Anfrage an Bundesregierung zu „unerwünschten Ereignissen“ nach der Corona-Impfung wird falsch interpretiert
Ein AfD-Abgeordneter fragte die Bundesregierung nach Daten zu „medizinisch unerwünschten Ereignissen“ der Corona-Impfung im Vergleich zu einem Placebo. Doch seine Frage und die Antwort darauf werden in Sozialen Netzwerken falsch interpretiert – behauptet wird unter anderem, die Regierung habe zugegeben, dass die Impfung keinen Nutzen habe. Darum ging es in der Anfrage aber gar nicht.
Es sind recht unterschiedliche Interpretationen zu einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung, die in Sozialen Netzwerken kursieren. Die einen meinen, die Regierung habe zugegeben, dass sie nicht wisse, ob die Corona-Impfung vor dem Virus schützt. Die anderen meinen, es sei nun klar, dass es keine Belege gebe, dass die Impfung mehr nutze als schade, irgendeinen Nutzen habe oder dass sie die Gesundheit insgesamt verbessere.
Doch keine der Interpretationen stimmt. Tatsächlich sagte die Bundesregierung lediglich, sie habe keine Daten dazu, dass Biontech-Geimpfte weniger „medizinisch unerwünschte Ereignisse“ nach der Impfung hatten, als Personen, die mit einem Placebo (Kochsalzlösung) behandelt wurden. Es geht also um das, was umgangssprachlich manchmal als Nebenwirkung bezeichnet wird. Dass Kochsalz weniger Nebenwirkungen hat als eine echte Impfung, ist jedoch nicht überraschend.
Was genau will Roger Beckamp von der Bundesregierung wissen?
In der Diskussion geht es um eine Kleine Anfrage, die der AfD-Bundestagsabgeordnete Roger Beckamp an die Bundesregierung stellte. Er fragte: „Liegen der Bundesregierung Zahlen aus placebokontrollierten, randomisierten und verblindeten wissenschaftlichen Studien vor, die statistisch signifikant belegen, dass mit der Substanz BNT162b2 (sog. „Comirnaty-COVID-19-Impfstoff“ von „BioNTech/Pfizer“) behandelte Probanden insgesamt unter weniger medizinisch unerwünschten Ereignissen litten als Probanden, die das Placebo (Kochsalzlösung) erhalten haben, und wenn ja, welche sind das, und welchen Datums ist die neueste Auswertung der Zahlen, wobei zu diesem Zeitpunkt die die Kriterien placebokontrolliert, randomisiert und verblindet noch erfüllt waren?“
Gesundheits-Staatssekretär Edgar Franke antwortete darauf am 4. August 2023 knapp mit den Worten: „Nein, derartige Zahlen liegen der Bundesregierung nicht vor.“
Doch was genau fragt Beckamp? Streicht man die weniger relevanten Teile seiner Frage, kommt Folgendes heraus: „Liegen der Bundesregierung Zahlen […] vor, die […] belegen, dass mit […] Comirnaty-COVID-19-Impfstoff […] behandelte Probanden insgesamt unter weniger medizinisch unerwünschten Ereignissen litten, als Probanden, die das Placebo […] erhalten haben […]?“
Was ist ein „medizinisches unerwünschtes Ereignis“?
Es geht also um das, was in der Alltagssprache manchmal als Nebenwirkung bezeichnet wird – nicht um Daten zur Infektionsanfälligkeit, zum Nutzen der Impfung oder zur Auswirkung auf die Gesamtgesundheit.
Der Begriff „Nebenwirkung“ ist allerdings unpräzise. Das MSD Manual schreibt dazu: „Nebenwirkung ist ein unpräziser Begriff, der auf eine ungewollte Arzneimittelwirkung innerhalb des therapeutischen Bereichs hinweist.“
Ein „medizinisch unerwünschten Ereignisses“ ist, so schreibt Susanne Stöcker, Sprecherin des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) auf Anfrag von CORRECTIV.Faktencheck, „ein schädliches Ereignis, das nach oder während des Einsatzes einer medizinischen Intervention, wie zum Beispiel nach der Einnahme eines Medikaments oder wie im vorliegenden Fall nach der Verabreichung eines Impfstoffs eintritt, wobei das Ereignis nicht zwingend kausale Folge der Intervention sein muss“.
