So beeinflussen Verleger die Berichterstattung im Lokaljournalismus
Der Verleger Dirk Ippen stoppte eine Recherche über den Ex-Bild-Chef Julian Reichelt. Im Lokaljournalismus ist das offenbar kein Einzelfall. Zahlreiche Reporterinnen und Reporter aus verschiedenen Lokalzeitungen berichten gegenüber CORRECTIV.Lokal von redaktionellen Eingriffen durch ihre Geschäftsführung.
Im Mai 2020 tötet in den USA ein Polizist den Afroamerikaner George Floyd und löst damit eine weltweite Debatte über Polizeigewalt und Rassismus aus. Auch in Baden-Württemberg starten zwei Lokalredaktionen im Juni 2020 eine Serie über Rassismus. In den Weinheimer Nachrichten und der zum selben Verlag gehörigen Odenwälder Zeitung schreibt eine Autorin über Alltagsrassismus, den sie und ihre Kinder erleben. Wenige Tage später soll ein Beitrag zum Thema Polizeigewalt folgen. Doch dieser Artikel erscheint nicht – „aus technischen Gründen“ heißt es im Lokalteil am geplanten Erscheinungstag. Stattdessen ist ein anderer Text zu lesen. Das Thema: Rassismus im Fußball.
Das hatte nach Recherchen von CORRECTIV.Lokal wohl weniger mit technischen Problemen zu tun. Vielmehr schien einer der Inhaber des Zeitungsverlages keine Veröffentlichung zum Thema Polizeigewalt zu wünschen. Das legt ein Dokument nahe, das CORRECTIV.Lokal einsehen konnte. Das verlagsinterne Schreiben enthält mehrere rassistische Kommentare. Der Verleger selbst möchte sich dazu nicht äußern.
Es ist nur eine von vielen Geschichten, die CORRECTIV.Lokal seit einigen Wochen erreichen. Wir haben auf mehreren Kanälen nach Hinweisen gefragt. Dutzende Kolleginnen und Kollegen aus dem Lokaljournalismus melden sich auf die Frage: Hat sich ein Verleger in eure redaktionelle Arbeit eingemischt?
Es melden sich Stimmen, die über vielfältige Konflikte mit ihren Verlegern und weiteren Verantwortlichen in Verlagen sprechen. Sie berichten von Verlegern, die Einfluss auf ihre Geschichten nahmen. Verleger, die nicht geplante Geschichten verlangten oder fertige Texte stoppten. Sie erzählen von Reporterinnen und Reportern, die aus vorauseilendem Gehorsam bestimmte Themen nicht mehr angingen. Aber auch von Redaktionen, die Themen selbst dann umsetzen, wenn ein unangenehmer Anruf des Verlegers von vorneherein klar ist.
Es geht auch um strukturelle Konflikte in Medienhäusern und ihre Auswirkungen auf die innere Pressefreiheit im deutschen Lokaljournalismus: In mindestens zwölf Lokalredaktionen sitzen Verleger und Verlegerinnen auch in der Chefredaktion oder sind mit der Redaktionsleitung verwandt. Mitunter ist der Verleger zugleich Präsident der regionalen Handelskammer und sein Chefredakteur Pressesprecher eines Wirtschaftsvereins.
Die Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber für diese Recherche, meist selbst Betroffene, wollen nicht namentlich genannt werden. Einige haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Andere wollen nicht als Nestbeschmutzer wahrgenommen werden. CORRECTIV.Lokal hat sich, wo möglich, Dokumente zeigen lassen, die ihre Aussagen stützen und mit mehreren Personen gesprochen, um die Vorwürfe einschätzen zu können.
Aussagen aus Lokalredaktionen zur inneren Pressefreiheit:
Hinter diesen Aussagen stehen viele Jungredakteurinnen und -redakteure. Einige berichten CORRECTIV.Lokal von Erlebnissen aus ihrem Volontariat. Sie sind besonders vorsichtig, um ihre berufliche Zukunft nicht zu gefährden. Sie liefern Einblicke in problematische Strukturen, in die eine neue Generation von Journalistinnen und Journalisten hineinwächst und sie daran hindert, sich zu entfalten – in einer Zeit, in der viele Lokalredaktionen Schwierigkeiten haben, überhaupt noch Nachwuchs zu finden und ihre Ausbildungsplätze zu besetzen.
