Hintergrund

Demo-Video aus Berlin: Wie Sounds auf Tiktok und Instagram Wegbereiter für Desinformation werden können

Millionenfach gesehen, breit diskutiert: Ein Video zeigt eine Demonstration gegen Rechtsextremismus und die AfD in Berlin, der Ton dazu stammt aber von Demonstrierenden in Leipzig. Der Fall zeigt, wie schnell Audiodateien auf Tiktok und Instagram aus dem Kontext gerissen werden und der Glaubwürdigkeit schaden können.

von Kimberly Nicolaus

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Die SPD-Bundestagsfraktion fügte den Ton in diesem Video nachträglich hinzu. Sie nutzte dafür ein sogenanntes „Trending Audio“ auf Tiktok. (Quelle: Tiktok; Screenshot und Collage: CORRECTIV.Faktencheck)

Ein Video der SPD-Bundestagsfraktion erreichte auf Tiktok mehr als vier Millionen Aufrufe: Es zeigt zehntausende Menschen bei Dunkelheit und ein Lichtermeer vor dem Bundestag in Berlin. Dazu erklingt der Gesang: „Wehrt euch, leistet Widerstand gegen den Faschismus hier im Land. Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden.“ 

Die Menschen demonstrierten am 21. Januar 2024 gegen Rechtsextremismus und die AfD – doch der Gesang, den man hört, stammt nicht aus Berlin.

Viele Nutzerinnen und Nutzer verbreiteten das Video der SPD in anderen Sozialen Netzwerken weiter, darunter die Aktivisten- und Künstlergruppe Zentrum für Politische Schönheit. Sie lud das Video aus Berlin mit der Tonspur aus Leipzig am selben Tag auf Instagram und X hoch und entfachte damit eine Diskussion im Netz. Inzwischen hat das Video allein auf Instagram fast neun Millionen Views. 

Der Fall zeigt eine Problematik von Tiktok und Instagram, wo Nutzerinnen und Nutzer den Originalton von Videos mit einem Klick entfernen und durch einen anderen ersetzen können. Solche „Trending Audios“ verhelfen zu größerer Reichweite, doch sie können auch den Weg für Manipulationen ebnen.

SPD-Bundestagsfraktion und Zentrum für Politische Schönheit verbreiten Video mit falscher Tonspur

Aufnahmen bestätigen zwar, dass der Slogan, der im Video zu hören ist, zu einem anderen Zeitpunkt während der Demonstration in Berlin gesungen wurde. Das teilten CORRECTIV.Faktencheck auch die Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion und das Zentrum für Politische Schönheit mit. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass das Video den Moment verfälscht darstellt. 

Auf Anfrage schickte uns die SPD-Bundestagsfraktion das Originalvideo, es wurde aus dem Paul-Löbe-Haus aufgenommen. Zu hören sind darin die Geräusche einer Tür und ab Sekunde 26 rufen einige Demonstrierende: „Ganz Berlin hasst die AfD.“ Hier der Original-Sound:

Ein Hinweis darauf, dass dem Video nachträglich ein anderer Ton hinzugefügt wurde, war auf Tiktok anfangs nicht zwingend auf den ersten Blick sichtbar. Nur wer das 45 Sekunden lange Video bis zum Ende sah, merkte vielleicht, dass ab Sekunde 26 der Ton plötzlich verstummt.

Ein Tiktok-Video der SPD-Bundestagsfraktion veröffentlichte das Zentrum für Politische Schönheit auf Instagram.
Das Zentrum für Politische Schönheit (rechts) veröffentlichte dasselbe Video mit einer falschen Tonspur auf Instagram wie die SPD-Bundestagsfraktion (links) auf Tiktok unter Verwendung eines sogenannten „Trending Audios“ (grüne Markierung) (Quelle: Tiktok / Instagram; Screenshot, Markierung und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Videos von Demonstration in Berlin: Hinweise auf geänderte Tonspur folgten teilweise verspätet

In der Tiktok-App sieht man rechts unter dem Video der SPD-Fraktion eine Audiodatei verlinkt, ein sogenanntes „Trending Audio“. Beim Klick darauf erfährt man: Der Ton stammt aus einem anderen Video – von einer Demonstration gegen Rechtsextremismus in Leipzig. Das wurde bereits Tage zuvor veröffentlicht, am 15. Januar 2024. Dass der Ton aus Leipzig stammt, zeigt auch ein Video der Leipziger Volkszeitung, in dem derselbe Sprechchor hörbar ist.

Über die Audiospur des Tiktok-Videos findet man das Originalvideo.
Mit Klick auf die verlinkte Audiodatei (grün) erfährt man, dass der Ton des SPD-Videos aus einem anderen Video stammt (gelb) – von der Demonstration gegen Rechtsextremismus in Leipzig am 15. Januar 2024 (Quelle: Tiktok; Screenshots, Markierungen und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion schrieb uns auf Nachfrage: Um Missverständnissen vorzubeugen, habe das Social-Media-Team „direkt nach Veröffentlichung“ das Video auf Tiktok mit einem Transparenz-Hinweis kommentiert. Das stimmt – in der Kommentarspalte steht: „Wir benutzen ein Trending Audio – es ist nicht der Originalsound der Demo in Berlin.“ Später wurde derselbe Hinweis auch in der Videobeschreibung ergänzt, wo er leichter sichtbar ist.

