Die besten Recherchen der Woche
Unser Spotlight-Newsletter mit den besten Recherchen aus Deutschland und der Welt – jeden Samstag für Sie zusammengestellt
Von Miriam Lenz, Jonathan Sachse, Mohamed Anwar, Thore Rausch, Ole Rockrohr, Svenja Stühmeier
Jeden Tag geht Andreas mindestens 15 Kilometer, manchmal auch 20. Das ist in etwa so weit wie von Dortmund nach Bochum, fast ein Halbmarathon. Er läuft und läuft, wie viele hier im Amazon-Logistikzentrum Leipzig, als Teil einer riesigen Maschinerie, Tag für Tag, damit die Pakete auf Reisen gehen können. Nichts hält sie auf. Auch nicht der Tod.
Vor ein paar Wochen starb einer seiner Kollegen während der Arbeit in dem Logistikzentrum. Die Frühschicht näherte sich dem Ende, da brach er zusammen. Pappen waren um die Leiche aufgebaut, als Sichtschutz. Es war der 15. August, ein Montag, früher Nachmittag. Wenig später suchte Andreas in einer Nachbarhalle Pakete zusammen. Ärzte kamen, die Polizei, später fuhr ein Leichenwagen vor. Andreas arbeitet an dem Tag einfach weiter, so wie es das Management vorgibt. Auch in der Halle, wo der Kollege starb, beginnt eine neue Schicht ihren Dienst. Die Maschine Amazon läuft weiter.
Andreas heißt eigentlich anders. Da er noch für Amazon arbeitet, soll sein Name nicht genannt werden. Die Rekonstruktion stützt sich auf die Erinnerungen von ihm und sieben weiteren Kolleginnen und Kollegen, mit denen CORRECTIV.Lokal sprach.
Es gab keinen Arbeitsunfall. Offenbar starb der Mann eines natürlichen Todes. Das bestätigt auch die Polizei. Keiner der Beschäftigten gibt Amazon die Schuld. Was sie kritisieren, ist der Umgang mit dem Vorfall. Er hat ihnen klar gemacht, dass bei Amazon nicht sie zählen, sondern nur der Profit, das Ticken der Maschine. „Wäre ich an ihrer Stelle gewesen“, sagt Andreas, „hätte ich den Schichtbetrieb sofort eingestellt.“
Der Konzern teilt dazu mit, CORRECTIV.Lokal mache sich ein falsches Bild von dem „tragischen Geschehen“. Der Bereich, in dem der Tote lag, sei ohnehin von höheren Regalen und einer Wand abgeschirmt. Zusätzlich seien „in Windeseile weitere Sichtbarrieren herbeigeschafft“ worden. Zudem habe der Betrieb „Arbeitsstationen gesperrt“, die Wegeleitungen für die Beschäftigten verändert und Förderbänder abgestellt. Amazon räumt Fehler ein: In der „kurzen Reaktionszeit“ sei es „leider nicht optimal gelungen“, einige gerade eintreffende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Halle in einen anderen Bereich zu verlegen. „Das hätten wir im Nachhinein anders gemacht.“ Es sei aber im Anschluss „psychologisches Personal vor Ort“ gewesen. Auch habe der Konzern allen Beschäftigten „dieser und der folgenden Schichten freigestellt“, bezahlt nach Hause zu gehen. Dieses Angebot scheint bei Andreas und anderen Mitarbeitern, mit denen CORRECTIV.Lokal sprach, nicht angekommen zu sein. Zu der Frage, warum der Schichtbetrieb an dem Tag nicht eingestellt wurde, äußert sich Amazon nicht.
Der Tod des Mitarbeiters mag ein extremes Beispiel sein. Aber die Art, wie ringsherum der Arbeitsalltag anscheinend ohne Unterbrechung weiterlief, steht beispielhaft für das System Amazon, das auf maximale Effizienz setzt und Pausen nicht kennt.
Wer etwas bei Amazon bestellt, braucht nur zwei, drei Klicks. Bequemer geht es nicht. Wenig später steht der Kurierfahrer mit dem Paket in der Hand vor der Tür, manchmal am selben Tag. Kundinnen kostet das oft nichts, mit Prime-Abo oder ab einem Bestellwert von 29 Euro ist die normale Lieferung gratis. In der Vorweihnachtszeit gehen mit Aktionstagen wie der „Black Friday Woche“ und dem „Cyber Monday“ besonders viele Bestellungen bei Amazon ein.
CORRECTIV.Lokal hat sieben Monate lang in verschiedenen Regionen Deutschlands recherchiert. Zu den Recherchepartnern zählen die Nürnberger Nachrichten, Badischen Neuesten Nachrichten, Leipziger Volkszeitung, Nordstadt Blogger, Ostfriesen-Zeitung, Nordsee-Zeitung, Rheinische Post und weitere Medien. Die Lokaljournalistinnen und -journalisten sind zeitgleich losgezogen und veröffentlichen parallel eigene Geschichten. Zusammen haben wir in das Getriebe des Logistik-Giganten Amazon geschaut.
Wir haben mit mehr als 100 Menschen gesprochen, die in der Logistikkette von Amazon arbeiten oder Einblicke in die Abläufe hatten, Logistik-Angestellte, Lkw-Fahrer und Kuriere. Wir haben Arbeitsverträge und Dienstpläne eingesehen, Chatverläufe gelesen. Und wir haben Dokumente ausgewertet, darunter Kontrollberichte von Arbeitsschutzbehörden und Antworten von Datenschutzbehörden.
Auf Anfrage zu prekärer Arbeit antwortet der Online-Handelsgigant mit pauschalen Aussagen und PR-Phrasen: Die Beschäftigten seien das „Herz von Amazon“, jeder sei eingeladen, sich auf von dem Unternehmen organisierten und begleiteten Besuchertouren selbst ein Bild von der Arbeit zu machen. Der Konzern verweist auf den im Branchenvergleich relativ fairen Lohn ab 13 Euro pro Stunde, auf Weiterbildungsprogramme und „gute Perspektiven“. Zudem arbeite Amazon stetig an „Verbesserungen“. Welche das sind, schreibt der Konzern nicht.
