Hintergrund

Pathologin schürt Angst vor „Turbokrebs“ durch Corona-Impfstoffe in der Berliner Zeitung

„Ein Experiment an uns Menschen“ und „nicht ausreichend getestet“, das schreibt die Ärztin Ute Krüger über Corona-Impfstoffe in der Berliner Zeitung. Doch ihr Text hält einer inhaltlichen Prüfung nicht stand. Krüger argumentiert mit anekdotischen Aussagen, falsch interpretierten Studien und unwissenschaftlichen Belegen.

von Matthias Bau , Viktor Marinov , Kimberly Nicolaus , Sarah Thust

berliner-zeitung-ute-krüger-pathologin-corona-mrna-impfstoffe
Pathologin Ute Krüger veröffentlichte in der Berliner Zeitung im Oktober 2024 eine Warnung vor den mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19. Ihre Argumente dazu sind jedoch haltlos. (Quelle: Markus Scholz / DPA / Picture Alliance)

Eine Ärztin warnt in der Berliner Zeitung am 2. Oktober 2024 vor einem „Turbokrebs“, der angeblich nach Impfungen mit den mRNA-Impfstoffen gegen Covid-19 auftritt. Sie heißt Ute Krüger und veröffentlichte ihren Artikel in der Rubrik „Open Source“. Dort kann jeder Texte einreichen. Sie hat offenbar – wie für die Kategorie üblich – ein Honorar bekommen. 

Der Text verbreitete sich rasant in Sozialen Netzwerken. Allein der X-Beitrag der Berliner Zeitung dazu wurde über 1.500 Mal geteilt. Was folgte, waren tausende weitere Shares auf Facebook und X, darunter Beiträge auf Englisch, Französisch, Portugiesisch, und Tschechisch. Auf Telegram erreichte der Artikel bislang über 200.000 Ansichten. Dutzende Leserinnen und Leser baten CORRECTIV.Faktencheck um eine Einschätzung des Inhalts.

Dieser Artikel von Ute Krüger verbreitet sich stark in Sozialen Netzwerken (Quelle: Facebook; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
Dieser Artikel von Ute Krüger verbreitet sich stark in Sozialen Netzwerken (Quelle: Facebook; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

In ihrem Artikel bringt Ute Krüger mehrere Dinge ins Spiel: Neben „Turbokrebs“ spricht sie unter anderem von einer „ungeklärten Übersterblichkeit“, neurologischen Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen, um mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 als gesundheitsgefährdend darzustellen.

CORRECTIV.Faktencheck sprach mit Fachleuten, um Krügers Kernaussagen einzuordnen. Das Ergebnis der Recherche: Sie führt nur Belege an, die ihrer eigenen Argumentation dienen oder unwissenschaftlich sind, andere interpretiert sie falsch oder lässt sie unter den Tisch fallen. Expertinnen und Experten sehen keinen Zusammenhang zwischen Impfungen gegen Covid-19 und Krebserkrankungen. Auch ihre Behauptungen zu Übersterblichkeit,  Autoimmunerkrankungen und der Zulassung der Covid-19-Impfstoffe sind unbelegt oder teilweise falsch.

Auf die Bitte um Stellungnahme zu diesen Recherchen reagierte Ute Krüger bis zur Veröffentlichung nicht. Statt unsere Fragen zu beantworten, verwies sie uns am 25. November lediglich auf Interviews mit ihr, ohne diese näher zu spezifizieren und auf ihr Buch „geimpft – gestorben“.

Auch die Berliner Zeitung fand eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Krügers Text offenbar nötig, denn sie veröffentlichte knapp zwei Wochen nach Krügers Text einen Artikel, der die These vom „Turbokrebs“ kritisch beleuchtet. Zum Umgang der Berliner Zeitung mit Krügers Text später mehr.

Inhaltsverzeichnis

 

1. Behauptung: Impfungen könnten zu „Turbokrebs“ bei Brustkrebspatientinnen führen

„Turbokrebs“ ist kein Begriff, der in der Wissenschaft benutzt wird; er beschreibt keine anerkannte Diagnose und kein anerkanntes Krankheitsbild. Krüger nutzt ihn, um das zu beschreiben, was sie seit Herbst 2021 bei Brustkrebspatientinnen im Krankenhaus in Kalmar, einer kleinen Stadt in Schweden, beobachtet habe: „Aggressiv wachsende Tumore und somit größere Tumore“ bei einzelnen Patientinnen und Patienten. 

Andere Patientinnen, die bereits von Krebs geheilt gewesen seien, hätten mit Rückfällen mit „aggressivem Tumorwachstum mit sehr rascher Tumorstreuung im ganzen Körper“ zu kämpfen gehabt, beschreibt sie ihre Beobachtungen. Das sei „wiederholt wenige Monate nach der Corona-Impfung“ aufgetreten. 

Krügers Beobachtungen lassen sich nur schwer überprüfen. In ihrem Artikel schreibt sie, sie habe „zahlreiche Fälle“ an die schwedische Arzneimittelbehörde gemeldet. Die schreibt auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck zwar, sie habe Berichte erhalten, man habe aber, ebenso wie die zuständigen EU-Institutionen keine Verbindungen zwischen den mRNA-Impfungen gegen Covid-19 und der Entwicklung von Krebs feststellen können.

CORRECTIV.Faktencheck wollte vom Leiter der klinischen Pathologie des Krankenhauses in Kalmar und Krügers damaligem Vorgesetzten, Tomasz Gorecki, wissen, ob er Krügers Beobachtungen bestätigen kann. Gorecki schrieb CORRECTIV.Faktencheck, es gebe keine ausreichenden wissenschaftlich geprüften Daten, die Krügers Beobachtungen belegen würden.

