Warum alte Hitze-Schlagzeilen von 1957, 1975 und 2022 keinen „Klimaschwindel“ beweisen
In Sozialen Netzwerken kursieren drei Medienberichte über Temperaturen in Deutschland, die den Eindruck erwecken, es würde immer kälter werden: Während in einem Artikel von 1957 noch die Rede von 56 Grad war, waren es 1975 nur 40 Grad und 2022 heißt es plötzlich, es habe früher keine Temperaturen „um die 35 Grad“ gegeben. Die Artikel wurden aus dem Kontext gerissen.
„Die jährlich gemessenen Höchsttemperaturen werden immer kälter“, heißt es auf einem Bild in Sozialen Netzwerken. Eine Collage aus drei Schlagzeilen soll einen angeblichen „Klimaschwindel“ beweisen: mehr als 56 Grad im Jahr 1957 und, „40 Grad Hitze“ im Jahr 1975. In einem Artikel von 2022 steht dann: „Temperaturen um die 35 Grad habe es früher nicht gegeben“. Zigtausende Menschen sahen die Beiträge, die auf Facebook, X (ehemals Twitter) und Tiktok kursieren.
Dabei werden zwei entscheidende Dinge außer Acht gelassen: Erstens ist es wissenschaftlich erwiesen, dass sich die Erde erwärmt – laut Weltklimarat um 1,1 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter. Auch in Deutschland steigen laut Umweltbundesamt die Temperaturen im Schnitt langfristig. Zweitens belegen die drei Medienberichte nicht das Gegenteil. Bei den dort genannten Temperaturen geht es nicht, wie behauptet, um gemessene Höchstwerte.
Die globale Durchschnittstemperatur steigt
Desinformation rund um das Thema Klimawandel begegnet uns immer wieder. Sehr häufig werden dabei die Begriffe „Wetter“ und „Klima“ vermischt. Dabei meint erstgenanntes eine Momentaufnahme. Das Klima hingegen „beschreibt den Zustand des Klimasystems über lange Zeiträume“, wie die österreichische Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik auf ihrer Webseite erklärt.
Einzelne sehr heiße oder kalte Tage sind laut Forschenden keine Grundlage, um eine Veränderung des Klimas festzustellen, wie wir bereits in einem Faktencheck über historische Trockenheit an Elbe und Rhein berichteten. Für die Klimaforschung betrachten Forschende unter anderem den langfristigen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur.
Deutschland und die Erde insgesamt werden immer wärmer. Eine Grafik des Deutschen Wetterdienstes (DWD) verdeutlicht das. Sie zeigt Anomalien, also Abweichungen der Temperatur von langjährigen Durchschnittswerten in Deutschland. Betrachtet man die Sommer seit 1881 wird klar, dass die Zahl der heißen Perioden stieg – erkennbar an der gestrichelten Linie, die den Trend anzeigt.
Auch die Tagesmitteltemperatur in Deutschland steigt im Schnitt. Und zwar um etwa 1,7 Grad im Zeitraum von 1881 bis 2021, wie das Umweltbundesamt schreibt. Speziell die Sommer seit 1997 seien besonders warm gewesen. Der wärmste Sommer bislang sei der im Jahr 2003 gewesen, dann folgten 2018, 2019 und 2022.
Der Weltklimarat (IPCC) schreibt in seinem Bericht (PDF) von 2023, die globale Oberflächentemperatur sei in den Jahren 2011 bis 2020 um 1,1 Grad höher gewesen als zwischen 1850 und 1900. Grund dafür seien die Menschen und ihr Handeln.
Jedem der drei Medienberichte in der Collage fehlt Kontext
Es wird also nicht kälter und darauf lassen auch die Medienberichte nicht schließen: Den Schlagzeilen in der Collage fehlt entscheidender Kontext, wie wir bereits in mehreren Faktenchecks nachgewiesen haben.
Am 6. Juli 1957 wurden 56 Grad Celsius im Gehäuse einer Bahnhofsuhr in Wanne-Eickel gemessen (zum Faktencheck) und bei den 40 Grad handelte es sich um eine Wetterprognose für den 10. August 1975, die nicht eintrat (zum Faktencheck). Bei der Schlagzeile des dritten Artikels von Juni 2022 sprach ein Forscher aus Österreich nach eigenen Angaben konkret über den Monat Juni, nicht über generelle Höchsttemperaturen (zum Faktencheck). Im Folgenden haben wir die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst.