Demgegenüber stehen diese Recherchen. Amazon ist der mit Abstand größte Akteur in einer Branche, in der Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen offenbar zum Geschäftsmodell gehören. Ein Amazon-Paket geht durch die Hände vieler Menschen, die unter prekären Umständen arbeiten. Manche Arbeiter laufen einen Halbmarathon am Tag und haben kaum Zeit für eine Toilettenpause. Lkw-Fahrer sind so müde, dass sie ständig damit kämpfen, nicht am Steuer einzuschlafen. Viele berichten über stetigen Druck und wie eng ihre Aufgaben getaktet sind. Die Menschen arbeiten zum Teil neben Robotern, überwacht von Computern.
Sie alle müssen als Teil der großen Amazon-Maschine funktionieren. Wenn jemand auf „Jetzt kaufen“ klickt, setzt sich die Maschine in Deutschland in Gang.
Wenn jemand klickt, rollt die Amazon-Maschine eigentlich längst. Amazon expandiert im großen Stil in eigene Schiff- und Luftfahrt, sodass die Waren schon teils über den halben Globus gereist sind, bevor jemand daran denkt zu bestellen. Nur so kann das Prime-Versprechen eingehalten werden.
In Deutschland landet die Ware meist in einem der 20 Logistikzentren. In den fabrikähnlichen Hallen, deren Gesamtfläche zum Teil so groß ist wie ganze Wohnviertel, stellen Amazon-Mitarbeitende die bestellten Waren zusammen. Sie verpacken sie in Pakete, legen sie auf Fließbänder und verschicken sie. Seit einigen Jahren kommen hier zunehmend Roboter zum Einsatz. Und: Die meisten Schritte werden überwacht.
Neben Leipzig im Osten existieren Logistikzentren in Heidenheim im Süden, Bad Hersfeld mitten in Deutschland oder Achim im Norden. Die Zentren liegen meist an Autobahnen außerhalb der großen Städte und sind Teil eines ausgeklügelten Logistik-Netzwerkes. Dazu zählen auch Sortier- und Verteilzentren, in denen Pakete genauer sortiert und weiterversendet werden. CORRECTIV.Lokal hat alle Lager, die in Betrieb oder geplant sind, zusammengetragen. Folgende Karten zeigen erstmals, wie flächendeckend das Netzwerk mittlerweile ist.
In Deutschland gibt es 20 Logistikzentren. Hier stellen Amazon-Mitarbeitende die bestellten Waren zusammen und verpacken sie in Pakete.
In rund 70 Verteilzentren werden die Bestellungen für die sogenannte „letzte Meile“ vorbereitet, also für die Zustellung bis an die Haustür.
Manchmal werden Pakete zwischen Logistikzentrum und Verteilzentrum noch in einem der neun Sortierzentren nach Bestimmungsorten sortiert und wieder auf Lkws verteilt.
Das komplette Netz von Amazon umfasst mittlerweile rund 100 Standorte in Deutschland. Etwa 15 weitere Standorte werden gerade geplant oder gebaut .
Nach eigenen Angaben beschäftigt Amazon in Deutschland in ihren Logistikstandorten mehr als 20.000 festangestellte Mitarbeitende. Allein in Leipzig sind mehr als 1.000 Menschen beschäftigt. Andreas, der über den Todesfall berichtet hat, ist einer von ihnen.
Alles läuft nach Plan, die Abläufe sind hochstandardisiert. Für Andreas beginnt jeder Tag gleich: Warnweste, Handschuhe, eine Wasserflasche. Wenn seine Schicht beginnt, teilt ihm ein Handscanner mit, auf welcher Route er in den nächsten Stunden unterwegs sein soll. Meist betritt er einen Fahrstuhl und fährt zu einer Ebene hoch, die ihm der Handscanner mitgeteilt hat. Dieser zeigt ihm außerdem die Ware an, die er in einem Regal suchen muss. Hinlaufen, hochheben, auf den Wagen legen. Scanner checken. Nächstes Produkt.
„Ich muss mich bei fast jeder zweiten Ware bücken“, sagt Andreas. Am schlimmsten sind Mini-Geschirrspüler oder Backöfen, die er allein hochwuchten muss. Besonders, wenn sie in unteren Fächern gelagert sind. Er sagt, dass die Waren mitunter 17 Kilo wiegen.
Wenn der Wagen voll ist, schiebt Andreas ihn zum Fahrstuhl, schickt die Produkte nach unten. Jemand anderes wird weitermachen und die Produkte in ein Paket verpacken. Die Arbeit ist unterteilt in kleine Schritte. Jeder Handgriff sitzt, dann beginnt alles von vorn.
Andreas wird bei der Arbeit kontrolliert. Wie viele Prozesse, die bei Amazon in einem hohen Grad digitalisiert sind. Es geht offiziell darum, effizienter zu werden, gleichzeitig überwacht Amazon seine Beschäftigten. Den ganzen Arbeitstag lang misst Amazon die Arbeit von Andreas und seinen Kolleginnen und Kollegen. Wie lange brauchen sie für eine Bestellung? Wie viele Waren tragen sie innerhalb einer Stunde? Wie fällt ihre Geschwindigkeit im Vergleich aus? Liegt Andreas über oder unter dem Durchschnitt?
„Wir verlangen von unseren Mitarbeiter:innen nicht, dass sie individuell bestimmte Arbeitsgeschwindigkeiten oder Produktionsziele erreichen“, teilt der US-Konzern mit. Bei der Planung werde die durchschnittliche Teamleistung berücksichtigt, welche nur mit den echten individuellen Daten errechnet werden könne.
