Faktencheck

Warum türkische Angehörige über deutsche Krankenkassen versichert sind

Zuwanderer können ihre in der Türkei lebenden Familien mitversichern. Immer wieder wird diese Möglichkeit der Familienversicherung für politische Stimmungsmache genutzt. Aber was steckt hinter dem Deutsch-Türkischen Sozialabkommen?

von Cristina Helberg

In Deutschland krankenversicherte Arbeitnehmer können ihre Familie kostenlos absichern – egal, ob in Deutschland oder in der Türkei. (Symbolbild).© sarcifilippo / pixabay

Regelmäßig wird ein mehr als 50 Jahre altes Sozialabkommen zwischen der Türkei und Deutschland als Aufregerthema instrumentalisiert. 2011 richtete die NPD eine Petition an den Bundestag, um das Abkommen zu kündigen. Die Petition wurde abgelehnt. Im Wahlkampf 2017 griff der Bundessprecher der AfD, Jörg Meuthen, das Thema wieder auf und forderte die Kündigung. Wir erklären die Hintergründe des kontrovers diskutierten Vertrages.

Warum gibt es ein Deutsch-Türkisches Sozialabkommen?

1964 schlossen die Türkei und Deutschland ein Sozialabkommen ab. Damals sollten türkische Gastarbeiter auch mit attraktiven Sozialleistungen für ihre Familien in der Heimat überzeugt werden. Generell ist ein Sozialabkommen nicht ungewöhnlich. Deutschland hat mit 19 weiteren außereuropäischen Staaten Sozialabkommen abgeschlossen. Unter anderem mit Australien, Brasilien, Marokko, Tunesien und den USA.

Warum sind türkische Eltern mitversichert?

Das Abkommen regelt die deutsch-türkischen Beziehungen im Bereich der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung. Kontrovers diskutiert wird vor allem die Krankenversicherung und speziell der Punkt der Familienversicherung. Das Abkommen sieht vor, dass in Deutschland krankenversicherte Arbeitnehmer ihre Angehörigen kostenlos über die normale Familienversicherung absichern können – egal, ob die Familie in Deutschland oder in der Türkei lebt. Auch Rentner, die in Deutschland versichert sind, aber in der Türkei leben, können ihre Familien in der Türkei mitversichern. Doch es gibt einen besonderen Unterschied zur herkömmlichen Familienversicherung in Deutschland.

Lebt die Familie in der Türkei, wird nach türkischem Recht definiert, wer zur Familie zählt. Das sind, wie bei uns, Ehefrau oder Ehemann und die minderjährigen Kinder. Anders als in Deutschland zählen aber in der Türkei im Sinne der Versicherung auch Eltern zur Familie. Zieht die Familie nach Deutschland, verlieren die Eltern jedoch ihren Anspruch, denn dann gilt deutsches Krankenversicherungsrecht und das schließt Eltern in der Familienversicherung aus.

Die Familienversicherung für türkische Angehörige ist, genau wie in Deutschland, kostenlos, allerdings können durch türkische Rechtsvorschriften höhere Selbstbeteiligungen anfallen. Leistungen der Pflegeversicherung sind in dem Abkommen nicht vorgesehen.

Immer wieder wird im Kontext der Familienversicherung der Vorwurf laut, auch mehrere Ehefrauen könnten kostenlos in der Türkei mitversichert werden. Das stimmt nicht. In der Türkei ist seit dem Jahr 1926 rechtlich nur die Einehe möglich.

Wie viele Türken sind über die deutsche Familienversicherung abgesichert?

Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales versichern knapp 10.100 Allgemeinversicherte in Deutschland ihre Familie in der Türkei mit. Hinzu kommen knapp 19.200 Rentner, die in Deutschland versichert sind, aber in der Türkei leben. Wie viele türkische Familienangehörige genau über die deutsche Krankenversicherung abgesichert sind, wird nicht erfasst, da pauschal pro Familie bezahlt wird.

Welche Voraussetzungen müssen Familienmitglieder erfüllen, um mitversichert zu werden?

Angehörige, die in der Türkei leben, können nur dann über die Familienversicherung mitversichert werden, wenn sie nicht selbst arbeiten oder bereits versichert sind. Für die Eltern gilt außerdem, dass sie nicht über eigene Einkünfte oder Eigentum verfügen dürfen, schreibt das deutsche Gesundheitsministerium auf Anfrage von EchtJetzt. Zusätzlich muss der unterhaltsverpflichtete Versicherte ihnen Unterhalt zahlen, sonst verfällt ihr Anspruch. Überprüft werden diese Voraussetzungen laut Gesundheitsministerium von den türkischen Trägern.

