Klima-Blog

Wasserstoff ist kein Allheilmittel in der Klimakrise

In ihrer heutigen Stellungnahme warnen Expertinnen des Sachverständigenrats für Umweltfragen davor, Wasserstoff als große Lösung in der Klimakrise zu betrachten. Sie widersprichen damit den Wahlprogrammen deutscher Parteien und der europäischen Lobby der Gasindustrie.

von Katarina Huth , Annika Joeres , Giulio Rubino

Wasserstoff
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier wirbt hier für ein EU-Wasserstoffprojekt: Alle Parteien werben für dieses Gas Foto: Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa

Wasserstoff gilt kurz vor der Bundestagswahl in allen Parteiprogrammen als Heilsbringer in der Klimakrise: „Deutschland soll zum Wasserstoffland Nummer 1 werden”, schreibt die Union, auch die Grünen sagen, Deutschlands Führungsrolle bei Wasserstoff solle weiter ausgebaut werden, und die SPD will Deutschland bis 2030 zum Leitmarkt für Wasserstofftechnologien machen – für die klimaneutrale Erzeugung von Stahl, für CO2-arme PKWs, LKWs und den Schiffs- und Flugverkehr. Ähnlich klingen die Lobeshymnen auf den Energieträger auch bei FDP und Linken.

Heute meldet nun der Sachverständigenrat für Umweltfragen in einer Stellungnahme große Bedenken gegenüber dieser Euphorie für das Gas an: „Wasserstoff wird ein knapper und kostbarer Energieträger bleiben“, sagt die Vize-Vorsitzende des Experten-Gremiums, Claudia Kemfert. In dem 165 Seiten starken Papier, das CORRECTIV vorab vorliegt, wird klar: Bei der Nutzung des Gases sind so viele Fragen noch nicht geklärt – etwa, wo es produziert werden soll –, dass sich in der Klimakrise niemand darauf verlassen kann. „Zurzeit wird das Gas zwar sehr stark diskutiert, aber große Fragen sind ungeklärt – sowohl für grünen als auch für blauen Wasserstoff: Wo ergeben Pipelines überhaupt Sinn? Ist das wirklich ökologisch und vereinbar mit den Klimazielen?“, so die Ökonomin Kemfert.

Dreimal so viele Windräder wie bisher – nur für Wasserstoff-Autos

Blauen Wasserstoff, der also aus fossilen Brennstoffen wie Gas hergestellt wird, lehnt der SRU grundsätzlich ab. Aber auch der grüne, oft als klimafreundliche Alternative gehandelte Wasserstoff, ist kein Allheilmittel. Denn noch ist nicht geklärt, woher die Menge an grünem Wasserstoff aus Wind- und Solarenergie kommen soll. Ein Beispiel zeigt, welche unrealistischen Dimensionen die Wasserstoffproduktion annehmen müsste: Um beispielsweise damit alle deutschen Autos zu betanken, wie es die meisten Parteien vorschlagen, bräuchte es erstaunlich viele Windräder und Sonnenpaneele. Experten der europäischen Organisation „Transport and Environment” haben das für synthetische Kraftstoffe kalkuliert, umgerechnet auf Wasserstoff würde dies bedeuten: Wir bräuchten rund 160 Gigawatt an Windrädern – rund dreimal soviel, wie bislang in Deutschland insgesamt installiert wurde. Ohne, dass damit auch nur eine Stahl- oder Zementfabrik beliefert werden könnte. Bedenkt man, dass es heute um jedes Windrad große Debatten in den Dörfern gibt, erscheint dies unrealistisch.

Wer also Ja zu Wasserstoff für Autos sagt, plant damit zugleich riesige neue Flächen ein – Flächen, die ohnehin noch gebraucht werden, um unser Handy umweltfreundlich aufzuladen oder Fabriken zu elektrifizieren. Daher sagt der Sachverständigenrat, grüner Wasserstoff sollte nur da angewandt werden, wo es keine Alternativen gibt, etwa in der Stahlindustrie oder für den internationalen Schiffs- und Flugverkehr. „Entscheidend ist es aber, dies einzubetten in eine umfassende Strategie für eine Verkehrswende – dazu gehören beispielsweise ein verbesserter Schienenverkehr, mehr ÖPNV und Radinfrastruktur”, so die Ökonomin Kemfert.

Blauer Wasserstoff: „Klimaschädliche Energie auf Jahrzehnte“

Der Sachverständigenrat hat keinen direkten Einfluss auf die Gesetze der Bundesregierung, aber das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts vom vergangenen April hat deutlich gemacht, wie entscheidend seine Stellungnahmen sind: Die Karlsruher Richter bezogen sich in ihrer Urteilsbegründung mehr als zwanzig Mal auf die Prognosen und Berichte des mit sieben Professorinnen besetzten Gremiums.  Seine Expertise war somit entscheidend für das wegweisende Urteil, das die Bundesregierung zu schnellerem Klimaschutz verpflichtete.

Ein zweiter großer Kritikpunkt ist der zumindest von CDU, FDP und SPD geforderte blaue Wasserstoff. „Wenn die Regierung sich jetzt entscheidet, in blauen Wasserstoff zu investieren, also aus fossilen Quellen, dann legen wir uns für Jahrzehnte auf klimaschädliche Energien fest“, sagt Kemfert. Denn für blauen Wasserstoff bräuchten wir CO2-Pipelines, und damit eine ganz neue Infrastruktur. „Das wäre eine kontraproduktive Entwicklung.“

Tatsächlich rechnen nicht nur einige Parteien in Deutschland mit dem fossilen Wasserstoff, sondern auch die EU. Sie will in weniger als 30 Jahren komplett emissionsfrei sein. Um das zu erreichen, stuft sie in Strategien und Entwürfen ein, welche Energiequellen als sauber gelten und somit von ihren Mitgliedstaaten verwendet werden dürfen. Entscheidend für die wirklich klimafreundliche Verwendung von Wasserstoff ist dabei, ob die EU auch die Produktion aus fossilen Energien gutheißt.

