lange zum Alltag – bis er nach einem Spiel Blut spuckte. „Ich habe zu jedem Training Schmerzmittel genommen”, sagte Schökel dem Jeverschen Wochenblatt. Eine Pause im Amateurfußball kam für ihn dabei offenbar nicht in Frage. „Ich habe mir sonntags einen Bänderriss zugezogen und stand am Dienstag wieder auf dem Platz. Einfach Tape drum, Schmerztablette rein und los ging’s.” 

Unterschätzte Gesundheitsrisiken

Jeder fünfte Amateurfußballer gab in unserer Umfrage an, er greife einmal pro Monat oder öfter zu Schmerzmitteln. Zahlreiche Spieler nehmen vor jedem Spiel oder sogar mehrmals pro Woche Schmerzmittel. Und manche Amateurfußball meldeten, sie würden vor jedem Training Schmerzmittel schlucken. 

Schökel ging sogar noch weiter: „Vor den Punktspielen gab es eine 400er, in der Pause noch eine und wenn es schlecht lief, in den letzten zwanzig Minuten noch eine.” Von Nebenwirkungen sei der 33-Jährige nicht verschont geblieben. „Ich erinnere mich an eine Situation, da lief mir in der Halbzeit die Suppe von der Stirn runter und ich habe nur gefragt, auf welches Tor wir denn jetzt spielen würden. Ich war weggetreten.”

„Verletzungsbedingte oder erwartete Schmerzen mit Schmerzmitteln zu reduzieren oder gar zu unterdrücken, kann zu ernsthaften funktionellen und strukturellen Schädigungen am Bewegungssystem führen, denn das ‘Warnsignal’ Schmerz ist ausgeschaltet”, warnt Frank Stockey, Physiotherapeut aus Herne, im Gespräch mit der WAZ.

Jörg Wertenbruch, Orthopäde und Unfallchirurg aus Wanne-Eickel, empfiehlt den Fußballern: „Jede Verletzung sollte komplett ausgeheilt werden. Erst dann kann die Belastung wieder langsam hochgefahren werden.” Ansonsten drohten „Muskelfaserrisse, Bänder- und Gelenkverletzungen.”

Doch bei einigen Fußballern verhallen die Appelle. „Manchmal habe ich die Tabletten auch einfach nur vorbeugend eingenommen. Man fühlt sich dann vom Kopf her sicherer”, beschreibt Sven Riekert im Reutlinger General-Anzeiger seine Motivation. Teilweise habe er zwei Ibuprofen 600 genommen, sogar vor der Arbeit. Einige Spieler, mit denen die Kooperationspartner von CORRECTIV sprechen konnten, sprachen von einem Gewöhnungseffekt, der eintreten würde, sobald sie regelmäßig auf Schmerzmittel zurückgriffen. „Es ist fast so, als ob ich einen Schluck Wasser trinke”, sagte einer von ihnen der WAZ-Lokalausgabe Herne Wanne-Eickel.

Ein anderer Spieler erklärte der Volksstimme: „Ich bin ehrgeizig, will immer einhundert Prozent Vollgas geben und mich von den jungschen Leuten auch nicht abkochen lassen.” Die Folge: Dreimal pro Woche nehme er Schmerzmittel, um Fußball spielen zu können. Auch für ihn sei es „Kopfsache“, denn er nehme die Schmerzmittel „vorsichtshalber“. Marc Mensing aus Gelsenkirchen, ein Spieler mit Arthrose, sagte der WAZ, dass er „vor dem Spiel immer eine Schmerztablette nehmen” musste. Sonst hätte er die 90 Minuten nicht überstanden. 

Trainer äußern sich

Eine weitere Stärke der Recherchen der Kollegen vor Ort: Bei ihnen kamen auch Trainer zu Wort, die sich zumindestens im den oberen Ligen kaum zum Thema äußern. Sie schilderten Gründe, warum Spieler auf Schmerzmittel zurückgreifen und wie sie als Trainer damit umgehen. „Ich versuche, es langfristig zu sehen und Spielern lieber eine Pause zu gönnen”, sagt Ingo Freitag aus Bochum-Ehrenfeld gegenüber der WAZ. Aber: „Wenn es ein wichtiger Mann ist und dazu das Ende der Saison naht, dann wollen in den meisten Fällen sowohl Spieler als auch Trainer alles möglich machen, damit der Spieler auflaufen kann.”

Auch Andreas Meise bringt das Dilemma gegenüber der WAZ auf den Punkt: „Zum einen sind viele Tabletten zugelassen, zum anderen werden sie zu Hause oder heimlich eingeworfen. Mir sagt der Spieler, er sei fit. Dass er nur dank Tabletten 90 Minuten durchhält, kann ich doch nicht ahnen.” Meise betont die Fürsorgepflicht, die die Trainer gegenüber den Spielern hätten – verbieten aber könne er es nicht, die Spieler seien schließlich erwachsen.

Wir würden uns freuen, wenn Sie unter dem Hashtag #Pillenkick in den Sozialen Medien ihre Erlebnisse mit Schmerzmitteln teilen. Weitere Artikel und Informationen zur Recherche finden Sie auf unserer Übersichtsseite pillenkick.de und in unserem Newsletter. Sie haben Hinweise? Dann melden Sie sich bei unseren Reportern Jonathan Sachse oder Arne Steinberg.