Die Rückmeldungen zeigen, wie sehr sich Reporterinnen und Reporter mit der inneren Pressefreiheit auseinandersetzen. Es gibt kein Gesetz, das sie schützt, in dem redaktionelle Eingriffe von Verlegern verboten werden. Der Verlag kann sogar die politische Richtung einer Zeitung vorgeben und die Redaktion zur Loyalität verpflichten, weil Zeitungsverlage sogenannte Tendenzbetriebe sind.
Verlags-Geschäftsführer Diesbach gegen Interview zu Polizeigewalt
Weinheim, in der Nähe von Heidelberg, ist eine der Städte in Deutschland, in der noch eine Zeitung mit einem echten Lokalteil verkauft wird. Seit mehr als 150 Jahren erscheinen hier die Weinheimer Nachrichten. Rund 15 Personen schreiben ihre Berichte für die Lokalzeitung und die benachbarte Odenwälder Zeitung. Beide zusammen landen insgesamt in rund 18.000 Briefkästen. Die Zeitungen gehören zum Diesbach Medien Verlag, ein Familienunternehmen, das mittlerweile in vierter und fünfter Generation geführt wird. Das sind derzeit Volker Diesbach, ein 75-jähriger Rechtsanwalt, und sein Sohn Nicolas.
Volker Diesbach soll daran beteiligt gewesen sein, dass im Sommer 2020 der Text zum Thema Polizeigewalt gestoppt wurde. Nach der Tötung von George Floyd führte die Redaktion ein Interview mit einem Aktivisten, der sich für eine Strukturreform bei der Polizei einsetzte sowie einer Muslime, die angibt, von Racial Profiling betroffen zu sein. Den fertigen Text hat der Verleger Diesbach vor Veröffentlichung gelesen. Daraufhin wurde der Text gestoppt. Später verschickte er eine als „Faktencheck“ bezeichnete ausführliche Textkritik an Mitglieder der Redaktion.
CORRECTIV.Lokal hat Diesbach mehrere Fragen zu den Vorgängen geschickt. Sein Sekretariat teilt mit, dass er sich dazu nicht äußern möchte.
Rassistische Äußerungen in einer vom Verleger verschickten Analyse
Die Kritik in diesem „Faktencheck“ ist eindeutig: „Der Beitrag ist insgesamt handwerklich ungenügend und nicht veröffentlichungsfähig“, heißt es gleich zu Beginn. Die Gesprächspartner seien „naive, ideologisch Verengte“. Das Ziel der Veröffentlichung sei „die Diskriminierung der Polizei“, behauptet der Autor in der Einleitung seiner Textkritik. Tatsächlich hatte der geplante Artikel inhaltliche Mängel – was jedoch eine Redigatur hätte beheben können.
In der Analyse finden sich auch rassistische Kommentare. „Nordafrikaner“ seien „in höchstem Maße aggressiv, weil sie mit legalen Mitteln nicht an den von ihnen erhofften Wohlstand herankommen“. Es handele sich fast ausschließlich nicht um echte Asylbewerber, sondern illegale Migranten. Sie seien „ausschließlich zur Begehung von Straftaten nach Deutschland gekommen“. Es folgt eine Passage, in der er eine weitere Aussage im Interview kommentiert:
Es ist auf den ersten Blick unklar, wer die Textkritik formuliert hat. Aus den Metadaten des Dokuments geht hervor, dass die Datei in dem Microsoft-Account von Volker Diesbach gespeichert wurde. Als Autor ist in den Meta-Daten jemand angegeben, der weder in der Redaktion noch im Verlag arbeitet.
Unveröffentlichtes Interview wird an ehemaligen BKA-Mitarbeiter weitergegeben
CORRECTIV.Lokal nahm mit dieser Person Kontakt auf. Der Mann gibt an, von Diesbach um eine Stellungnahme zum Artikelentwurf gebeten worden zu sein. Er selber sei auf Grund seiner „Expertise in dem aufgeworfenen Fachgebiet“ angefragt worden, weil er neben seiner journalistischen Laufbahn in einer Regionalzeitung mehr als drei Jahrzehnte im höheren Kriminaldienst beim Bundeskriminalamt (BKA) gearbeitet habe. Zudem habe er mehrere Jahre als redaktioneller Mitarbeiter einer Regionalzeitung gearbeitet. Tatsächlich finden sich in einer einer benachbarten Lokalzeitung Artikel von ihm. In einem Text warb er rund zwei Monate nach dem gestoppten Polizeigewalt-Artikel für mehr Respekt vor der Polizei.
