Bildung

Wie ernst meinen es die Kultuschefs mit mehr Gerechtigkeit für Schulkinder?

Die Bekämpfung von Bildungsungleichheit ist Ländersache – und eines der Themen, die Wählerinnen und Wähler am meisten umtreibt. CORRECTIV stellte den Kultusministerinnen und -Ministern sieben Fragen zu konkreten Lösungsvorschlägen. Sie sollten sich jeweils persönlich positionieren. Geantwortet haben nur sechs – und die sind sich uneinig.

von Anette Dowideit , Till Eckert , Sebastian Haupt , Elena Schipfer , Leserinnen und Lesern des Spotlight

Kultuschefs
Kultuschefs von links nach rechts: Sascha Karolin Aulepp (SPD, Bremen), Simone Oldenburg (Linke, Mecklenburg-Vorpommern), Karin Prien (CDU, Schleswig-Holstein), Julia Willie Hamburg (Grüne, Niedersachsen), Armin Schwarz (CDU, Hessen), Stefanie Hubig (SPD, Rheinland-Pfalz). (Fotos: dpa / picture alliance / Jürgen Heinrich / Arne Dedert / Marco Rauch / Jens Krick / Jens Büttner / Focke Strangmann / Collage: CORRECTIV)

Wie ungleich sind die Bildungschancen für Schülerinnen und Schüler in Deutschland? Wie stark hängen sie damit zusammen, aus welcher Familie man kommt, wo man lebt und wie reich die Eltern sind?

Diesen Fragen ist CORRECTIV gemeinsam mit den rund 100.000 Leserinnen und -Lesern des Spotlight-Newsletters nachgegangen, in einer mehrmonatigen Recherche. Tausende Menschen nahmen für „Gemeinsam Aufgedeckt“ an regelmäßigen Umfragen teil, auf welche Aspekte wir uns hauptsächlich fokussieren sollten; mit Dutzenden standen wir persönlich in Kontakt, darunter mit Schulrektorinnen, Lehrern und Eltern. Gemeinsam sammelten wir etwa deutschlandweit Initiativen, die sich für bessere Bildung einsetzen

Das zivilgesellschaftliche Engagement im Bildungsbereich ist beeindruckend. Dass es ein solches in dieser Masse aber überhaupt braucht, sagt viel über den Zustand der deutschen Bildungslandschaft aus. Wir recherchierten deshalb auch verstärkt zu denjenigen, die die meiste Macht über Bildungsfragen in unserem Land haben: den 16 Kultusministerinnen und -ministern. Denn Bildung ist in Deutschland Ländersache. Und gleichzeitig ein Thema, das Wählerinnen und Wähler stark umtreibt.

Sieben Fragen an die Kultuschefs der Länder

Die Kultuschefs legen Bildungsstandards fest und regeln die Ausbildung der Lehrkräfte. Als Vertretende ihrer Länder haben sie auch eine Stimme in der Kultusministerkonferenz, wo länderübergreifend zu Bildungsthemen getagt wird. 

Doch für was stehen diese Menschen? Sind sie traditionell oder progressiv eingestellt? Gemeinsam mit den Spotlight-Leserinnen und Lesern entwickelten wir sieben Positionierungsfragen an die Kultusministerinnen und -minister. Unser Ziel: Ihre persönlichen Einstellungen zu konkreten Lösungsvorschlägen aus der Bildungsforschung abbilden. 

Die Fragen haben wir von zwei Fachleuten überprüfen lassen und dann versendet. Sie finden diese im folgenden Aufklappfeld (bitte klicken).

