Die Hilfssheriffs von Hamburg
Ein angebliches Fahndungsfoto wird zehntausendfach auf Facebook verbreitet, trotz Dementi der Polizei.
Das Foto eines Mannes, der während der Anti-G20-Proteste vor einem knienden Polizisten steht. Dazu der Text: „Das ist der ‚Demonstrant‘ welcher mit einem Böller einem Polizisten das Augenlich nahm. Findet Ihn! Bitte teilen. Für die Ergreifung ist eine hohe 5 stellige Belohnung ausgesetzt.“ Nur: Das stimmt nicht. Die Polizei Hamburg widerspricht dieser Darstellung auf Twitter vehement, die Person sei nicht tatverdächtig. Trotzdem verbreitet sich einer der Facebook-Posts bis Sonntagmorgen mehr als 150.000 Mal, zum Teil über 10.000 Mal in einer Stunde. Ein weiterer über 40.000 Mal.
Die Kommentatoren toben. Viele rufen zu Selbstjustiz und Gewalt auf. Auch die „Bild Hamburg“ verbreitete zunächst die Meldung, der Abgebildete sei verantwortlich für die Verletzungen des Polizisten. In einer ersten Fassung stellt die Online-Ausgabe einen unmittelbaren Tatzusammenhang mit dem Abgebildeten fest: „Ein Chaot wirft einem Polizisten einen Böller direkt ins Gesicht. Nach Bild-Informationen könnte der Beamte sein Augenlicht verlieren.“ Auch dieser Darstellung widerspricht die Polizei: Der Beamte habe ein Knalltrauma erlitten. In einer anderen Fassung desselben Artikels steht unter dem Foto: „Ein Chaot wirft einem Polizisten einen Böller in den Nacken, kann danach fliehen“.
Die „Bild“ hat die Unterschrift online geändert, diese Änderung allerdings nicht gekennzeichnet. Inzwischen heißt es da: „Ein Chaot wirft einem Polizisten einen Böller in den Nacken, kann danach fliehen. Der Täter ist auf dem Foto nicht zu sehen.“
Auf Facebook kursieren zahlreiche weitere Posts, die angeblich zur Fahndung ausgeschriebene Personen zeigen. Viele werden tausendfach geteilt. Unter allen Posts ergehen sich Facebook-Nutzer in Gewaltfantasien: „Den müßte man einen Böller in beide Nasenlöcher stecken und anzünden vorher aber seine Hände auf den Rücken binden“, schreibt einer. Mehrere Kommentatoren fordern den Einsatz scharfer Waffen gegen Demonstranten.
Bisher keine öffentliche Fahndung der Polizei
Die „Bild“ hat unterdessen unter der Überschrift „Wer kennt diese G20-Verbrecher?“ weitere Fotos angeblich Tatverdächtiger veröffentlicht. Obwohl bisher niemand wegen des G20-Wochenendes zur öffentlichen Fahndung ausgeschrieben wurde. Laut „ARD Faktenfinder“ prüft der Presserat derweil Beschwerden, weil das Blatt gegen den Pressekodex verstoßen haben könnte.
Die Polizei hat nach eigenen Angaben inzwischen einige tausend Hinweise zu den Ausschreitungen erhalten. Die Auswertung dieser sowie damit verbundene eventuelle öffentliche Fahndungen dürften sich noch einige Zeit hinziehen.
Private Aufrufe können gefährlich werden
Immer wieder wird in sozialen Medien Jagd auf vermeintliche Verdächtige gemacht. Mitte Juni veröffentlichten Facebook-Nutzer ein Autokennzeichen, das mit einem gesuchten Sexualstraftäter assoziiert wurde. Die Polizei Oberhausen widersprach den Meldungen und suchte den Verfasser der Falschmeldung schließlich zu Hause auf.
Eine der größten digitalen Jagden auf Unschuldige veranstalteten Nutzer der Linksharing-Plattform reddit nach dem Bombenanschlag auf den Boston Marathon im Jahr 2013. Damals war ein eigenes Unterforum, ein sogenannter Subreddit, eröffnet worden, um die Täter zu finden. Unter denen, die Namen falscher Verdächtiger verbreiteten, waren auch mehrere Journalisten. Immer wieder warnen Netzexperten davor, Informationen ungeprüft zu übernehmen oder zu überschätzen, nur weil sie vielfach geteilt wurden. Warum solche Aufrufe bisweilen strafbar sein können, beschreibt der Verein Mimikama.
Diskussion über den Verlauf des Gipfels
Über den Verlauf des Gipfels und die Gegendemonstrationen wird seit Tagen heftig diskutiert. Laut Polizei wurden 476 Beamte verletzt. Über die Zahl verletzter Demonstranten gibt es keine zusammenfassenden Angaben. Der NDR berichtete von elf Schwerverletzten. Insgesamt wurden 186 Menschen vorläufig festgenommen. Außerdem meldet die Polizei 225 Ingewahrsamnahmen. Am Sonnabend hatten in Hamburg bis zu 50.000 Menschen demonstriert.