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Quelle: Antwortmail des Gesundheitsministeriums vom 11.06.2018 auf eine Anfrage von EchtJetzt.

Wie viel zahlen deutsche Kassen für türkische Angehörige?

Um komplizierte Abrechnungen mit hohem Verwaltungsaufwand zu vermeiden, bezahlt die deutsche gesetzliche Krankenkasse Monatspauschalen für alle in der Türkei gemeldeten Familien. Der Monatspauschalbetrag wird je Familie gezahlt und jedes Jahr neu zwischen der Türkei und Deutschland vereinbart. Wie viele Angehörige pro Familie angemeldet sind, ist also für die Zahlungen egal. Und egal ist auch, ob und in welchem Umfang tatsächlich Leistungen in Anspruch genommen wurden. „Es liegt in der Natur von Pauschbeträgen, dass diese mal vorteilhafter und mal nachteiliger für die beteiligten Träger sind“, schreibt Christian Westhoff, Pressesprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, auf Anfrage von EchtJetzt.

2016 ist das letzte Jahr, für das eine vorläufige Abrechnung über die gezahlten Pauschalbeträge vorliegt. Demnach wurden 2016 für das Deutsch-Türkische Sozialversicherungsabkommen 12,3 Millionen Euro ausgegeben – 4,4 Millionen für die in der Türkei wohnenden Familien von Versicherten und 7,9 Millionen Euro für Rentner und ihre Familien. „Damit machten die Beiträge lediglich 0,006 Prozent der gesamten Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung aus“, schreibt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

Warum ist die Familienversicherung von türkischen Angehörigen für Deutschland insgesamt günstiger?

Die Regelung türkische Angehörige auch in der Türkei kostenlos mitzuversichern, ist für Deutschland letztendlich günstiger, betont der wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einem Schreiben von März 2018. Für türkische Familien sei diese Möglichkeit ein Grund gewesen, in der Heimat zu bleiben. Die deutschen Kassen sparen dadurch, denn die Versorgung der Familienangehörigen wäre in Deutschland deutlich teurer. Als Beispiel wird das Jahr 2016 angeführt. Im Durchschnitt kostete jeder Versicherte in Deutschland 2016 monatlich 240 Euro. Die vereinbarte vorläufige Monatspauschale im Rahmen des deutsch-türkischen Sozialabkommens lag im selben Jahr bei 40,90 – pro Familie, nicht pro Versichertem.

Allerdings ist hier zu beachten, dass dieses Argument nur im Fall der Ehepartner und Kinder greift. Sie können im Rahmen des Familiennachzugs unter bestimmten Bedingungen nach Deutschland kommen. Deshalb ist es finanziell für die Kassen ein Vorteil, wenn Sie sich in der Türkei behandeln lassen. Eltern aus der Türkei können dagegen nur ausnahmsweise in Härtefällen, wie zum Beispiel bei Pflegebedürftigkeit, nach Deutschland nachziehen. Und selbst wenn sie die Erlaubnis zum Nachzug nach Deutschland erhalten, fallen sie, sobald sie hier wohnen, aus der Familienversicherung. Die Eltern sind also in der Türkei versichert, obwohl sich daraus kein Vorteil für die deutschen Krankenkassen ergibt, denn sie könnten ohnehin nicht nach Deutschland nachziehen und hier Kosten verursachen.

Hinzu kommt: Die türkischen Angehörigen können auch nach Deutschland reisen und sich hier behandeln lassen, da sie als deutsche Versicherte gelten, schreibt das Gesundheitsministerium auf Anfrage von EchtJetzt.

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Quelle: Antwortmail des Gesundheitsministeriums vom 14.06.2018 auf eine Anfrage von EchtJetzt.

Aber auch Deutsche profitieren von dem Sozialabkommen mit der Türkei. Ohne das Abkommen müssten Deutsche, die von ihren Arbeitgebern in die Türkei geschickt werden, doppelt Versicherung bezahlen – in Deutschland und in der Türkei. Auch deutsche Touristen, Rentner oder Studierende wären in der Türkei nicht mehr über ihre Kranken- und Unfallversicherung abgesichert.