Wenn Andreas sich fünf Minuten nicht bewegt, schlägt sein Handscanner Alarm. Ein Countdown zählt rückwärts, Sekunde für Sekunde. Wer die Arbeit nicht rechtzeitig fortsetzt, fliegt aus dem System. Die Folge kann sein, dass er danach einer anderen Route zugewiesen wird und in einem anderen Bereich der Halle weiterarbeiten muss, sagt Andreas. „Für Mitarbeitende, die länger auf Toilette brauchen oder Einschränkungen haben, ist das zeitlich schwer schaffbar.“
Amazon bestätigt grundsätzlich den Countdown, schreibt aber dazu: Damit dies nicht passiere, müssten sich Mitarbeitende vorher am Scanner abmelden. „Mitarbeitende können so, immer wenn sie möchten, die nötige Auszeit für die Unterbrechung nehmen.“
Verschiedene Medien haben die engmaschige Überwachung bei Amazon bereits offengelegt. Im Oktober 2020 berichtete NDR Panorama, wie Vorarbeiter offenbar Druck auf Beschäftigte ausübten, wenn ihre „Rate“ gesunken sei. Eine Mitarbeitende soll befragt worden sein, wo sie sich um eine bestimmte Uhrzeit aufhielt. Die taz nord schilderte, wie befristete Verträge den Druck erhöhten, möglichst effizient zu arbeiten. Ein Mitarbeiter habe sich wegen Zukunftssorgen nicht getraut, sich krankschreiben zu lassen.
Im Frühjahr 2021 arbeiteten mehrere RTL-Reporter aus dem Team von Günter Wallraff undercover in verschiedenen Amazon-Werken. An einem dieser Standorte, dem Sortierzentrum in Krefeld, soll eine Vorgesetze berichtet haben, dass in jeder Schicht rund 150 Leiharbeitende eingesetzt seien. Davon behalte Amazon alle neun Monate nur fünf oder sechs Personen, heißt es im Bericht. Eine Zahl, die Amazon auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal nicht bestätigt. Allerdings sagt ein Sprecher: „Befristete Verträge kommen beispielsweise bei den saisonalen Aushilfen im Weihnachtsgeschäft oder an neuen Standorten in der Anfangszeit vor.“
Andreas war lange Zeit nur befristet beschäftigt. Deshalb sei er die Strecken während seiner Schichten häufig gerannt, um gute Zahlen zu erreichen und Anschlussverträge zu bekommen. So erlebe er es heute noch bei Kolleginnen und Kollegen mit befristeten Verträgen.
Die Überwachung geht noch weiter. Nicht nur die gelaufenen Routen werden gemessen. Es laufen auch Kameras, die offiziell nur während der Corona-Pandemie die Mindestabstände kontrollieren sollen. So steht es in einem Arbeitsschutzbericht (zur Original-Antwort) einer Berliner Behörde, den CORRECTIV.Lokal über das Informationsfreiheitsgesetz erhalten hat.
Selbst die Stimmung erfasst Amazon in Zahlen und setzt sie in Relation zu den weltweit abgefragten Werten. Findest du deine Arbeit interessant? 93 Prozent der Angestellten in einem Amazon-Lager im bayerischen Garching sollen die Frage mit „Ja“ beantwortet haben. Das Ergebnis ist für alle Mitarbeitenden auf einer Tafel sichtbar, wie der Münchner Merkur im Oktober berichtete. Daneben steht der globale „Amazon Score“, der bei 85 Prozent liegen soll. Aus Menschen werden Zahlen. Vermessen und verglichen.
CORRECTIV.Lokal hat bundesweit die Landesbeauftragten für Datenschutz nach datenschutzrechtlichen Kontrollverfahren gegen Amazon gefragt. In der Vergangenheit waren die Kontrollbehörden gleich in mehreren Bundesländern aktiv, unter anderem ging es um mögliche unzulässige Mitarbeiterüberwachung oder persönliche Daten, die gespeichert worden sein sollen. Aktuell laufen noch Verfahren in Bayern und Hessen gegen Amazon oder Subunternehmen.
Die niedersächsische Landesbehörde für Datenschutz fällte ein deutliches Urteil: Da am Logistikzentrum in Winsen an der Luhe „ununterbrochen“ Beschäftigungsdaten erhoben worden seien, habe Amazon auf „schwerwiegende Art und Weise in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ihrer Beschäftigten eingegriffen“. Das gefiel Amazon nicht und zog vor Gericht. Ein erster Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgericht Hannover ist im Januar oder Februar 2023 geplant.
Manchmal wird Andreas von Freunden nach seiner Arbeit bei Amazon gefragt. Oft hat er keine Lust zu antworten. Privat will er nichts mit seinem Arbeitgeber zu tun haben. Selber bestelle er nicht mehr bei Amazon. „Ich kenne das System dahinter und unterstütze lieber kleinere Händler als Amazon“, sagt er.
Viele Menschen handeln anders.
Amazon wies 2021 einen Gewinn in Höhe von weltweit rund 33,36 Milliarden US-Dollar aus. Die Gemeinden und der Staat profitieren davon kaum. Der US-Konzern steht wegen Steuervermeidungstricks, die über Luxemburg laufen, seit vielen Jahren in der Kritik. Im vergangenen Jahr bekam Amazon sogar eine Steuergutschrift von einer Milliarde Euro, wie das Finanzportal Bloomberg im April berichtete. Amazon-Gründer Jeff Bezos liegt mit einem geschätzten Gesamtvermögen von rund 150 Milliarden US-Dollar auf dem vierten Platz der reichsten Menschen der Welt.
Wegen erhöhter Inflation und Rezessionssorgen rechnet derzeit auch der weltgrößte Online-Händler mit einem eher schwachen Weihnachtsgeschäft. Mitte November berichtete die New York Times, dass Amazon weltweit rund 10.000 Stellen streichen will. Im Mittelpunkt der Kürzungen stehe allerdings nicht der Logistikbetrieb, sondern die defizitäre Gerätesparte des weitverzweigten Konzerns, zu der auch die Sprachsteuerung „Alexa“ gehört. Ob auch Arbeitsplätze in Deutschland gestrichen werden sollen, ließ Amazon auf Anfrage von CORRECTIV.Lokal unbeantwortet.