Blockade innerhalb der EU

Genau das wird von der sogenannten EU-Taxonomie für Nachhaltigkeit festgelegt, die anhand von sechs Kriterien definiert, ob eine Investition nachhaltig ist. Zu den Kriterien gehören der Schutz der Wasser- und Meeresressourcen, der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung und Kontrolle von Umweltverschmutzung und der Schutz der Biodiversität. Unternehmen müssten anhand dieser Richtlinien erklären, wie nachhaltig ihre Aktivitäten sind. Die Europäische Kommission spricht von einer weltweit ersten „grünen Liste“.

Diese Abschätzung wurde im Juni 2020 veröffentlicht – um jedoch in Kraft zu treten, muss die Kommission zunächst die sogenannten „delegierten Rechtsakte“ genehmigen, die die technischen Kriterien der nachhaltigen Aktivitäten definieren. Die Debatte über diese Verordnungen kam aufgrund des erbitterten Widerstands von fast der Hälfte der Mitgliedstaaten fast zum Stillstand. Einer der Gründe war, dass in einem der Anfangsentwürfe Erdgas nicht als „Übergangskraftstoff“ anerkannt wurde – Länder wie Bulgarien, Kroatien, Zypern, Tschechien oder Polen rebellierten, da sie in der Energieerzeugung stark von diesem Brennstoff abhängig sind.

Die EU vertagt Entscheidungen – und gibt der Gaslobby Zeit

Im April diesen Jahres veröffentlichte die EU den ersten delegierten Rechtsakt, der für die Umsetzung der Taxonomie-Regeln in den jeweiligen Ländern notwendig ist.  Allerdings fehlen darin Regelungen für die Gas- und Kernenergie. Die endgültige Entscheidung soll nun erst 2022 fallen, sie wird dann gemeinsam mit dem zweiten delegierten Rechtsakt veröffentlicht.

Dass die Entscheidung verschoben wurde, ist laut Luca Bonaccorsi, Mitglied der NGO „Transport & Environment“, bereits ein großer Gewinn für die Gasindustrie.

Tatsächlich hätte der alte Entwurf eine nachhaltige gasbasierte Energieerzeugung nur in drei Fällen in Betracht gezogen: Wenn sie eine ältere Anlage auf Basis fossiler Brennstoffe ersetzt und die Emissionen pro Kilowattstunde um mindestens die Hälfte reduziert, und wenn sie kohlenstoffarme Kraftstoffe mit weniger als 270 Gramm CO2 pro kWh verwendet.

Bonaccorsi sagt, dass diese Kriterien so streng waren, dass sie de facto alle Gasaktivitäten von der Liste der nachhaltigen Aktivitäten ausgeschlossen hätten, außer denen, die dazu dienen, Kohlenstoffkraftwerke in Osteuropa zu ersetzen. Die Verzögerung bedeutet also, dass die Gasunternehmen Zeit gewinnen.

Der zweite delegierte Rechtsakt wird aktuell noch debattiert, doch selbst wenn er anerkannt werden würde, müsste er noch vom Parlament verabschiedet werden. Laut dem Online-Medium Euractiv hat sich eine große Opposition gebildet, die verhindern könnte, dass die Taxonomie überhaupt durchgesetzt wird.

Die Erzählung von „sauberem“ Wasserstoff

Ein weiteres Beispiel dafür, wie blauer Wasserstoff – und damit die Interessen der fossilen Brennstoffindustrie – durch in das EU-Gesetzgebungsverfahren sickert, ist der Vorschlag, über den das Europäische Parlament im vergangenen Mai abgestimmt hat. Er war von Jens Geier (SPD), Mitglied des Europäischen Parlaments, und befasste sich mit der Europäischen Strategie für Wasserstoff. Geiers Bericht besagt, dass blauer Wasserstoff als Wasserstoff mit „geringer Emission“ betrachtet und daher für den Übergang zum grünen Wasserstoff verwendet werden sollte. Claudia Kemfert vom Umwelt-Sachverständigenrat warnt hingegen: „Bisher haben die so genannten Übergangs- oder Brückentechnologien nirgendswohin geführt.“ Nur grüner Wasserstoff sei klimafreundlich.

Bisher ist das Dokument nicht rechtlich bindend. Doch eine gute Nachricht für Projekte mit blauem Wasserstoff ist es allemal – denn es fördert die Erzählung, dass Wasserstoff aus umweltschädlichen Quellen „sauber“ sei.

Und die Strategie wirkt: Am 28. Mai 2021 haben das Berliner Wirtschafts- und Verkehrsministerium für Energie eine Liste mit 62 Projekten zur Wasserstoffproduktion und -infrastruktur veröffentlicht, die als wichtige Projekte von gemeinsamem europäischem Interesse (IPCEI) zu betrachten sind. Dadurch können die Projekte öffentliche Zuschüsse erhalten. Auf der Liste stehen bereits drei, die Wasserstoff aus Kohle und Ammoniak gewinnen wollen.