Unsere Fragen an die Kultusministerinnen und Kultusminister
  1. Sind Sie für eine länderübergreifend standardisierte, verbindliche Diagnostik im schulischen Bereich, um die Lese- und Rechenfähigkeiten der Schüler*innen systematisch zu erfassen (etwa durch ein Tool wie das in Baden-Württemberg eingesetzte „Quop“)?
  2. Würden Sie in Ihrem Bundesland flächendeckend einen Sozialindex an Grundschulen einsetzen, anhand dessen Ressourcen (z.B. höhere Budgets, die mehr Lehrkräfte und mehr zusätzliches sozialpädagogisches Personal) systematisch und gerechter verteilt werden könnten?
  3. Würden Sie sich für eine Verlängerung der Primarstufe auf sechs Jahre einsetzen?
  4. Würden Sie einem Staatsvertrag zustimmen, mit dem sich die Bundesländer verpflichten, alle Lehramtsabschlüsse gegenseitig anzuerkennen und darüber hinaus die Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen erheblich zu erleichtern?
  5. Befürworten Sie eine Wiedereinführung von gemeinsamen Vorhaben des Bundes und der Länder, wie 2009 etwa mit dem SINUS-Programm geschehen (Wiedereinführung der Bund-Länderkommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung)?
  6. Würden Sie sich dafür einsetzen, die Lernmittelfreiheit flächendeckend und bundesweit einheitlich für alle Schulen einzuführen, so dass alle Schüler dahingehend gleichgestellt sind (jegliches benötigtes Unterrichtsmaterial bedingungslos kostenfrei)?
  7. Würden Sie sich für ein flächendeckendes Modell einsetzen, das in Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention Schülerinnen und Schülern in allen Schulformen mehr Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte für den Unterricht garantieren würde (Demokratisierung des Unterrichts)?

Unsere Vorgaben für die Beantwortung der Fragen war simpel: Die Kultuschefs sollten persönlich antworten und sich mit Ja oder Nein positionieren. So wollten wir eine Vergleichbarkeit herstellen. Die Korrespondenz mit einigen Ministeriumssprechern gestaltete sich jedoch als schwierig. 

So wollten ganze zehn Kultusbehörden und deren Chefs sich auf mehrere Nachfragen und Bitten hin nicht gemäß diesen Vorgaben äußern. Einige teilten mit, man verstehe das Format nicht, oder die Fragen seien zu komplex für eine einfache Antwort. Die Behörden antworteten dann entweder als Sprechende der Ministerien oder äußerten sich nur allgemein oder mit langen oder länderspezifischen Ausführungen zu den Fragen.

(Grafik: Sebastian Haupt / CORRECTIV)

Darunter sind auch die Behörden der drei Bundesländer, in denen in den kommenden Wochen gewählt wird: Brandenburg, Thüringen und Sachsen. Wegen den anstehenden Wahlen bilden wir das Antwortverhalten der dortigen Behörden im Folgenden ab.

Antwortverhalten bei Landtagswahl-Bundesländern unterschiedlich

Aus dem SPD-geführten Ministerium in Brandenburg – das wie Berlin eine sechsjährige Primarstufe hat – kamen keine konkreten Positionierungen. Stattdessen erklärte eine Sprecherin, was im Land schon alles getan werde. Das linksgeführte Thüringer Ministerium antwortete zwar teils mit Ja oder Nein, das bilde aber die Haltung des Ministerium-Sprechers ab, nicht die persönliche des Ministers. Auch in Sachsen antwortete der CDU-Minister nicht persönlich. 

In Brandenburg würden mit „Vera-3“-Vergleichsarbeiten sprachliche und mathematische Kompetenzen standardisiert erfasst. Das ist jedoch kein verbindliches Diagnostik-Tool; und auch nicht so regelmäßig wie das teils in Baden-Württemberg eingesetzte „Quop“, mit dem Kinder alle paar Wochen einen kurzen Test am Computer machen können, womit der spezifische Lernverlauf abgebildet wird. Laut Fachleuten wäre so etwas ein guter Weg, um Kinder gezielt zu fördern. In Thüringen findet man, wegen unterschiedlicher Voraussetzungen sollte die Hoheit über solche Diagnostiken bei den Ländern verbleiben. In Sachsen sieht man das auch so; dort würde ab diesem Schuljahr zusätzlich zu den „Vera-3“-Arbeiten am Ende der Klassenstufe 2 eine Lernstandserhebung durchgeführt. 

Einen flächendeckenden Sozialindex im Primarbereich plant Brandenburg nicht. Das Thüringer Ministerium würde sich für einen solchen einsetzen. In Sachsen wiederum meint man, ein einheitlicher Sozialindex würde unterschiedliche Bildungszugänge nicht ausreichend darstellen.