Auf diese Definition eines unerwünschten Ereignisses, die auch in einer Bekanntmachung (PFD) des PEI aus 2010 angeführt ist, bezieht sich auf Nachfrage auch AfD-Abgeordneter Beckamp. In diesem Dokument wird das unerwünschte Ereignis zwar in Bezug auf den kausalen Zusammenhang vom Begriff der Nebenwirkung abgegrenzt. Die Begriffe werden dort aber synonym verwendet, wenn es darum geht, dass Nebenwirkungen beziehungsweise unerwünschte Ereignisse bei den entsprechenden Meldebehörden angezeigt werden müssen.
Wie interpretiert Beckamp seine eigene Anfrage?
Beckamp betont gegenüber CORRECTIV.Faktencheck: Nach Nebenwirkungen habe er nicht gefragt, sondern eben nach „medizinisch unerwünschten Ereignissen“ – denn er habe „Verzerrungen“ aufgrund von „Voreingenommenheit“ vorbeugen wollen.
Beckamp spricht im Rest seiner Antwort an CORRECTIV.Faktencheck jedoch wörtlich immer wieder von „Nebenwirkungen“. Denn er erklärt den Sinn seiner Anfrage so: „Vereinfacht dargestellt: Eine gute, wirksame Impfung würde in der geimpften Gruppe zwar zu sehr wenigen und schwachen Nebenwirkungen führen, aber im Gegenzug dann bei vielen Personen den Ausbruch einer (schweren) Krankheit verhindern. In einer ungeimpften Vergleichsgruppe (oder Placebogruppe) träten zwar weniger dieser schwachen und eher harmlosen Nebenwirkungen auf (entweder gar keine oder nur solche nach Gabe von Kochsalzlösung), dafür wären diese Personen der (gefährlichen) Krankheit ausgeliefert, erkranken und versterben daher häufiger.“
Beckamp schreibt weiter: „In einer guten klinischen Studie wäre in den Daten erkennbar, dass weniger gleich schwere und/oder weniger schwerere ‚unerwünschte medizinische Ereignisse‘ in der Wirkstoff-Gruppe auftreten.“
Wie viele medizinische unerwünschte Ereignisse wurden in den klinischen Studien beobachtet?
Das sieht das PEI genau gegenteilig. Würde es solche Daten geben, wäre das laut PEI sogar überraschend. „Denn die Impfung soll ja das Immunsystem anregen, was sich durch leichtes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, Unwohlsein und ähnliche allgemeine Symptome äußern kann“, schreibt die Sprecherin. Naturgemäß seien solche Reaktionen nach der Injektion von Kochsalzlösung als Placebo weniger oder gar nicht zu erwarten.
So bestätigt das auf Anfrage auch Sören Haberlandt, Pressereferent im Bundesgesundheitsministerium. Er schreibt, solche Studienergebnisse wären „unüblich“. Er führt auch die knappe Antwort auf die Kleine Anfrage weiter aus: „Das positive Nutzen-Risiko-Verhältnis des Impfstoffs wird durch die Studien belegt und im Rahmen der bestehenden Zulassung weiterhin überprüft. Bei keiner dieser Studien wurden in der Wirkstoffgruppe summarisch weniger unerwünschte Ereignisse als in der Placebogruppe beobachtet.“
Genaue Zahlen dazu stehen in der klinischen Studie, die Biontech im Dezember 2020 im New England Journal of Medicine vor der Zulassung veröffentlichte. Demnach hätten 27 Prozent der Impfstoff-Empfänger und 12 Prozent der Placebo-Empfänger ein unerwünschtes Ereignis gemeldet. Bei einzelnen Ereignissen war diese Diskrepanz größer, so hätten 64 Impfstoff-Empfänger und nur sechs Placebo-Empfänger etwa von einer Lymphknotenschwellung berichtet.
Was ist an den Behauptungen über den Nutzen der Corona-Impfungen dran?
Die Kleine Anfrage und die Antwort der Bundesregierung wurden also falsch interpretiert. Doch was ist unabhängig davon an den kursierenden Behauptungen dran?
