Missbrauch: Wie die katholische Kirche den deutschen Papst schützte
Das Erzbistum München und Freising verschwieg die Verantwortung des verstorbenen Papstes für einen Missbrauchstäter – auch während der Aufarbeitung durch Gutachter. Ein Brief von Joseph Ratzinger zeigt so deutlich wie nie, dass die interne Aufarbeitung des Missbrauchs durch die katholische Kirche gescheitert ist. Hoffnung für Missbrauchsopfer bietet nun die Klage vor einem staatlichen Gericht.
Das wäre ein schräger Krimi: Ein Detektiv läuft am Tatort um einen Tisch, auf dem ein brisantes Beweisstück liegt, ignoriert die Hinweise aber während der Ermittlungen, und der Verbrecher entkommt. Eine solche Geschichte würde Fragen aufwerfen und das Publikum irritieren. Doch in etwa so lief die über 13-jährige kircheninterne Aufklärung zur Verantwortung des verstorbenen Papstes Benedikt XVI. für die Missbrauchstaten des ehemaligen Priesters Peter H..
Die Affäre begann mit einem Bericht in der New York Times im Jahr 2010. Damit wurde publik, dass der damalige Papst Benedikt XVI. dreißig Jahre zuvor in seinem früheren Amt als Erzbischof von München und Freising entschieden hatte, Priester Peter H. in seine bayerische Diözese aufzunehmen – obwohl innerhalb der Kirche bereits bekannt war, dass er in Essen in mehreren Fällen Jungen sexuell missbraucht hatte.
Seither rätselte die Welt über die Rolle Ratzingers im Skandal um den pädokriminellen Priester H.. Die deutschen Bischöfe versprachen Aufklärung.
Die Antwort blieb lange verborgen. Sie lag aber nicht etwa verschlossen in einem „Giftschrank“, sondern war „offenkundig immer Bestandteil der Personalakte H“. Das teilt der Sprecher des Erzbistums von München und Freising auf Anfrage von CORRECTIV und dem Bayerischen Rundfunk (BR) jetzt mit.
„Immer Teil der Personalakte“
Die Informationen waren also für viele Menschen innerhalb der Kirche zugänglich und klar ersichtlich: Die Personalakte lag seit 2010 den Verantwortlichen des Erzbistums, zwei Gutachten und auch einer kirchenrechtlichen Voruntersuchung des Erzbistums München und Freising zum Fall H. vor. Die Öffentlichkeit erfuhr jedoch nichts davon. Erst CORRECTIV und der BR brachten den darin liegenden Briefwechsel im Februar ans Licht.
Das von den kirchlichen Aufklärern offenbar nicht beachtete Schlüsseldokument stammt aus dem Jahr 1986. Das Bistum steckte in der Klemme: Priester H. war wenige Wochen zuvor strafrechtlich verurteilt worden. Er hatte erneut Kinder missbraucht, stets unter Alkoholeinfluss. Es galt also, H. vom Alkohol fern zu halten. Doch wie sollte er Messen feiern – ohne Wein? Das Bistum wandte sich an Rom mit der Bitte um eine Sondererlaubnis für H., damit dieser Traubensaft verwenden dürfe. Dann könnte er wieder in der Gemeinde eingesetzt werden.
Für derartige Fragen ist der Chef der Glaubenskongregation im Vatikan zuständig, der oberste Glaubenshüter der katholischen Kirche. Dieses Amt hatte seit 1982 Ratzinger inne – zwei Jahre zuvor hatte er als Erzbischof von München und Freising der Aufnahme H.s zugestimmt. Nun war er zuständig für die Traubensaft-Bittschrift seines ehemaligen Erzbistums: Wegen „absoluter Alkoholunverträglichkeit“ des Priesters gestattet Ratzinger ihm ein Ausweichen auf Saft und bezieht sich auf das „Bittgesuch“ des Erzbistums, dem ein Attest beilag. Den Brief hat er von Hand unterschrieben.
Der Sprecher des Erzbistums München und Freising bestätigt auf Anfrage von CORRECTIV und BR, dass in dem Bittgesuch die Sexualstraften des Priesters an Minderjährigen benannt sind, die „die im alkoholisierten Zustand begangen wurden“.