Deutschland ist mittlerweile gleich nach den USA der zweitgrößte Markt für Amazon. Im vergangenen Jahr fiel vom gesamten Umsatz im Online-Handel in Deutschland allein ein Fünftel auf Amazon zurück. Vor allem zur Weihnachtszeit boomt der Onlinehandel. Der „Black Friday“ sorgte in der Vergangenheit regelmäßig für einen Kaufrausch. In den kommenden Tagen werden die Mitarbeitenden auch in Leipzig noch mehr Pakete verschicken als sonst.
Das Paket wird bereit gemacht für den Transport. Der Barcode wird gescannt, die Adresse wird aufgeklebt.
Wenn Andreas ein Produkt durch das Logistikzentrum geschleppt hat, landet es am Ende als Paket in einem Container, der sich immer weiter füllt.
Sobald ein Container voll ist, wird ein Lkw-Fahrer gerufen. Die Ladung ist voll, ab auf die Autobahn. Jetzt beginnt die eigentliche Reise.
Hunderte Laster fahren jeden Tag für Amazon quer durch Deutschland. Sie transportieren die Waren zwischen den verschiedenen Amazon-Standorten hin und her. Am Steuer sitzen häufig Fahrer aus Osteuropa. Immer auf der Straße unterwegs und meist ohne Deutschkenntnisse, sind sie schlechten Arbeitsbedingungen ausgeliefert – Beratungsstellen oder Gewerkschaften erreichen sie nur schwer.
CORRECTIV.Lokal hat mit zehn Fahrern gesprochen, die für Amazon Waren in Deutschland transportieren oder transportiert haben. Sie berichten von knappen Zeitplänen, langen Wartezeiten an Amazon-Standorten, Druck, Übermüdung. Manche kriegen keinen Urlaub, Pausen haben sie kaum, auch sie folgen dem Takt der Maschine.
Diese Lkw-Fahrer arbeiten nicht direkt für Amazon, sondern für Fuhrunternehmen aus Deutschland und anderen EU-Ländern. Und auch sie werden eng überwacht: Die Aufträge für ihre Touren kommen direkt von Amazon über die App „Amazon-Relay“, die auch den Standort der Lkw-Fahrer kontrolliert. Mit der App gibt Amazon minutiös vor, wann die Fahrer in der Arbeitswoche wo ankommen und abfahren sollen. CORRECTIV.Lokal liegen zwei dieser Wochenpläne vor.
Darin werden zum Beispiel als Ankunftsziele folgende Amazon-Standorte genannt:
Kurz vor 2 Uhr nachts in einem Amazon-Lager in Niedersachsen, kurz nach 6 Uhr in einem weiteren Lager in Norddeutschland, nach 9 Uhr dann am Niederrhein. Dann beginnt eine längere Pause, bevor am späten Abend die nächsten Aufträge folgen.
Häufig sind die Touren nachts. Wenn Bestellungen innerhalb eines Tages zu Hause beim Kunden ankommen sollen, ist das anders kaum möglich. Die Käufer wollen ihre Ware – schnell und am besten kostenlos.
Antanas und Jonas sind häufig nachts unterwegs. Als wir sie im Sommer auf dem Parkplatz vor einem Amazon-Zentrum in Norddeutschland treffen, kochen sie gerade Kartoffeln auf einem Campingkocher neben ihrem Lkw. Es ist drückend heiß. Schatten gibt es nicht.
Die beiden sind vermutlich in ihren 40ern. Sie kommen aus Litauen und arbeiten seit Jahren als Lkw-Fahrer. Wegen der besseren Arbeitsbedingungen und der besseren Bezahlung seien sie in Deutschland, sagen sie. Seit einiger Zeit fahren sie Amazon-Waren quer durch Deutschland. Der Sitz ihres Arbeitgebers liegt in einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz.
Jonas und Antanas heißen eigentlich anders. Sie möchten nicht, dass ihr Chef erfährt, dass sie mit der Presse gesprochen haben.
Wie sehen diese besseren Arbeitsbedingungen in Deutschland aus? Wie steht es mit Urlaub, Krankschreibungen, Unterbringung? Antanas lacht. „Wir haben keinen Urlaub“, sagt er. „Wenn wir Urlaub wollen, dann müssen wir kündigen.“
CORRECTIV.Lokal liegt der Arbeitsvertrag von Antanas vor. Tatsächlich ist darin von Urlaub keine Rede. Da das Unternehmen in Deutschland sitzt, gilt deutsches Arbeitsrecht. Demnach haben alle Beschäftigten in Deutschland einen Anspruch auf 24 Tage Urlaub im Jahr. Aber das Subunternehmen nutzt offenbar Kettenverträge, in denen kein Urlaub vorgesehen ist.
Jonas und Antanas sprechen von folgender Praxis: Wer eine Pause braucht, kündigt seinen Vertrag und fährt in den unbezahlten Urlaub. Dann kehren die Fahrer in ihre Heimatländer zurück und schließen oft direkt den nächsten Vertrag ab. So hebelt ihre Logistikfirma das Gesetz aus.
Seit vier Monaten sei er ununterbrochen in Deutschland unterwegs, sagt Jonas. Wann er seine Familie in Litauen wiedersehen werde, wisse er nicht.
Die beiden sagen, dass in ihrem Unternehmen immer zwei Fahrer zusammen fahren. Für den Arbeitgeber habe das den Vorteil, dass sie rechtlich dann längere Zeiten am Stück unterwegs sein dürfen.
Für die Fahrer bedeutet das: Sie teilen den Lkw und haben kaum Privatsphäre.
