Faktencheck

Klimawandel: Darum hat Karl Lauterbach vor kälteren Wintern in Europa gewarnt

Karl Lauterbach warnte auf Twitter vor „Kälte im Winter“ und mehr Niederschlägen durch einen Zusammenbruch des Golfstroms. Im Internet wird diese Aussage offenbar als widersprüchlich zum Modell des Klimawandels aufgefasst. Tatsächlich fehlt Lauterbachs Aussage Kontext und er brachte ein paar Begriffe durcheinander. Die Grundaussage stimmt aber.

von Sarah Thust

Karl Lauterbach
Karl Lauterbach sitzt mit seinem Smartphone im Bundestag. In einem seiner Tweets schrieb er, Experten würden mit stärkeren Niederschlägen und Kälte im Winter rechnen, wenn sich der Golfstrom weiter verlangsame. (Symbolbild: Picture Alliance / Flashpic / Jens Krick)
Behauptung
Karl Lauterbach habe vor „Kälte im Winter“ durch den Klimawandel gewarnt.
Bewertung
Fehlender Kontext
Über diese Bewertung
Fehlender Kontext. Lauterbach drückte sich unklar aus. Er bezog sich auf eine wissenschaftliche Simulation der Folgen, wenn das atlantische Strömungssystem AMOC zusammenbräche. Das Modell hat nicht direkt etwas mit dem Klimawandel durch Treibhausgase zu tun.

Karl Lauterbach warne vor „Kälte im Winter“ durch den Klimawandel, heißt es auf der Internetseite Unzensuriert. Ein Nutzer auf Facebook fragte ironisch: „Was kommt als nächstes? Dunkelheit in der Nacht?“ Beide verweisen auf einen Tweet des SPD-Politikers vom 6. August. Lauterbach teilte einen Artikel über den Golfstrom und schrieb: „Wenn der Golfstrom sich noch mehr verlangsamt, könnte dieses System kippen. Die Folgen sind zwar nicht genau klar. Es wird aber mit noch stärkeren Niederschlägen bei uns gerechnet. Dazu Kälte im Winter. Das zeigt, wie wenig Zeit wir noch haben.“ 

Unsere Recherche zeigt: Lauterbach drückte sich ungenau aus. Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass der Tweet unlogisch ist oder dem Klimamodell der Erderwärmung widerspricht. Der Tweet ist größtenteils richtig, es fehlt aber der relevante Kontext.  Lauterbach bezog sich auf Klimaforschung, der zufolge sich die atlantische Umwälzbewegung (AMOC) verlangsamt – das ist nicht dasselbe wie der Golfstrom.

Einige Forschende berechneten: Sollte die AMOC abrupt in einen deutlich schwächeren Zirkulationsmodus fallen, könnte es in Nordeuropa binnen weniger Jahrzehnte deutlich kälter werden – auf der Südhalbkugel wäre es dementsprechend wärmer. Dieser Effekt hätte also nicht direkt etwas mit der Erwärmung der Atmosphäre durch Treibhausgase zu tun. Ob es in der Zukunft zu einem solchen Zusammenbruch kommt, ist unklar.

Tweet von Lauterbach
Dieser Tweet von Karl Lauterbach wird auf Facebook verbreitet (Screenshot vom 8. September: CORRECTIV.Faktencheck)

Lauterbach schreibt vom Golfstrom – gemeint ist aber die atlantische Umwälzbewegung AMOC

Karl Lauterbach teilte auf Twitter einen Bericht der Süddeutschen Zeitung mit dem Titel „Golfstrom könnte vor dem Umkippen stehen“. Darin geht es um einen Artikel von Klimaforscher Niklas Boers, der am Institut für Klimafolgenforschung in Potsdam arbeitet. Er beschäftigte sich in seinem Text aber nicht mit dem Golfstrom, sondern mit der AMOC (Atlantic Meridional Overturning Circulation). Er schrieb darüber, dass sich die Strömung in den letzten Jahrzehnten abgeschwächt habe und wie sich ein möglicher Zusammenbruch vorher erkennen ließe; zum Beispiel durch Messungen der Meeresoberflächentemperatur und des Salzgehalts im Atlantikbecken.

Wir haben Klimaforscher Boers um eine Einordnung zum Tweet von Karl Lauterbach gebeten. Er antwortete uns, die Formulierung vom Golfstrom sei „​​unglücklich“. Gemeint sei die AMOC – die zu einem globalen ozeanischen Strömungssystem gehört. Man könne sich diese Strömung wie ein Wärme-Transportsystem von Süden nach Norden vorstellen, erklärt Boers. Die AMOC werde durch Dichteunterschiede angetrieben, die durch die verschiedenen Temperaturen und den unterschiedlichen Salzgehalt im Wasser entstehen. Der Golfstrom dagegen werde durch Winde angetrieben. Nur ein Teil des erweiterten Golfstroms gehört zur AMOC. 

Das führt laut Boers beispielsweise dazu, dass es den Golfstrom nicht beeinflusse, wenn immer mehr Süßwasser, etwa von schmelzendem Eis auf Grönland, in den Atlantik fließe. Die AMOC werde dadurch jedoch langsamer und verliere an Stabilität.