1. Es würden keine Daten vorliegen, die beweisen, dass Geimpfte sich weniger mit Corona infizieren als Ungeimpfte.
Das behauptete Max Otte, Ex-Chef der Werteunion und ehemaliger Bundespräsidentschaftskandidat der AfD, mit Bezug auf die Anfrage. Tatsächlich würde auch eine Corona-Infektion als unerwünschtes Ereignis gelten, wie PEI-Sprecherin Susanne Stöcker bestätigt. Doch danach wurde in der Anfrage nicht gefragt, sondern nach der reinen Summe an unerwünschten Ereignissen. Diese umfassen auch viele andere Ereignisse, etwa andere Erkrankungen, oder Reaktionen wie Fieber oder Gliederschmerzen.
Abgesehen davon geht es bei der Impfung gar nicht primär darum, dass sie vor einer Ansteckung schützt, sondern um den Schutz vor einem schweren Krankheitsverlauf. Dieser Schutz wurde in den klinischen Studien der Corona-Impfungen nachgewiesen: Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) erklärte am 21. Dezember 2020, dem Tag, an dem sie die bedingte Zulassung für die EU empfahl: „Die Studie zeigte eine 95-prozentige Verringerung der Zahl der symptomatischen Covid-19-Fälle.“ Je nach Variante nahm die Schutzwirkung allerdings ab, eine Auffrischung oder eine durchgemachte Infektion verstärkten sie. Laut RKI liegt die Schutzwirkung von zwei Impfdosen und einer Infektion bei 97,4 Prozent.
Doch die Impfung schützt laut Fachleuten auch bis zu einem gewissen Grad vor einer Infektion. Das Robert-Koch-Institut schreibt dazu mit Bezug auf ein Systematic Review aus Mai 2022, Impfungen wie jene von Biontech würden „einen zunächst moderaten bis geringen Schutz vor einer symptomlosen und milden Infektion mit der Omikron-Variante“ bieten, „der mit der Zeit abnimmt“. Eine Auffrischungsimpfung, so heißt es in dem Review, könne diesen Schutz verbessern.
Auf eine Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck antwortete Otte bisher nicht (Stand 15. November).
2. Es gebe keine Beweise, dass die Impfung von Biontech mehr nützt als schadet.
Der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg, der schon mehrfach mit Desinformation zum Coronavirus auffiel, interpretiert die Anfrage auf X ebenfalls falsch. Er glaubt, dass die Regierung zugegeben habe, dass sie nicht wisse, ob die Impfung mehr nützt als schadet. Das stimmt nicht, nach dem Nutzen der Impfung wurde gar nicht gefragt.
Das PEI erklärt dazu: Nur, wenn der Nutzen eines Medikaments oder einer Impfung mögliche Risiken überwiegt, würden sie auch zugelassen. Angaben des Robert-Koch-Instituts und der österreichischen Agentur für Gesundheits- und Ernährungssicherheit bestätigten das.
Die Cochrane-Stiftung untersuchte die Wirksamkeit und Sicherheit mehrerer Covid-19-Impfstoffe, darunter jenen von Biontech, in einer Metaanalyse von 41 Studien. Die Forschenden kommen zu dem Schluss: Die meisten der untersuchten Impfungen verringern symptomatische Corona-Erkrankungen – das zeige sich im Vergleich mit den Placebo-Gruppen. Für den Impfstoff von Biontech gelte das „mit hoher Sicherheit“. Bei den schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen gab es hingegen nur einen geringen oder gar keinen Unterschied zwischen der Gruppe der Geimpften und der Kontrollgruppe.
Homburg betont in seiner Antwort an CORRECTIV.Faktencheck: Es sei in der Anfrage nicht um Nebenwirkungen, sondern um „insgesamt“ weniger „medizinisch unerwünschte Ereignisse“ gegangen. „Dabei gehört zu den unerwünschten Ereignissen fraglos auch die Viruserkrankung selbst“. Das ist richtig, greift aber zu kurz, wie im vorherigen Abschnitt ausgeführt ist.
Zudem schreibt Homburg: „Im Hinblick auf das Wohlergehen der Bevölkerung kommt es darauf an, ob die Impfung mehr nutzt als schadet.“ Damit unterstellt er, das sei bei der Impfung nicht der Fall und übersieht so, dass die Impfungen gegen schwere Verläufe und nicht gegen Ansteckungen mit dem Coronavirus schützen sollten.