Antanas und Jonas sagen, dass sie trotzdem lieber zu zweit sind. Dann könne sich jeder wenigstens mal zwei bis drei Stunden ausruhen. Oft müssten sie 21 Stunden durchfahren.
Eine Anfrage von CORRECTIV.Lokal zu den Vorwürfen ihrer Lkw-Fahrer ließ das Unternehmen aus Rheinland-Pfalz bis Redaktionsschluss unbeantwortet.
Die Fahrer sagen, sie übernachteten immer in der kleinen Fahrerkabine. In einem Hotel hätten sie noch nie geschlafen. Auch das wäre rechtswidrig. Die EU-Verordnung 561/2006 schreibt vor, dass Fahrer allenfalls zwei Wochen in dem Lkw verbringen dürfen. In der dritten müssen sie 45 Stunden am Stück ruhen. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass der Fahrer während dieser langen Pause außerhalb der Kabine schlafen kann – also in einem richtigen Bett.
„Wir hören seit Jahren von Lkw-Fahrenden, dass das Recht auf einen Schlafplatz außerhalb der Kabine in Deutschland kaum kontrolliert werde“, sagt Michael Wahl. Er arbeitet für das DGB-Beratungsnetzwerk „Faire Mobilität“, das in einem Team aus dutzenden Beraterinnen und Beratern regelmäßig Lkw-Fahrer berät. Viele Fahrende würden glauben, dass es in Deutschland erlaubt sei, ständig im Lkw zu schlafen und beispielsweise in Frankreich oder Belgien nicht. Dort fänden regelmäßig Kontrollen statt, sagt Wahl. „Andere Lkw-Fahrende erzählen, dass Arbeitgeber anweisen, dass die Fahrer in Kontrollen lügen sollen oder gefälschte Dokumente vorlegen müssen.“
Ein ehemaliger Fahrer des deutschen Fuhrunternehmens bestätigt die Vorwürfe von Jonas und Antanas. Er sei von seinen Vorgesetzten sogar instruiert worden, welche falschen Angaben er bei staatlichen Kontrollen zu seiner Übernachtung machen solle.
Auch hierzu beantwortete der Arbeitgeber der Lkw-Fahrer keine Fragen von CORRECTIV.Lokal. Auch Amazon beantwortet nicht, ob es zutrifft, dass Fahrer teilweise über Monate nur in ihrer Fahrerkabine schlafen. Ein Sprecher schreibt nur allgemein: „Wir legen großen Wert darauf, dass diese Fahrer:innen sich wohlfühlen.“
Hinweise geben
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Vielen Dank an alle Menschen, die sich bereits gemeldet haben. Wir haben jeden Hinweis gelesen und werden es weiterhin tun. Uns hilft es sehr, besser recherchieren zu können, wenn Sie eine Kontaktmöglichkeit für Rückfragen angeben.
Jonathan Sachse
jonathan.sachse@correctiv.org
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miriam.lenz@correctiv.org
Dokumente per Post
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Lkw-Fahrer wie Jonas und Antanas müssen während der Be- und Entladung in Amazons sogenannter „Trucker Lounge“ warten. Das sei oft ein Container mit einer Kaffeemaschine, einem Essensautomat und ein paar Stühlen, die nicht immer ausreichen, sodass Fahrer stehen müssen. Auch Duschen gibt es teilweise keine.
Amazon selbst bewertet diese Angebote auf Anfrage von CORRECTIV anders. Die Wartezeit für die LKW-Fahrer solle „so angenehm wie möglich“ gestaltet werden. Zudem seien Toiletten rund um die Uhr zugänglich, schreibt ein Amazon-Sprecher. Die Arbeitsbedingungen der Lkw-Fahrer, die für Amazon bei Subunternehmen angestellt sind, gehörten zu den „besten der Branche“.
Antanas bekommt laut Arbeitsvertrag 1.800 Euro im Monat brutto für 183 Arbeitsstunden. Das wäre mit 9,84 Euro pro Stunde knapp über dem ehemals gültigen Mindestlohn.
Sie berichten von weiteren Problemen. Wenn sie während ihrer Arbeit in Deutschland krank würden, bekämen sie kein Geld. Und was machen sie dann, wenn es ihnen schlecht geht? „Kaffee und Red Bull“, sagt Jonas.
Überhaupt seien sie häufig vollkommen übermüdet, sagen sie. Und das macht ihnen Sorgen. Sie erzählen von einem Unfall, den ein erschöpfter Kollege vor einigen Wochen in Süddeutschland verursacht habe. Auf dem Smartphone rufen sie einen Artikel des SWR über einen Unfall am 13. Juni auf.
In der Polizeimeldung ist von einem 57-jährigen Fahrer eines Sattelzugs die Rede, der gegen 5 Uhr die Bundesautobahn 6 in Fahrtrichtung Nürnberg fuhr. „Aus noch nicht geklärter Ursache kollidierte er zunächst mit einer am rechten Fahrbahnrand befindlichen Baustellenbegrenzung, durchbrach dann die linksseitige Metallschutzleitplanke des Baustellenbereichs und geriet so in die Gegenfahrbahn.“
Ein Mann starb. Sechs weitere Personen, inklusive des Lkw-Fahrers, wurden schwer verletzt. Die Staatsanwaltschaft Ansbach hat Ermittlungen eingeleitet.
Ob es sich bei dem Unfall tatsächlich um einen Fahrer des rheinland-pfälzischen Subunternehmens handelt, konnte die Staatsanwaltschaft bislang nicht bestätigen. Amazon erklärt auf Anfrage: „Nach Überprüfung der vorhandenen Daten sind uns für das Jahr 2022 keine Verkehrsunfälle bei Amazon-Fahrten mit diesem Unternehmen bekannt.“
Weitere vier Fahrer berichten von Übermüdung, wie CORRECTIV.Lokal in einer aktuellen Recherche zeigt. Sie fahren für andere Subunternehmen und sind Teil eines neuen Programms, mit dem Amazon Fuhrunternehmen noch enger an sich binden will.