Ein Kommentar der SPD-Bundestagsfraktion auf Tiktok.
Die SPD-Fraktion fügte ihrem Tiktok-Video einen Transparenz-Hinweis in der Kommentarspalte hinzu (Quelle: Tiktok; Screenshot und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Wie der Journalist Tilo Jung in seiner Instagram-Story und auf X am 22. Januar berichtete, fehlte ein solcher Hinweis im Video des Zentrums für Politische Schönheit auf Instagram. Das Video sei „audiomäßig eine Fälschung“, schrieb Jung. Erst seit dem Abend des 25. Januar, also vier Tage nach der Veröffentlichung, ergänzte das Zentrum einen Hinweis in der Videobeschreibung auf Instagram. 

Das Zentrum für Politische Schönheit antwortete uns auf Nachfrage: „Der Vorwurf [Anm. d. Red.: von Tilo Jung] zeugt von einem sehr unreflektierten Umgang mit Videos: Machen die Einblender in Jungs Videokanal seine Videos zu ‚Fälschungen‘? Wie oft liegt Musik unter Videos – sogar im ‚heute journal‘? Warum macht eine Musikspur diese Videos nicht zu ‚Fälschungen‘?“

Doch so banal ist der Fall nicht, wie Kommentare von manchen Nutzerinnen und Nutzern zeigen: „Was soll denn das? Wer immer die Demos diskreditieren will, wird diesen Fake nur zu gerne ausschlachten“, schreibt einer auf X. „Es ist nicht schlau, die Videos so zu manipulieren, wenn eh schon davon die Rede ist, dass Clips und Fotos gefaked sind. Auf Mastodon wurde sofort der ganze Clip infrage gestellt“, kommentiert ein anderer auf Instagram.

Zusätzlich verbreitet das Zentrum für Politische Schönheit mit ihrem Hinweis auf Instagram eine Falschbehauptung: Die SPD-Bundestagsfraktion habe eine andere Musik verwendet, „um eine Besprechung zu kaschieren, in der es darum ging, wie und wann die AfD genau verboten wird“. Dahinter soll scheinbar Satire stecken, denn das Zentrum verlinkt dazu auf seine Webseite, die mit einem vermeintlichen Video von Bundeskanzler Olaf Scholz ein AfD-Verbotsverfahren fordert. Weder der Bundeskanzler noch die SPD haben mit dieser Seite etwas zu tun. Wie die Deutsche Presse-Agentur Ende November 2023 berichtete, steckt dahinter eine Kunstaktion, das Video zeigt einen Deepfake einer Rede von Scholz.

„Trending Audios“ bergen die Gefahr der Verbreitung von Desinformation

Neben dem Video der SPD-Bundestagsfraktion kursieren über eintausend andere Videos mit der „Wehrt euch, leistet Widerstand“-Audio der Demonstration in Leipzig auf Tiktok. Bei Instagram sind es mehr als hundert. Manche zeigen dasselbe Video der Demonstration in Berlin, andere aber auch Bilder von Demonstrationen aus Köln, Frankfurt oder Hannover.

Mehrere Tiktok-Videos mit derselben Tonspur.
Mit Klick auf die verlinkte Audiodatei (grün) erfährt man, dass der Ton des SPD-Videos aus einem anderen Video stammt (gelb) – von der Demonstration gegen Rechtsextremismus in Leipzig am 15. Januar 2024 (Quelle: Tiktok; Screenshots, Markierungen und Unkenntlichmachung: CORRECTIV.Faktencheck)

Darunter Kommentare, die aufgrund der falschen Tonspur die Demonstrationen infrage stellen: „Überall die gleichen Bilder überall das gleiche Lied. Ist das Hollywood?“ Oder: „Die Musik wurde rübergespielt [...] man will uns schon wieder verarschen.“ Ein „Trending Audio“ anstelle des Originaltons zu verwenden, bezeichnete die Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion uns gegenüber als „gängige Praxis bei Tiktok-Songs“. Doch diese „gängige Praxis“ birgt offensichtlich Gefahren für die Glaubwürdigkeit.

Funktionen von Tiktok und Instagram machen es einfach, irreführende Inhalte zu verbreiten

Zudem können verschiedene Funktionen bei Tiktok und Instagram die einfache Erstellung irreführender Inhalte oder von Falschinformationen begünstigen, wie ähnliche Fälle zeigen, die wir bereits überprüften. 

Dabei handelte es sich oft um sogenannte Duette oder Stitches. Mit der Duett-Funktion können Tiktok-Videos anderer Seite an Seite mit einem eigenen Video veröffentlicht werden, mit der Stitch-Funktion können Videos anderer in das eigene Video eingefügt werden. So verbreitete sich im November 2022 zum Beispiel die Falschbehauptung, dass der Bundestag einen Solidaritätszuschlag für Ukrainerinnen und Ukrainer plane. Dass der Ersteller das Video ursprünglich mit Hashtag „Satire“ kennzeichnete, fiel bei weiteren Veröffentlichungen unter den Tisch. Im Oktober 2022 und im April 2023 kursierten in ähnlichem Stil Falschmeldungen zu angeblichen Hotel-Umbauten oder gezahlten Boni für ukrainische Geflüchtete.  

Wie wirksam die Nutzung manipulierter Audiospuren sein kann, um Verwirrung zu stiften, zeigten in der Vergangenheit auch weitere Beispiele. So zeigt ein im November 2023 veröffentlichtes Tiktok-Video, wie die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel in einer Pressekonferenz angeblich Arabisch spricht. Zwar markierte der Ersteller das Video mit dem Hashtag „KI“ (Künstliche Intelligenz), doch einige verbreiteten das Video ohne diesen Hinweis weiter. Videos, die eine manipulierte Tonspur trugen diskreditierten in der Vergangenheit unter anderem US-Präsident Joe Biden, Sportjournalist Cornelius Küpper, Biontech-Gründer Uğur Şahin, Bundesvorsitzende der Grünen Ricarda Lang und Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, wie wir berichteten. 

Redigatur: Sarah Thust, Uschi Jonas