E-Mail
Auszug aus der E-Mail von Klimaforscher Niklas Boers vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Modell: Wenn die AMOC zusammenbricht, würden Temperaturen in Nordeuropa fallen und auf der Südhalbkugel steigen

Boers schickt uns per E-Mail eine Simulation des britischen Klimawandel-Forschungszentrums Met Office Hadley Centre, die 2015 in der Fachzeitschrift Climate Dynamics veröffentlicht wurde. Er erklärt dazu: „Sollte die AMOC sich nicht nur weiter graduell abschwächen (was sie ohnehin schon seit einer Weile tut), sondern tatsächlich in der Zukunft abrupt vom aktuellen, starken Zirkulationsmodus in den deutlich schwächeren Modus fallen, würde es in Nordeuropa dann wohl tatsächlich binnen weniger Jahrzehnte deutlich kälter werden.“ Das könne zwar die Erderwärmung in Nordeuropa „etwas ausgleichen“, auf der Südhalbkugel würden die Temperaturen aber noch weiter steigen.

Veränderung der Oberflächentemperatur in Grad Celsius
Veränderung der Oberflächentemperatur in Grad Celsius: Laut des Modells des Met Office Hadley Centre könnten die Temperaturen in Nordeuropa um bis zu 10 Grad Celsius fallen, wenn die AMOC abrupt langsamer werden würde. Andere Effekte, wie durch die Erderwärmung, wurden hier nicht einbezogen. (Quelle: Climate Dynamics (2015): „Global and European climate impacts of a slowdown of the AMOC in a high resolution GCM“, Seite 6 / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

In einem Infoblatt des Met Office Hadley Centres von 2019 hieß es auch, dass der Klimawandel im Laufe des 21. Jahrhunderts „die AMOC höchstwahrscheinlich schwächen“ könne. Ein „Stillstand“ sei aber „sehr unwahrscheinlich“. 

Boers: Lauterbachs Aussage über noch stärkere Niederschläge durch AMOC-Kollaps ist nicht korrekt

Boers widerspricht allerdings Lauterbachs Behauptung, dass mit dem Zusammenbruch des Strömungssystems mit „noch stärkeren Niederschlägen bei uns gerechnet“ werde. Das sei nicht korrekt. Laut Boers würde es voraussichtlich durch einen AMOC-Kollaps in Europa weniger regnen. Als Beleg verweist er auf eine weitere Grafik aus dem Artikel von 2015

Veränderung des Niederschlags in Millimeter pro Tag
Veränderung des Niederschlags in Millimeter pro Tag: Laut des Modells des Met Office Hadley Centre könnten die Niederschläge in Nordeuropa durch einen AMOC-Kollaps abnehmen. Andere Effekte wie durch die Erderwärmung wurden hier nicht einbezogen. (Quelle: Climate Dynamics (2015): „Global and European climate impacts of a slowdown of the AMOC in a high resolution GCM“, Seite 6 / Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Solche Simulationen seien mit Unsicherheiten behaftet, sagt Boers, doch es handele sich um ein „sehr gutes Modell“. 

Wichtig ist: Die Simulationen berücksichtigen laut Boers nicht die globale Erwärmung durch Treibhausgase, sondern betrachten nur den isolierten Effekt eines AMOC-Kollapses. Das steht auch in der Arbeit des Met Office Hadley Centres: „Diese Ergebnisse sind eher Simulationen von Auswirkungen als Vorhersagen oder Projektionen, da sie von einem möglichen AMOC-Kollaps im heutigen Klima ausgehen.“ Sollte es in Zukunft wirklich zu so einem Kollaps kommen, würde sich dieser mit dem Anstieg von Treibhausgasen kombinieren. Wie stark die Auswirkungen auf das Klima wären, sei dann abhängig den jeweiligen Umständen und der globalen Erwärmung. 

Klimawandel durch Treibhausgase verstärkt Niederschläge und sorgt für wärmere Winter

Durch den menschengemachten Klimawandel verstärke sich der hydrologische Zyklus (Wasserkreislauf), schreibt Boers. Dadurch gebe es mehr Niederschläge. „Durch diese zunehmenden Niederschläge wird ebenfalls mehr Süßwasser in den Nordatlantik gebracht, was zu einer weiteren Abschwächung der AMOC führt. Dies ist also einer der Gründe für ein Abschwächen / Destabilisieren der AMOC, sicher aber keine Auswirkung eines AMOC-Kollapses.“ 

Richtig sei auch, dass die Winter in Deutschland aktuell durch den Klimawandel wärmer würden. „Regional im nördlichen Europa könnte ein AMOC-Kollaps diesem positiven Trend entgegenwirken, auf der Südhalbkugel würden sich die meisten Gegenden dafür aber umso mehr aufwärmen.“

Redigatur: Steffen Kutzner, Alice Echtermann

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Was ist der Golfstrom? Link
  • Was ist die atlantische Umwälzbewegung? Link
  • Wissenschaftlicher Artikel von Niklas Boers, „Auf Beobachtungen basierende Frühwarnsignale für einen Zusammenbruch der atlantischen meridionalen Umwälzzirkulation“, im Fachmagazin Nature Climate Change (5. August 2021): Link
  • Simulation des britischen Klimawandel-Forschungszentrums Met Office Hadley Centre über „Klimaauswirkungen einer Verlangsamung der AMOC“ (11. März 2015): Download-Link
  • Aktuelleres Infoblatt über die Verlangsamung oder einen Zusammenbruch der AMOC vom Met Office Hadley Centre (September 2019): Link