Nach Darstellung des ehemaligen BKA-Mitarbeiters soll Diesbach seine Stellungnahme verwendet und an mehreren Stellen „Ergänzungen“ vorgenommen haben. So bleibt unklar, wer welche Passagen geschrieben hat. Aus seiner Sicht sei der geplante Artikel „fachlich-inhaltlich und journalistisch“ nicht veröffentlichungsfähig gewesen, schreibt er an CORRECTIV.Lokal.
Diesbach möchte sich auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal auch nicht dazu äußern, ob er den Textentwurf an Dritte weitergegeben hat.
Die Redaktionsleiter der Weinheimer Nachrichten und Odenwälder Zeitung, Carsten Propp und Sandro Furlan, lassen ebenfalls konkrete Frage zu redaktionellen Eingriffen des Verlegers unbeantwortet. Sie wollen zu redaktions- oder verlagsinternen Angelegenheiten grundsätzlich gegenüber Externen keine Auskunft geben. Zum gestoppten Artikel schreiben sie: „Der ursprünglich für den 27. Juni 2020 geplante Beitrag der Serie wurde wegen gravierender inhaltlicher und journalistischer Mängel nicht veröffentlicht.“ Das Thema Rassismus sei über mehrere Wochen mit zwölf ganzseitigen Beiträgen in vielfältiger Weise beleuchteten worden.
Volker Diesbach soll in der Vergangenheit schon des Öfteren ins Redaktionelle eingegriffen haben, berichten mehrere Personen gegenüber CORRECTIV.Lokal, die mit redaktionellen Abläufen in den Weinheimer Nachrichten und der Odenwälder Zeitung vertraut sind. In mehreren Fällen sollen Redakteurinnen und Redakteure zum persönlichen Gespräch nach Veröffentlichungen gebeten worden sein. Die Rede ist von Druck und „Selbstzensur“.
Auch zu diesen Vorwürfen beantwortet uns Diesbach keine Fragen. Somit bleibt unklar, wie unabhängig seine Redaktionen arbeiten können.
Ohne Transparenzhinweis: Verleger wird in seiner Zeitung als IHK-Chef interviewt
Münster, 3. April 2020: Zwei Wochen nach Beginn des ersten Corona-Lockdowns interviewen die Westfälischen Nachrichten (WN) den lokalen Handelskammer-Chef. Benedikt Hüffer fordert mehr Geld für den Mittelstand, längere Laufzeiten für Hilfsmaßnahmen und mehr Kurzarbeitergeld. Was nirgends steht: Hüffer ist nicht nur Präsident der IHK Nord Westfalen, sondern auch einer der Verleger der WN.
Die Redaktion interviewt also den Mann, dem die Zeitung gehört. Kritische Fragen gibt es nicht. Auch nicht als Hüffer über eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 90 Prozent spricht. Kurz zuvor hatte der Verlag selbst Kurzarbeit eingeführt.
In den WN erscheinen immer wieder Artikel mit Äußerungen der heimischen IHK, ohne dass auf die Doppelrolle von Hüffer hingewiesen wird.
Der Verleger Hüffer sieht auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal in seinem Interview zur Kurzarbeit keinen Interessenkonflikt, da er keine spezifischen Forderungen für seine Branche aufgestellt habe. Die WN würde nur berichten, wenn die Redaktion die Nachrichten aus der IHK für berichtenswert halte. „Es gibt eine klare Trennung zwischen Verlag und Redaktion, auf die ich persönlich sehr viel Wert lege“, schreibt Hüffer.
Chefredakteur ist Pressesprecher des regionalen Wirtschaftsvereins
Diese klare Trennung erleben andere nicht. „Wenn die IHK etwas macht, soll das in der Zeitung Thema sein“, sagt ein WN-Redaktionsmitglied. In der Redaktion gebe es ein Bewusstsein dafür, welche Themen von den als konservativ geltenden Verlegern nicht gewünscht seien.