Amazon schreibt, sie würden mit mehr als 600 deutschen Speditionen zusammenarbeiten. Die Einhaltung der Gesetze und Vorschriften würden sie „von Zeit zu Zeit“ überprüfen. Ein Sprecher schreibt: „Die Ruhepausen sind vom Gesetzgeber klar geregelt und jeder Spediteur ist für deren Einhaltung verantwortlich. Wenn wir feststellen, dass ein Unternehmen gegen die Vorschriften verstößt, handeln wir sofort.“
Antanas und Jonas werfen schnell ihr Essen in die Pfanne, die inzwischen auf dem Campingkocher steht. Später werden sie wieder am Steuer sitzen, damit Amazon-Kunden so schnell wie möglich ihr Paket bekommen. Sie werden sich wieder konzentrieren müssen, wenn sie in der Nacht das Licht von entgegenkommenden Fahrzeugen blendet und sie auf die eintönige Autobahn blicken. Die Maschine Amazon rollt weiter.
Die Lkw steuern von den Logistikzentren zu den Amazon-Verteilzentren. Hier laden Amazon-Mitarbeitende Pakete auf Fließbänder, tausende, zehntausende, kleine, große, der Fluss der Waren hört scheinbar nie auf, die Beschäftigten scannen, kleben Aufkleber mit dem Zielort auf, zum Schluss sortieren sie die Pakete nach Straße und Postleitzahl.
Die Verteilzentren sind wesentlich kleiner als die Logistikzentren. Nur rund 100 bis 200 Menschen arbeiten in der Regel dort. Es sind kleinteilige, monotone Tätigkeiten, für die man aber hochkonzentriert sein muss.
Auch hier kontrolliert Amazon die Mitarbeitenden mit einem Handscanner. Sie arbeiten größtenteils in der Nachtschicht. In diesem Teil steigt in der Maschine noch einmal der Druck. Am nächsten Morgen sollen die Pakete zum Kunden gebracht werden.
Serdal Sardas hat fast zwei Jahre lang im Verteilzentrum Wunstorf gearbeitet, lange nur nachts, hat Schichten organisiert. Sein Titel: Operations Supervisor, ein Job mit Verantwortung. „Die Nachtschicht ist keine Zeit, zu der man arbeiten möchte, in der der Körper wach sein will“, sagt Sardas. Das halte man zwei, drei Jahre durch. Dann würden die Leute krank. Sardas hat das mittlerweile hinter sich. Seit Juni ist er Vorsitzender des neugegründeten Betriebsrates am Standort Wunstorf und dafür freigestellt.
Die Verteilzentren sind ein wichtiger Teil von Amazons Plan, sich immer unabhängiger von großen Logistikanbietern wie DHL zu machen und die Paketbranche in Deutschland umzukrempeln. Das erste Verteilzentrum eröffnete im Jahr 2015 in der Nähe von München. Inzwischen gibt es rund 70.
CORRECTIV.Lokal
Sich zu organisieren und für die eigenen Rechte einzutreten, scheint für die Beschäftigten in den Verteilzentren noch schwieriger als anderswo. „Amazon setzt in Verteilzentren viele Leiharbeiter ein“, sagt Nonni Morisse. „Das macht es schwieriger, einen Betriebsrat zu gründen.“ Morisse ist bei der Gewerkschaft Verdi in Niedersachsen ausschließlich für Amazon zuständig. Viele der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dort, sagt er, seien nach Deutschland eingewandert und würden ihre Rechte als Beschäftigte hierzulande deshalb nicht kennen. Auch wegen der Sprachbarrieren erreiche die Gewerkschaft diese Beschäftigten schwerer.
In Wunstorf, Niedersachsen, hat es Serdal Sardas trotzdem geschafft. Er und die anderen Mitarbeitenden des Verteilzentrums haben im Sommer dieses Jahres einen Betriebsrat gegründet. Eine kleine Revolution – es ist der erste in einem Amazon-Verteilzentrum in Deutschland.
Für Sardas ist das ein großer Erfolg. Der Betriebsrat würde nun gerne loslegen. Aber die Maschine wehrt sich. Amazon ficht die Wahl juristisch an: Der Betriebsrat sei zu groß für die Anzahl der Mitarbeitenden. Zudem seien wahlberechtigte Mitarbeitende nicht zur Wahl zugelassen worden. Eine Machtgebärde des Konzerns, eine von vielen.
In den USA kämpft Amazon seit Jahren gegen Betriebsratsgründungen. Auch in Deutschland versucht der Konzern, die betriebliche Mitbestimmung seiner Beschäftigten zu torpedieren. Das haben auch Sardas und seine Mitstreiter erlebt.
Bei den Betriebsratswahlen trat neben einer Liste, die Sardas anführte, eine weitere an. Sardas nennt sie „Amazon-nah“. Auf einem Wahlplakat warb sie mit „Loyalität“ zum Unternehmen. In zwei Logistikzentren mit Betriebsrat beschreiben uns Quellen ein ähnliches Vorgehen.
Ob Amazon versucht hat, Einfluss auf die Wahl zu nehmen, beantwortet der Konzern nicht. Den Mitarbeitenden obliegt es selbst, wie und in welcher Form sie sich im Zuge dessen engagieren würden. „Dies gilt auch für eine Kandidatur“, teilt ein Sprecher mit.
Morisse, von der Gewerkschaft Verdi, bezeichnet die zweite Liste als „managementgeführt“. Er sagt: „Inzwischen behindert Amazon mit allen möglichen Geschützen und Strategien, die Wahl gewerkschaftlich organisierter Kollegen.“
Dabei gebe es viel zu tun, sagt Sardas, die Missstände fielen ihm als Operations Supervisor jede Nacht auf. Unter anderem war er dafür verantwortlich, dass die Kleintransporter der Kurierfahrer pünktlich beladen werden. Er sagt: „Bei der Dienstplanung wurde zum Beispiel nicht darauf geachtet, ob jemand alleinerziehend ist und deshalb nicht in der Spätschicht arbeiten kann.“
Das Gegenteil sei der Fall, sagt Amazon. Mindestens vier Wochen vorher würden Schichten transparent kommuniziert.