Alle Informationen über H. lagen Ratzinger 1986 vor
Klar ist damit: Dem im Dezember verstorbenen Papst Benedikt XVI. lagen spätestens 1986 Informationen über die Gefährlichkeit des Priesters vor. Mit seiner Traubensaft-Erlaubnis machte er den weiteren Einsatz des vorbestraften Geistlichen in der oberbayerischen Gemeinde Garching an der Alz möglich.
Dort missbrauchte H. mehrere Jungen, darunter Andreas Perr, der im Sommer vergangenen Jahres Klage gegen Priester H., gegen das Erzbistum und auch gegen Papst emeritus Benedikt XVI. einreichte. Die zivilrechtliche Klage wird vor dem Landgericht Traunstein verhandelt.
Das dem Bittgesuch des Bistums beigelegte Attest wurde von einem Psychiater namens Werner Huth ausgestellt, wie der Sprecher des Erzbistums mitteilt. Huth betreute H., als der Priester 1980 nach München kam. Der Psychiater warnte die Verantwortlichen des Erzbistums schon damals vor H.. 1986 verurteilte das Amtsgericht Ebersberg den Geistlichen wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs zu einer Bewährungsstrafe. Danach empfahl der Psychiater dem Erzbistum, H. keinen Alkohol trinken zu lassen und ihn unter ständige Kontrolle zu stellen. Er dürfe zudem keinen Umgang mit Kindern haben. Bei der Gerichtsverhandlung wurde H. „Pädophilie“ attestiert. So ist es im Missbrauchsgutachten für die Erzdiözese München und Freising beschrieben, das zu Beginn des Jahres 2022 erschien.
Wenige Wochen später schickte das Erzbistum das Bittgesuch nach Rom.
„Komplizenschaft“ machte Einsatz von H. möglich
Mit seiner Antwort habe Ratzinger „in Komplizenschaft“ mit dem Erzbistum München und Freising den Missbrauch an Andreas Perr „in dem Pfarrhaus in Garching an der Alz“ durch Pfarrer H. „erst möglich gemacht“, schreibt der Klägeranwalt Andreas Schulz in einem CORRECTIV, dem BR und der Zeit vorliegenden Schreiben ans Landgericht Traunstein. Es sei „bezeichnend für die allseits bekannte kirchliche Vertuschungsstrategie“, dass das Erzbistum „diesen Schriftsatz zur Traubensafterlaubnis – obwohl bekannt – verschwiegen hat.“
Das Erzbistum habe den verstorbenen Papst „so gut es geht – zu schützen“ versucht, schreibt Anwalt Schulz.
Der Beginn der medialen Abwehrstrategie der Kirche lässt sich bis in die Zeit direkt nach der Veröffentlichung des Beitrags in der New York Times zurückverfolgen. In einer Presseerklärung des Erzbistums München und Freising von 2010 hieß es, der damalige Erzbischof Kardinal Ratzinger habe nur zugestimmt, dass H. eine therapeutische Behandlung in München bekommen sollte. Über seinen erneuten Einsatz in der Gemeindearbeit hätten andere entschieden.
Das Erzbistum versprach Aufklärung und heuerte dafür die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker und Wastl an. Ein erstes Gutachten von 2010 blieb geheim. Eine „Traubensaft-Erlaubnis“ wurde darin „nicht thematisiert“, sagt der Sprecher des Erzbistums. Ein zweites Gutachten der Kanzlei sorgte im Januar 2022 für einen medialen Knall. Benedikt XVI. hatte mit seinen Beratern ausführlich auf die Fragen der Kanzlei geantwortet. Wie er behauptete, habe er 1980 nicht an der Sitzung teilgenommen, in der die Aufnahme des Priesters H. aus Essen in München beschlossen wurde.
Medialer Aufschrei über die Unwahrheit des Papstes
Auf Grundlage eines Sitzungsprotokolls wies die Kanzlei nach, dass dies nicht stimmen konnte. Der Papst emeritus hatte offenbar die Unwahrheit gesagt. Das sorgte in den Medien für Empörung: Die Bild titelte: „Du sollst nicht lügen“, und die Berater des Ex-Papstes gaben reumütig einen angeblichen Irrtum zu. Der Papst habe zwar teilgenommen. Aber die Sexualstraftaten H.s seien auf der Sitzung nicht thematisiert worden.
Eine Antwort auf die Frage der Gutachter, ob er Kenntnis von der Verurteilung H. am Landgericht Ebersberg hatte, lehnte der emeritierte Papst ab, da der Gutachtenauftrag diese Zeit nicht abgedeckt habe.