Der Deutschlandfunk berichtete bereits 2020, dass besonders die Kommentare des Chefredakteurs Norbert Tiemann wirtschaftsfreundlich ausfielen. Dieser sitzt mit Verleger Benedikt Hüffer auch im Vorstand der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe (WWL) und ist dort als Pressesprecher engagiert. Auch er legt diesen Interessenkonflikt nicht in der WN offen.
„Die WWL selbst ist kein Akteur im wirtschaftspolitischen Diskurs“, schreibt Tiemann auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal. Er sehe keinen Interessenkonflikt, da er hauptsächlich in die Medienarbeit rund um einen Friedenspreis eingebunden sei, den die WWL alle zwei Jahre vergebe. Zum fehlenden Transparenzhinweis in Artikeln zur IHK entgegnet er: „Hüffer ist seit 2010 Präsident der IHK Nord Westfalen. Insofern ist davon auszugehen, dass die Leserinnen und Leser unserer Zeitung wissen, dass er geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensgruppe Aschendorff ist.“ Aschendorff ist der Verlag hinter den Zeitungen.
Zombie-Zeitungen und Ein-Zeitungs-Kreise im Lokaljournalismus
In Münster gibt es auch keine andere Lokalzeitung, die zum Beispiel die lokale Wirtschaft hinterfragt. Der Aschendorff-Verlag kaufte 2014 die Münstersche Zeitung. Sie erscheint seitdem nur noch als sogenannte Zombie-Zeitung – das ist eine Zeitung ohne eigene Redaktion. Die Titelblätter von WN und Münsterscher Zeitung unterscheiden sich, die lokalen Inhalte sind identisch. Münster zählt damit zu den sogenannten Ein-Zeitungs-Kreisen – in NRW erscheint in 40 Prozent aller Kreise nur noch eine gedruckte Zeitung.
In Münster entwickelt sich die Medienlandschaft immerhin ein wenig. Im Frühjahr 2020 wurde das Lokalmedium RUMS [1] gegründet. Zunächst mit einem Newsletter, mittlerweile mit weiteren digitalen Angeboten, wollen sie „unabhängigen konstruktiven Journalismus“ für Münster.
Nicht nur bei den WN gibt es Interessenskonflikte. In anderen Lokalredaktionen existiert gar keine Trennung zwischen Redaktion und Verlag. CORRECTIV.Lokal hat für hunderte Zeitungsverlage in Deutschland mögliche Interessenkonflikte geprüft und dafür ausgewertet, ob es zwischen Verlag und Redaktion personelle Überschneidungen gibt. In mindestens elf Lokalmedien vertreten dieselben Personen Chefredaktion (oder Redaktionsleitung) und Verlag, in einem weiteren Fall sind sie zumindest miteinander verwandt, wie die folgende Tabelle zeigt.
Solche Doppelrollen gibt es übrigens nicht nur im Lokaljournalismus. So führt Jakob Augstein die Wochenzeitung der freitag als Verleger und Chefredakteur, ebenso Alexander Marguier das Magazin cicero.
Berlin und Heidenheim: Zwei Verleger, zwei Sichtweisen
Der Verleger Holger Friedrich hat eine ganz eigene Sicht auf die Trennung zwischen Verlag und Redaktion. 2019 kaufte er mit seiner Frau die Berliner Zeitung. Es folgten turbulente Monate. Im Frühjahr 2020 erhielt die Zeitung eine Rüge des Deutschen Presserats. Friedrich soll einen positiven Artikel über eine Firma angestoßen haben, an der er selbst Anteile hielt. Dieser Interessenkonflikt wurde nicht ausgewiesen.
Friedrich hinterfragte jüngst in der Berliner Zeitung die Trennung zwischen Verlag und Redaktion. Als „wirtschaftlich Berechtigter“ sieht er sich demnach im Recht, redaktionelle Diskussionen zu beeinflussen. Die Zeit berichtete im November über den Vorwurf, dass Friedrich in seiner Zeitung als anonymer Autor kommentierende Artikel veröffentlichte. Im RadioEins-Medienmagazin ging er Anfang Dezember auf den Vorwurf ein. Er habe in einer speziellen Glosse der Berliner Zeitung am Wochenende als „einer von mehreren anonymen Autoren“ veröffentlicht. Zudem habe er bei „bestimmten Texten“ unter einem Pseudonym gearbeitet. Das sei immer in Abstimmung mit der Redaktion passiert. „Mitunter lenkt mein Name ab. Und zwar vom Inhalt“, begründet Friedrich im Radio sein Vorgehen.