In der Nachtschicht drückt am Anfang ein Schichtleiter einen Knopf an seinem Computer, dann generiert das System für die Masse der Pakete, die während der Schicht in dem Verteilzentrum zu bewältigen sind, eine Route. Zunächst werden die Touren virtuell am Computer erstellt. Danach teilt der Leiter die Schichten ein. Die Maschine steuert die Menschen. Die einen entladen die Lkw, andere scannen, verpacken, sortieren, bücken, oberes Fach, unteres Fach.
Pro Schicht verstaut ein Mitarbeiter hunderte Pakete, manche tausende. Sardas sagt, er habe darauf geachtet, dass niemand über 3.000 kommt. „Alles darüber ist nicht gesund.“ Pampers XXL-Packungen, Whiskas, zwölf Kilo, solche Lasten gehen auf die Knochen. „Die sind unhandlich und schwer, geht auch schnell kaputt, läuft aus“, sagt Sardas.
Besonders schlimm wurde es, als der Boom der E-Roller begann. Hunderte von den Geräten kamen in den ersten Tagen an, erinnert sich Sardas. So viel zu schleppen gebe es sonst nur zu Anfang der Sommerzeit, wenn viele Kunden Gartenmöbel bestellen. Auch die Eintönigkeit mache den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu schaffen. „Man wechselt die Position mit neuer Schicht mal“, sagt er. „Darauf wird auch geachtet, um etwas Abwechslung rein zu bringen.“
Am Ende landen die Waren sortiert nach Postleitzahl und Straße in Taschen, die die Kurierfahrer später in ihre Transportfahrtzeuge laden.
Verladen: Die Sendung wurde in das Zustellfahrzeug geladen. Die Zustellung erfolgt heute.
Tausende Kurierfahrer sind an sechs Tagen in der Woche mit Transportern voller Amazon-Pakete unterwegs, auf der sogenannten „Letzten Meile“, also von den Verteilzentren bis an die Haustür.
Die Maschine nimmt sie gleich am Verteilzentrum in sich auf: Teilweise warten hunderte Transporter morgens vor den Toren auf die Pakete. In Wellen getaktet halten sie an Markierungen, die an die Startlinien eines Formel-1-Rennens erinnern.
Für jede Welle sind dabei genau 15 Minuten vorgesehen. In der Zeit müssen Lieferanten und Lieferantinnen ihre Ware aus der Lagerhalle holen und in ihren Wagen verstauen. In einem Beitrag des NDR Schleswig Holstein Magazins ist dieser Ablauf genauer zu sehen. „Noch drei Minuten“, schallt es darin über den Vorplatz. Hektik breitet sich aus. Eine Vorarbeiterin erinnert die Kurierfahrer in regelmäßigen Abständen an die ihnen verbleibende Zeit. Die Lieferanten und Lieferantinnen fahren vom Betriebsgelände und die nächste Welle steht schon bereit. Dann geht es auf die Straße.
Was dort passiert, schildern der Nordseezeitung und den Nürnberger Nachrichten mehrere Fahrerinnen und Fahrer. Beide Medien recherchierten gemeinsam mit CORRECTIV.Lokal.
„Wir mussten ständig mit überladenen Transportern fahren und den Polizeikontrollen ausweichen“, sagt einer der Fahrer. Andere sprechen von extremem Druck, Maßregelungen und ständiger Zeitnot. „Es ist eigentlich unmöglich alle Stopps zu schaffen und alles auszuliefern – aber man muss es schaffen. Überstunden werden nicht bezahlt.“
Eine Fahrerin sagt, sie habe tagsüber kleine Pausen gemacht. „Aber nach dem zweiten oder dritten Anruf von meinem Chef, was ich so lange an einem Standort mache, habe ich mich das nicht mehr getraut.“ Sie habe deswegen während der Fahrt gegessen und getrunken.
Die Berichte der Fahrer passen zu Missständen, die weitere Medien aufgedeckt haben. Subunternehmer machten sich aus dem Staub und bezahlten ihre Fahrer nicht mehr, berichtete der MDR im vergangenen Jahr. Und ZDF Frontal berichtete über wachsende Ladungen mit bis zu 270 Paketen pro Schicht und nicht bezahlten Überstunden.
Amazon weist die Verantwortung für diese prekären Arbeitsbedingungen von sich. „Die Fahrer:innen beenden in etwa 90 Prozent der Fälle ihre Routen pünktlich oder sogar früher“, schreibt ein Konzernsprecher.
Auch die Kurierfahrer sind nicht direkt bei Amazon angestellt, sondern bei Subunternehmen. Deren Gründung fördert Amazon wiederum mit einem eigenen Programm. Diese Partner seien verpflichtet, Überstunden zu bezahlen, schreibt die Pressestelle von Amazon.
Routen und Paketanzahl gibt die Maschine vor. Überwacht werden die Fahrer von Amazon und den Subunternehmen mit einer App auf dem Handy. Offiziell soll dies für mehr Verkehrssicherheit sorgen, so mache die App etwa auf zu schnelles Bremsen oder erhöhte Geschwindigkeit aufmerksam. Zudem überwacht die App die Länge einer Route. Damit „die gesetzlich vorgeschriebene maximale Lenkzeit nicht überschritten wird“, begründet Amazon den Einsatz.