Thüringen verweist bei der Frage zur Primarstufe auf die Möglichkeit, eine Thüringer Gemeinschaftsschule zu besuchen. Sachsen verneint die Frage, man habe ein durchlässiges Schulsystem und setze auf „inhaltliche Qualitätsentwicklung statt auf Schulstrukturänderungen“. 

Einen Staatsvertrag für die Anerkennung von Lehramtsabschlüssen erachtet man in Brandenburg als nicht notwendig, es gäbe bereits genug Beschlüsse dazu, etwa der Kultusministerkonferenz (KMK). Auch in Thüringen wird ein solcher als nicht zwingend notwendig erachtet. Sachsen argumentiert ähnlich.

Zwischen Bund und Ländern gibt es aus Brandenburger Sicht schon viele gemeinsame Vorhaben – die Frage nach einer Wiedereinführung einer Bund-Länderkommission für Bildung wird nicht beantwortet. Thüringen sieht eine Wiederbelebung als nicht notwendig für „das gemeinsame Arrangement bei inhaltlichen Fragen“. Auch Sachsen sieht dies als nicht erforderlich an.

Eine Lernmittelfreiheit gibt es in Brandenburg bereits; es sei allerdings „keine Initiative geplant, dem Bund eine Zuständigkeit für eine bundeseinheitliche Regelung dieses Bereichs einzuräumen“. In Thüringen bejahrt man die Frage nach einer flächendeckenden, bundesweit einheitlichen Lernmittelfreiheit, verweist aber auf die höheren Mittel, die dann fließen müssten. In Sachsen herrscht Lernmittelfreiheit; es obliege den anderen Bundesländern, „ihre Rechtsvorschriften entsprechend anzupassen“.

Die Frage nach mehr Mitbestimmungsrechten im Unterricht beantwortet Brandenburg mit dem Schulgesetz, nach dem ab Jahrgangsstufe 4 Schülersprecher und -konferenzen gebildet werden sollen. In Thüringen gäbe es bereits die Möglichkeit für mehr Mitbestimmung durch verschiedene Gremien wie etwa Klassenräte. In Sachsen verweist man auf eine „Schülermitwirkungsverordnung“ und verschiedene Projekte.

Kultuschefs der Länder sind sich bei einigen Fragen uneinig

Nach unseren Vorgaben geantwortet haben sechs Kultusministerinnen und -minister: aus Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Bremen. Sie finden deren Antworten in der folgenden Grafik:

(Grafik: Sebastian Haupt / CORRECTIV)

Einigkeit besteht bei der Frage nach der Verlängerung der Primarstufe auf sechs Jahre: Alle der sechs Ministerinnen und Minister würden sich demnach nicht dafür einsetzen. Uneinig sind sich die Kultuschefs bei den Fragen nach Diagnostik und Sozialindex oder dem Staatsvertrag für die gegenseitige Anerkennung von Lehramtsabschlüssen.

(Grafik: Sebastian Haupt / CORRECTIV)

Gemeinsame Bildungsvorhaben zwischen Bund und Ländern sind selten

Die verschiedenen Haltungen der Ministerinnen und -minister geben auch eine mögliche Erklärung für das weitgehende Ausbleiben von bundesweit flächendeckender Regulatorik oder wenig gemeinsamen Vorhaben im Bildungsbereich – weil solche durch das föderale System nur bei Einigkeit der Kultuschefs eingeführt werden können. 

Eines dieser gemeinsamen Vorhaben zwischen Bund und Ländern ist das sogenannte „Start-Chancen“-Programm. Dadurch sollen sogenannte „Brennpunktschulen“, also solche mit besonderem Förderbedarf, gezielt geholfen werden. Deutschlandweit nehmen rund 4.000 Schulen teil. 

CORRECTIV recherchiert in den kommenden Monaten gezielt zu dem Programm. Wenn Sie Lehrkraft an einer solchen Schule sind, melden Sie sich gerne unter: till.eckert@correctiv.org