Es geht auch anders. Der Verlag der Heidenheimer Zeitung [2] hat neun publizistische Leitlinien definiert, die auch eine Trennlinie zur Redaktion beinhaltet. „Bei Veröffentlichungen, die ein Eigeninteresse des Verlages betreffen, muss dieses erkennbar sein. Verlag und Redaktion stimmen darin überein, dass durch einen Anzeigenauftrag kein Einfluss und keine Rückwirkung auf die redaktionelle Inhaltsgestaltung ausgeübt werden darf“, heißt es in dem Dokument.
„Wir streiten gerne sehr lange und auch gerne mit der Redaktion, wenn es mal eine andere Meinung gibt“, sagt Martin Wilhelm, der als Geschäftsführer den Familienverlag der Heidenheimer Zeitung mittlerweile in der sechsten Generation leitet. „Im Grunde genommen ist es unsere Aufgabe, der Redaktion klare Regeln zu geben, wie Leitplanken auf der Autobahn. Und in diesen Regeln soll die Redaktion frei und unabhängig arbeiten können.“
Die Heidenheimer Zeitung sowie die Heidenheimer Neue Presse haben etwa 23.000 Abonnentinnen und Abonennten. Sie haben eine Monopolstellung in Heidenheim. Ende 2020 gab die Heidenheimer Zeitung bekannt, dass sie ein neues Team für Recherchen gründet. Sechs Redakteurinnen und Redakteure der Zeitung werden seitdem wechselweise aus dem Tagesgeschehen genommen, um mehr Zeit für Recherchen zu bekommen.
Wenn das Team veröffentlicht, wenden sich kritische Stimmen, darunter Anzeigenkunden, auch immer wieder direkt an Wilhelm, um sich zu beschweren. „Wir versuchen uns ja über die Anzeigen die Möglichkeit zu geben, so zu arbeiten und nicht andersherum. Und wir arbeiten nicht, um Anzeigen zu bekommen“, reagiert er auf die Kritik. Für ihn drückt Kritik auch aus, dass seine Redaktion richtige Arbeit mache, solange die handwerkliche Arbeit stimmt.
Und Wilhelm stellt klar: „Bei dem, was am nächsten Tag in der Tageszeitung steht, wirken wir nicht mit.“
Was die Recherche auslöste: Die Ippen-Affäre
Am Donnerstag, 14. Oktober 2021, entschied der 81-jährige Zeitungsverleger Dirk Ippen, dass eine Recherche aus seinem Haus nicht veröffentlicht werden darf. Der Mehrheitsgesellschafter nutzte seine Macht, um eine Geschichte über Machtmissbrauch zu stoppen. Zuvor hatte über Monate das hauseigene Investigativ-Team [2] zu Machtmissbrauch gegenüber Frauen durch den damaligen BILD-Chefredakteur Julian Reichelt recherchiert, bei dem sexuelle Beziehungen eine zentrale Rolle spielten. Kaum hatte Ippen die Recherche gestoppt, berichtete die New York Times, am Folgetag auch der Spiegel und zwar gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren von Ippen-Investigativ. Reichelt musste nicht einmal 24 Stunden nach der Veröffentlichung der New York Times seinen Posten räumen.