Die besten Recherchen der Woche
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„Die Kontrolle ist allgegenwärtig“, sagt Anna aus Bayern den Nürnberger Nachrichten. Sie mache sich selbst Druck, die Vorgaben zu erfüllen. Dazu kommt die Kontrolle von außen: „Von Amazon. Vom Chef. Von den Kunden.“
Anna heißt eigentlich anders. Wie viele, die im Umfeld von Amazon arbeiten oder gearbeitet haben, möchte auch sie nicht, dass ihr Name öffentlich wird. Gut anderthalb Jahre hat sie für mehrere Subunternehmen in Bayern Amazon-Pakete ausgeliefert. Mit allen Firmen hat sie schlechte Erfahrungen gemacht, wie die Nürnberger Nachrichten berichten.
160 bis 200 Stopps habe sie am Tag schaffen müssen, sagt sie. „Die Menge bestimmt deine Arbeitszeit.“ Neun bis zwölf Stunden habe sie am Tag gearbeitet. Krank werden dürfe man auf keinen Fall. Sonst drohe die Kündigung. An manchen Tagen saß sie krank am Steuer. „Dann hoffst du, dass du nicht direkt aus den Latschen kippst.“
„Das von Ihnen beschriebene Szenario sollte niemals der Fall sein und wir würden ein solches Verhalten unseres Partners nicht tolerieren“, schreibt ein Amazon-Sprecher. Der Vorfall könne untersucht werden, wenn Beweise vorliegen würden. „Bei Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen würden wir die Beendigung der Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Unternehmen prüfen.“
Eigentlich hat Anna gerne Pakete ausgeliefert. Aber die Belastung wurde zu viel. Viele Kuriere wechseln nach wenigen Monaten den Arbeitgeber. Oft von einem Subunternehmen zum nächsten. Womöglich in der Hoffnung auf bessere Arbeitsbedingungen. Das zeigen zahlreiche Online-Lebensläufe, die CORRECTIV.Lokal eingesehen hat.
Anna arbeitet heute nicht mehr als Kurierfahrerin. Sie bestellt nicht einmal mehr bei Amazon. Sie wollte nur eins: Raus aus der Maschine.
Erfolgreich: Ihr Amazon-Paket wurde zugestellt.
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Ein flächendeckendes Netz von Amazon-Standorten und viele Beschäftigte bei Subunternehmen sichern eine schnelle Amazon-Lieferung. In beiden Bereichen kommt es teilweise zu prekären Arbeitsbedingungen.
Viele Prozesse sind bei Amazon in einem hohen Grad digitalisiert. Es geht offiziell darum, effizienter zu werden, gleichzeitig überwacht Amazon seine Beschäftigten.
Die Schichten in Verteilzentren und die Lkw-Touren sind häufig nachts. Wenn Bestellungen innerhalb eines Tages zu Hause beim Kunden ankommen sollen, ist das anders kaum möglich.
Für Amazon liefern viele Fahrer und Fahrerinnen, die bei Subunternehmen angestellt sind. Viele berichten von enormem Druck und schlechten Arbeitsbedingungen. Sie sind sowohl in Lkws auf Autobahnen unterwegs, als auch in kleineren Transportern in den Städten.
Amazon ist der mit Abstand größte Akteur der Branche. In Deutschland gibt es derzeit rund 100 Amazon-Standorte. Etwa 15 weitere werden derzeit geplant oder gebaut. Wo die Amazon-Zentren genau liegen, zeigt im November 2022 erstmals eine Karte von CORRECTIV. Standorte, die aktuell geplant sind oder gebaut werden, sind dabei mitgezählt.
Insgesamt gibt es 20 Logistikzentren, fünf weitere sind aktuell in Planung oder bereits im Bau. In einem der rund 70 Verteilzentren werden die Pakete für die „letzte Meile” vorbereitet, neun weitere Verteilzentren sind aktuell im Bau oder geplant. Manchmal werden Pakete zwischen Logistikzentrum und Verteilzentrum noch in einem der neun Sortierzentren nach Bestimmungsorten sortiert und wieder auf LKW verteilt. Ein weiteres ist aktuell in Planung.
Zusätzlich gibt es ein Luftfrachtzentrum am Flughafen Halle-Leipzig.
Bei Amazon gehören Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen offenbar zum Geschäftsmodell. Verschiedene Medien haben die engmaschige Überwachung bei Amazon bereits offengelegt. In mehreren Recherchen mit Lokalmedien hat CORRECTIV am 23. November 2022 darüber berichtet.
Manche Arbeiter laufen einen Halbmarathon am Tag, andere haben kaum Zeit für eine Toilettenpause. LKW-Fahrer sind so müde, dass sie regelmäßig damit kämpfen, nicht am Steuer einzuschlafen. Viele berichten über stetigen Druck und wie eng ihre Aufgaben getaktet sind. Die Menschen arbeiten zum Teil neben Robotern, überwacht von Computern.
Laut einer Studie des Instituts für Handelsforschung Köln zählte Amazon im Jahr 2021 in Deutschland 46,2 Millionen Kundinnen und Kunden. Das bedeutet: Mehr als die Hälfte aller Deutschen haben im vergangenen Jahr bei Amazon eingekauft.
Die Anzahl der Bestellungen liegt deutlich darüber: Im Schnitt bestellten 2017 Amazon-Kunden 41,3 mal im Jahr – also bestellten Kundinnen und Kunden ungefähr alle neun Tage etwas.
Hinweis: CORRECTIV war in den vergangenen Jahren im Spendenprogramm AmazonSmile registriert. Im Zuge dieser Veröffentlichung haben wir uns als Organisation aus diesem Programm zurückgezogen.
Korrektur 2.12.2022: In der ersten Version des Artikels haben wir in einem Absatz beschrieben, dass Amazon den Rauswurf von befristet Beschäftigten „ramp down“ nennen würde und diese Formulierung an den Viehtransport erinnern würde. Diesen Absatz haben wir gelöscht, da der Begriff eine etablierte Bezeichnung in der Wirtschaft ist. Die Vokabel wird genutzt, wenn der Aufwand für einen Prozess verringert wird. Vielen Dank an die Menschen, die uns darauf hingewiesen haben.
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