3. Es gebe keine Belege, dass die Impfung die Gesundheit insgesamt verbessert.
Selbst der AfD-Abgeordnete Roger Beckamp, der die Kleine Anfrage an die Bundesregierung stellte, gibt diese falsch wieder. Er behauptet auf Facebook, der Bundesregierung lägen keine Daten vor, dass die Impfung die Gesundheit insgesamt verbessert – doch danach hatte er gar nicht gefragt. Auf Nachfrage argumentierte er: Hätte die Impfung weniger oder gleich viele Nebenwirkungen wie ein Placebo und gleichzeitig eine Wirkung, dann würde das „selbstverständlich“ die Gesundheit verbessern.
Warum das ungewöhnlich wäre, ist oben bereits ausgeführt. Abgesehen davon kann aus den „unerwünschten Ereignissen“, nach denen Beckamp fragte, nicht die Wirkung der Impfung abgeleitet werden – und damit auch keine etwaige Verbesserung der Gesundheit in dem Sinne, wie er sie schildert.
Es ist auch gar nicht das Ziel einer Impfung, die Gesundheit insgesamt zu verbessern. Ziel von allen Impfungen ist es, vor spezifischen ansteckenden Krankheiten zu schützen. So schreiben es das Robert-Koch-Institut, das IQWiG, das Bundesgesundheitsministerium und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Das PEI schrieb uns dazu: „Die oben formulierten Behauptungen sind falsch beziehungsweise fordern etwas, was nicht möglich ist. Bei keiner Impfung“.
Es stimmt auch nicht, wie Beckamp schreibt, dass es solche Daten zur „Gesundheit insgesamt“ bräuchte, damit eine Impfung empfohlen wird. Das ist etwa auf der Webseite der Ständigen Impfkommission ersichtlich.
Beckamp verweist in seinem Facebook-Beitrag und in seiner Mailantwort auch auf den Anhang einer Studie, die im November 2021 im New England Journal of Medicine erschienen ist. Das zentrale Studienergebnis: Der Covid-19-Impfstoff weise ein „günstiges Sicherheitsprofil auf und war bei der Prävention von Covid-19 hochwirksam“.
Fazit: Die Bundesregierung schrieb in der Antwort auf eine Kleine Anfrage, sie habe keine Studien, die belegen, dass Corona-Impfungen weniger „medizinisch unerwünschte Ereignisse“ verursachen würden als Placebo-Impfungen. Das ist auch nicht überraschend: Bei Geimpften treten naturgemäß häufiger unerwünschte medizinische Ereignisse auf, als in der Kontrollgruppe.
Die Anfrage wird in Sozialen Medien falsch interpretiert – einige Nutzer glauben fälschlicherweise, es gehe in der Anfrage um den Nutzen oder die Wirkung der Impfung. Studien belegen, dass die Corona-Impfung vor schweren Verläufen schützt – und damit wirkt und nützt.
Redigatur: Steffen Kutzner, Matthias Bau
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Drucksache der Bundesregierung, 4. August 2023: Link (PDF, archiviert)
- Definition eines unerwünschten Ereignisses, Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen: Link (Archiviert)
- Information des Robert-Koch-Instituts zur Wirksamkeit von Impfungen, 20. September 2023: Link (Archiviert)
- Studie zur Wirksamkeit der Impfung gegen milde Verläufe: Facing the Omicron variant – How well do vaccines protect against mild and severe COVID-19? Third interim analysis of a living systematic review, In: Frontiers in Immunology, 27. Mai 2022: Link
- Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen, Agentur für Gesundheits und Ernährungssicherheit: Link (Archiviert)
- Wirksamkeit und Sicherheit von COVID‐19‐Impfstoffen, Cochrane Institut, 7. Dezember 2022: Link (Englisch)
- Robert-Koch-Institut zu Nutzen und Risiko von Impfungen: Link
- Zulassungsstudie von Biontech: Safety and Efficacy of the BNT162b2 mRNA Covid-19 Vaccine, In: New England Journal of Medicine, 31. Dezember 2020 (Link)
- Interaktive Grafik der Ständigen Impfkommission: Wie Impfempfehlungen zustande kommen: Link