Die Kirche wusste also seit 1986 bis hoch zum Vatikan Bescheid. Ratzinger selbst hat es mit seiner Unterschrift damals bezeugt. Sie hätte aufklären können, stattdessen schwieg sie, auch als sie selbst das Gutachten in Auftrag gegeben hatte.
Die damalige hitzige Debatte, was der Papst emeritus über die Taten H.s wusste, wäre mit der Offenlegung der Traubensaft-Erlaubnis beendet gewesen. Der Schriftwechsel ist auch aus Sicht eines weiteren Opfers aus Garching an der Alz ein Beleg für die Mitverantwortung Ratzingers: „Ist das jetzt bewusst verschwiegen worden, um Papst Benedikt zu schonen oder zu schützen?“, fragt sich Stefan, der als Kind in der Gemeinde Garching von Priester H. missbraucht wurde. „Und was liegt da noch an Akten in den Ordinariaten herum? Was wird noch verschwiegen?“ Stefan hat vor einem Jahr zuerst CORRECTIV und dem BR seine Geschichte erzählt, will aber seinen Nachnamen nicht öffentlich machen.
Keine Anweisung zur Vertuschung
Der WSW-Kanzlei lag der Briefwechsel vor. Sie veröffentlichte ihn aber nicht. Das Gutachten ging auf die Traubensaft-Erlaubnis ein, spart jedoch den Namen Ratzingers aus. Darin heißt es lediglich, von der „zuständigen Behörde in Rom“ hätte sie die Erlaubnis erhalten.
Rechtsanwalt Ulrich Wastl sagt dazu auf Anfrage von CORRECTIV und BR: „Unser Auftrag war es ausschließlich, Kardinal Ratzinger zu begutachten, in seiner Tätigkeit für die Erzdiözese München und Freising, nicht sein weiteres Wirken zu begutachten.“ Wastl und der Sprecher des Erzbistum sagen, es habe keine Anweisung gegeben, diesen Briefwechsel aus dem Gutachten herauszuhalten.
Offenbar endete in der Causa H. der Wille der katholischen Kirche zur Aufklärung beim Schutz des deutschen Papstes.
Das legt auch ein Schreiben des Bischofs von Essen, Franz-Josef Overbeck, an den Erzbischof von München und Freising, Reinhard Marx, aus dem Jahr 2012, von dem CORRECTIV, der BR und die Zeit Kenntnis haben, nahe. „Du weißt, wie ich, dass der Fall Peter H. von vielen Medienvertretern leider auch mit unserem Heiligen Vater Papst Benedikt XVI. in Verbindung gebracht wird“. Vor diesem Hintergrund wolle er „vereinbaren, wie wir eine Begleitung und Beobachtung von Peter H. sicherstellen können.“
Das Schweigen dauerte 13 Jahre.
Die Aufarbeitung durch die Kirche kann vor diesem Hintergrund eigentlich kaum noch ernst genommen werden. Es gibt mittlerweile eine Menge Gutachten, Vertreter der Kirche mahnen daher, es sei doch langsam genug. Aber was sind die tausenden Seiten wert, wenn eindeutige Belege der Verstrickung bewusst nicht öffentlich gemacht werden?
„Deal der Kardinäle“ und das „absolute Rennpferd“
Im Februar 2022 stellte das Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung dann die Missbrauchsstudie zum Bistum Essen vor. Dort hatte der Priester H. Anfang der 1970iger Jahre mit dem Missbrauch begonnen. Zwei Informationen aus dieser Studie sind für das Verfahren in Traunstein wichtig: Die Studie zitiert einen Zeitzeugen, der die Versetzung H.s von Essen nach München als „Deal der Kardinäle“ Bischof Franz Hengsbach von Essen und Erzbischof Ratzinger von München beschreibt.
Außerdem veröffentlichte die Studie ein Schreiben des Weihbischofs Heinrich von Soden-Fraunhofen an das Bistum Essen. Der Weihbischof war ein Studienkollege von Ratzinger, beide haben die Priesterweihe gemeinsam empfangen. Von Soden-Fraunhofen hatte sich verpflichtet, auf H. aufzupassen und leitete mit ihm zusammen die Gemeinde Garching an der Alz und Engelsberg. Doch der Weihbischof schütze nicht die Kinder, sondern den Ruf des Pfarrers. Der Kläger Perr und Stefan wurden von H. missbraucht, als von Soden auf den Priester aufpassen sollte. 1998 nannte von Soden H.ein „absolutes Rennpferd“ und schwärmte von dessen „unglaublichen Talenten“ trotz seiner „Lebensnot“.