Bahnhofsuhr in Wanne-Eickel sagt nichts über die Klimasituation 1957 aus
Die oberste Schlagzeile in der Collage, in der 1957 von 56 Grad berichtet wird, stammt aus der Bild-Zeitung vom 7. Juli 1957, wie diese der AFP bestätigte. Wir haben sie schon einmal in einem Faktencheck geprüft. In anderen Screenshots, die davon verbreitet werden, ist auch der Text zum Titel lesbar – daraus geht hervor, dass die 56 Grad Celsius im Inneren einer Bahnhofsuhr in Wanne-Eickel in Nordrhein-Westfalen gemessen worden seien.
Archivierte Messwerte vom 6. Juli 1957, also dem Tag vor Erscheinen des Bild-Titelblattes, zeigen in ganz Deutschland Tageshöchsttemperaturen unter 40 Grad. Manche Facebook-Nutzerinnen und -Nutzer schreiben in ihren Beiträgen zwar dazu, dass es nur um die Temperaturen in einer Uhr geht – teilen die Collage aber dennoch als angeblichen Beleg dafür, dass es immer kälter werde.
40 Grad im Jahr 1975 waren eine Prognose für Essen, die nicht eintrat
Auch die Schlagzeile über die 40 Grad im Jahr 1975 macht immer wieder in Sozialen Netzwerken die Runde – sie stammt ebenfalls aus der Bild-Zeitung. Für einen früheren Faktencheck bestätigte uns der Axel-Springer-Verlag die Echtheit des Fotos: Es zeige die Bundesausgabe der Bild vom 8. August 1975.
Aus dem zugehörigen Artikel geht hervor, dass es dabei aber nicht um eine gemessene Höchsttemperatur geht, sondern um eine Prognose. „Am Sonntag könnten es 40 Grad im Schatten werden, meint Diplom-Meteorologe Rainer Ripke vom Wetteramt Essen“, steht im Text. Unsere Recherche im Juli 2023 ergab: Die damals prognostizierte Temperatur wurde nicht erreicht.
Diplom-Meteorologe Andreas Friedrich, Pressesprecher beim Deutschen Wetterdienst (DWD), überprüfte für uns die damaligen Temperaturen. Laut ihm wurde am 10. August in Essen ein Höchstwert von 30,8 Grad Celsius gemessen. Die Höchsttemperatur in Essen im August 1975 habe 31,7 Grad betragen (7. August). „Das waren im Vergleich zu heute sehr moderate Temperaturen“, so Friedrich.
40 Grad Celsius Lufttemperatur wurden an der Messstation Essen-Bredeney erstmals am 25. Juli 2019 gemessen.
Meteorologe sprach 2022 über 35 Grad – aber bezogen auf den Monat Juni
Die dritte Schlagzeile, in der es heißt, Temperaturen um die 35 Grad habe es früher nicht gegeben, stammt aus der Oberösterreich-Ausgabe der Kronenzeitung. Dort erschien sie am 17. Juni 2022. In dem Interview mit dem Meteorologen Klaus Reingruber geht es um den Sommer und Wetterextreme.
Reingruber sagt darin: „Und es ist schon so, dass Temperaturen um 34 oder 35 Grad ungewöhnlich sind, das hat es früher nicht gegeben.“ Reingruber schrieb uns jedoch per E-Mail schon für eine frühere Recherche, dass an dieser Stelle Kontext fehlt. Er habe sich auf den Monat Juni bezogen, nicht auf den Sommer insgesamt. Auf Anfrage bei der Krone bestätigte uns der Journalist, der das Interview geführt hat, dass es anfangs um den Monat Juni ging, Reingruber dann aber allgemeiner geworden sei.
Uns gegenüber erklärte Rheingruber Ende Juni 2022: „Selbstverständlich wurden in den Sommermonaten schon öfter 35 Grad und mehr gemessen“. Temperaturen mit Höchstwerten um die 35 Grad im Monat Juni in Oberösterreich habe es aber früher „nur sehr selten“ gegeben.
Fazit: Der rasante Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur seit den 1990er Jahren und seine weltweite Folgen sind umfassend belegt. Die zusammengestellten Zeitungscollagen belegen nicht das Gegenteil. Trockenheit, starker Niederschlag und andere Wetterextreme werden wahrscheinlicher und intensiver, wie wir bereits in mehreren Faktenchecks berichteten.
Redigatur: Sarah Thust, Viktor Marinov