Das Investigativ-Team firmierte zuvor unter Buzzfeed News und wurde erst ein gutes Jahr zuvor von Ippen übernommen. Das Team protestierte einen Tag nach dem Eingriff des Verlegers Ippen in einem Brief an die Geschäftsführung der Gruppe, den das Medienportal Übermedien erstmals öffentlich machte. Darin fand das 4-köpfige Team deutliche Worte und endete mit einem Appell: „Wir müssen sicher sein, dass auch im Hause Ippen die Trennung von Redaktion und Verlag gilt.“
Es gab einen öffentlichen Aufschrei in der Medienwelt. „Verleger haben grundsätzlich die Finger von redaktionellen Entscheidungen zu lassen“, äußerte sich Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV). Und auch der Vorstand der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche äußerte sich deutlich: „Ippen hat eine Grenze überschritten und der Pressefreiheit Schaden zugefügt.“
Ippen-Insider sprechen von weitreichenden Folgen
In den darauffolgenden Tagen rumorte es in zahlreichen Redaktionen der Ippen-Mediengruppe, wie mehrere Redaktionsmitglieder CORRECTIV.Lokal berichteten. Auch Wochen nach dem Eingriff des Verlegers ist das Thema für viele nicht beendet. Intern wird weiter diskutiert. „Es bleibt ein ungutes Gefühl bei mir zurück, weil noch nicht absehbar ist, wie weitreichend die Folgen sein werden“, schreibt eine Person mit redaktioneller Verantwortung bei Ippen. Die Führungskultur sei eigentlich wertschätzend und offen, der Vorfall nicht repräsentativ dafür, wie es sonst bei ihnen zugehe. „Trotzdem ist der Schaden jetzt angerichtet. Das ist höchst ungünstig für alle Bestrebungen aus jüngster Zeit, die journalistische Qualität unserer Portale zu steigern und auch für die Bewerbersuche.“
Öffentlich äußerte sich in den Tagen danach fast nur die Frankfurter Rundschau (FR), die sich früh mit dem redaktionsübergreifenden Investigativ-Team solidarisierte. Chefredakteur Thomas H. Kaspar äußerte sich kritisch über seinen Verleger, „Freiheit nicht antasten“, titelte das Blatt, unterzeichnet von der Redaktion der FR. Kein Zufall, dass sich die vier Reporterinnen und Reporter von Ippen-Investigativ ausgerechnet in der FR erstmals gemeinsam öffentlich über die Hintergründe der ausgebremsten Recherche äußerten.
Und wie reagierte die Leitungsebene? Verleger Dirk Ippen reiste wenige Tage nach der Veröffentlichung seines Investigativ-Teams im Spiegel aus München nach Berlin für eine Aussprache mit eben dieser Redaktion. Er verteidigte seine Entscheidung. Nach dem Treffen ist unklar, ob und in welcher Form eine Zusammenarbeit fortgesetzt wird.
Mehrere fordern, Trennung von Redaktion und Verlag aufzuweichen
Eine fragwürdige Rolle spielte Markus Knall, der als Chefredakteur von Ippen Digital über den einzelnen Häusern schwebt und eng mit Verleger Ippen zusammenarbeitet. Knall feierte auf Twitter das Aus von Reichelt als „Ippen-Impact“, obwohl die Recherche eben dort gar nicht erschienen war. Einige Tage später bat er auch die Betroffenen im Fall Reichelt um Entschuldigung. Eine Trennung von Verlag und Redaktion scheint er aber nicht zu befürworten.
Ende Oktober war Knall Gast bei den Münchner Medientagen. In einer Diskussion über Pressefreiheit in Deutschland fragte der Moderator Richard Gutjahr nach Knalls Lehren aus der Reichelt-Affäre, die auch zu einer Ippen-Affäre wurde. Nach einer mehrdeutigen Antwort fragte Gutjahr nach: „Du plädierst für eine Aufhebung der Trennung zwischen Redaktion und Verlag?“ Die Antwort von Knall: „Ich glaube, wir müssen das Thema einfach neu diskutieren. Journalismus im digitalen Zeitalter, wo es keine Verlage gibt – was heißt die Trennung, wenn es keine Verlage gibt? Was machen wir mit den neuen digitalen Publishern, bei denen Journalismus nicht mehr das Kerngeschäft ist? (...) Die Trennung kommt ja aus einer Zeit, da konnten es sich Verlage überhaupt leisten, zu sagen, wir nehmen das in Kauf.“
Redaktionelle Mitarbeit: Emilia Garbsch, Christoph Pengel, Sophia Stahl, Frederik Richter, Katarina Huth, Max Donheiser
Disclaimer:
[1] CORRECTIV-Geschäftsführer David Schraven ist an dem Münsteraner Medium RUMS mit 3,6 Prozent finanziell beteiligt. Er wurde in die Veröffentlichung dieser Geschichte nicht eingeweiht.
[2] CORRECTIV und das Team von „Ippen Investigativ“, ehemals BuzzFeed.News, kooperierten bereits bei mehreren Recherchen. Chefredakteur Daniel Drepper ist zudem Gründungsmitglied von CORRECTIV. Auch mit der Heidenheimer Zeitung gab es über das Netzwerk von CORRECTIV.Lokal in der Vergangenheit Kooperationen.