Was meinte von Soden-Fraunhofen mit Lebensnot? Aus Sicht des Opferanwalts Andreas Schulz steht der Begriff als ein „für Kleriker codierter und unmissverständlicher Hinweis auf die ,Pädophilie’“.
Die Staatsanwaltschaft München hat die Ermittlungen gegen Ratzinger eingestellt, die sie nach der Veröffentlichung des WSW-Gutachten 2022 eingeleitet hatte. Der Grund dafür ist die Verjährung. Im Zivilverfahren aber sieht es anders aus: „Die Verjährung“ bietet den Beklagten „keinen sicheren Hafen“, schreibt Anwalt Schulz.
Die Essener Missbrauchsstudie wurde bei der Traubensafterlaubnis deutlicher. Anders als das Münchner Gutachten nennt sie die Glaubenskongregation als die Behörde, die die Erlaubnis erteilte. Dagegen erwähnt auch diese Studie nicht, dass Ratzinger die Erlaubnis persönlich unterschrieb. Dies sagte die Studienleiterin Helga Dill erst auf Nachfrage von CORRECTIV und BR.
Das Dokument wird nach Einschätzung des Klägeranwaltes in dem Missbrauchsverfahren vor dem Landgericht Traunstein eine zentrale Rolle zukommen. Die Verhandlung wurde zuletzt vom März in den Juni verschoben, weil erst jetzt die Erben des verstorbenen Papstes bekannt wurden. Es handelt sich um fünf Cousins und Cousinen. Diese müssen nun entscheiden, ob sie sich dem Verfahren stellen oder das Erbe ausschlagen.
„Der tatsächliche Preis für die Vertuschung“
In der Presseerklärung beschreibt die Staatsanwaltschaft die potenzielle Straftat: „Eine Beihilfe durch aktives Tun könnte beispielsweise darin liegen, dass ein Priester, der bereits durch sexuellen Missbrauch von Kindern strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, an eine Dienststelle versetzt wird, an der er erneut Kontakt zu Minderjährigen hat, und es dort zu einer weiteren Tat kommt.“ Und genau das geschah in Garching an der Alz. Aber die Verjährung verhinderte, dass die Staatsanwaltschaft dies verfolgen konnte.
Das Erzbistum München und Freising hat die generelle Bereitschaft zur Zahlung eines Schmerzengeldes signalisiert. Der Täter und das Erzbistum räumen den an dem Kläger Perr verübten Missbrauch ein. Das Erzbistum hat angekündigt, für die Ansprüche an seine Mitarbeiter von Priester bis zu den Bischöfen zu haften.
Allerdings kommt die „Haftungsüberleitung“ des Erzbistums, so ein Schreiben des Klägeranwalts Andreas Schulz an das Gericht, „für Kardinal Ratzinger in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenkongregation nicht in Betracht.“ Daher könnten die Schadenersatzforderungen an den Erben des deutschen Papstes hängen bleiben.
Die Höhe des von Perr geforderten Schmerzensgeldes steht noch nicht fest. Da die Verhandlung bis Juni verschoben ist, wird der Klägeranwalt den Betrag zu einem späteren Zeitpunkt nennen.
Nur eine hohe Schmerzensgeld Summe sei „präventiv“, sagt Schulz gegenüber CORRECTIV, BR und der Zeit. Der Anwalt hatte in der vergangenen Woche angekündigt, dass er auch für Wilfried Fesselmann, einem Opfer H.s aus Essen, Klage gegen das Bistum Essen einreichen werde. „Sind die Zahlungen niedrig, bleibt Missbrauch bezahlbar, und es ändert sich nichts“, sagt Schulz. Erst die drohende Insolvenz der Bistümer zwinge zu konsequenter Prävention und Verfolgung klerikaler Sexualverbrechen.
Der Berliner Rechtsanwalt sucht deshalb nach einem Opfer des kirchlichen Missbrauchs in Deutschland mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, um in den USA klagen zu können. Schulz sagt: „Denn nur vor US-Gerichten würden die deutschen Bistümer den tatsächlichen Preis für den Schaden und ihre jahrzehntelange Vertuschung bezahlen müssen.“