Ute Krüger arbeitet als Ärztin und Pathologin in Schweden

Ute Krüger hat ihre Approbation in Berlin erhalten ist seit 2005 in Schweden als Ärztin zugelassen. In ihrem Artikel bezieht sie sich auf ihre Arbeit in der klinischen Pathologie des Landeskrankenhauses Kalmar und am Institut für Klinische Wissenschaften der Universität in Lund. Dort war sie laut eigener Angabe acht Jahre – bis 2023 – und hatte auch mit Brustkrebs-Patientinnen zu tun. Dass Krüger dort gearbeitet hat, bestätigten beide Häuser auf Nachfrage von CORRECTIV.Faktencheck. Inzwischen leitet die Ärztin eine Praxis in Vederslöv in Südschweden und bietet Dienste als Pathologin an.

Auf ihrer Website beschreibt Krüger, dass sich ihr Blick auf die westliche Medizin durch eine eigene Krankheit verändert habe. Auch dazu hat sie CORRECTIV.Faktencheck kontaktiert, aber keine Antwort bekommen.

In renommierten Fachzeitschriften, die Berichte nach festgelegten Kriterien auswählen, ist bisher kein Text von Ute Krüger zu angeblichen Impffolgen erschienen (Stand: 18. November 2024). Bei Research Gate, einem Sozialen Netzwerk für Forschende, hat sie bisher 21 Artikel zum Thema Krebs veröffentlicht, in einem davon geht es um einen verstorbenen Krebspatienten, der nach zweifacher Covid-19-Impfung neurologisch und rheumatisch erkrankt sei. Doch dieser Fallbericht legt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Corona-Impfung und einer neurologischen Erkrankung nahe. Die Details lesen Sie später in diesem Text.

Keine wissenschaftlichen Hinweise, dass mRNA-Impfstoffe Auftreten oder Intensität von Brustkrebs verändern

Berichte über „Turbokrebs“ – nicht nur im Zusammenhang mit Brustkrebs – werden seit der Corona-Pandemie vor allem in der Querdenken-Szene verbreitet

Die AFP widerlegte angebliche Zusammenhänge zwischen Krebs und mRNA-Impfstoffen in diesem Jahr bereits in drei Artikeln (hier, hier und hier). Aber auch die Faktencheck-Redaktionen Fullfact aus Großbritannien sowie Snopes und Factcheck.org aus den USA widerlegten entsprechende Behauptungen, ebenso wie die Deutsche Presse-Agentur, der Bayerische Rundfunk und der Faktenfinder der Tagesschau. Alle Artikel kommen zu dem gleichen Schluss: Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise dafür, dass Covid-19-Impfstoffe Brustkrebs oder andere Krebsarten verursachen, das Risiko dafür erhöhen, oder dessen Wachstum beschleunigen. 

Wolfgang Janni, Direktor der Frauenklinik am Universitätsklinikum Ulm und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft, bestätigt das in einer E-Mail an CORRECTIV.Faktencheck: „Es gibt keinen wissenschaftlichen Anhalt für das häufigere Auftreten von Brustkrebs oder eine Veränderung der Eigenschaften von Brustkrebs durch die Covid-Pandemie oder deren Bekämpfung durch die Impfung mit mRNA-Impfstoffen.“ 

Deswegen empfehlen auch Fachgesellschaften Krebserkrankten eine Impfung gegen Covid-19, wie auf der Webseite des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) zu lesen ist. Es gebe keine Hinweise darauf, „dass die bislang zugelassenen Corona-Impfstoffe die Krebsentstehung fördern oder den Verlauf einer Krebserkrankung negativ beeinflussen“. Auch dafür, dass Krebspatientinnen und Krebspatienten nach einer Impfung mehr Nebenwirkungen hätten, gebe es keine Belege.

Krüger bezieht sich auf Einzelfälle und unwissenschaftliche Belege

Janni weist zudem darauf hin, dass Ute Krüger sich nicht auf wissenschaftliche Belege, sondern nur ihre eigenen Beobachtungen berufe: „Einzelfallbeobachtungen, wie die von Frau Krüger, sind nicht geeignet, Häufigkeiten und systematische Veränderungen einzuschätzen.“ 

Keine Hinweise für systematische Veränderungen zeigen auch die Daten des Zentrums für Krebsregisterdaten beim Robert-Koch-Institut (RKI). Diese zeigen (Stand 24. Oktober 2024), dass die Zahl der Brustkrebsfälle in Deutschland seit zehn Jahren gleichbleibend ist. Zwischen 2012 und 2022 lag sie zwischen rund 72.600 und 75.600 Fällen.

Daten über Brustkrebsfälle in Deutschland passen nicht zu Krügers Fallbeschreibungen

Klaus Kraywinkel, Leiter des Zentrums für Krebsregisterdaten, hat CORRECTIV.Faktencheck eine ausführlichere Auswertung der Brustkrebsfälle für die Jahre 2018 bis 2022 zur Verfügung gestellt. Darin enthalten sind auch Zahlen zur Größe der gemeldeten Tumore. Die Auswertung zeigt, dass Tumore der Klasse „T4“, also die größten Tumore, vor der Pandemie sogar etwas häufiger gemeldet wurden, als während der Pandemie. Waren es in den Jahren 2018 und 2019 noch 3.905 und 4.056 Fälle, wurden 2021 und 2022 „nur“ 3.819 beziehungsweise 3.762 Fälle gemeldet. Auch bei den Tumorklassen T1 bis T3 ist diese Tendenz zu sehen.

Dafür, dass Tumore plötzlich besonders schnell wachsen würden, gibt es in den Daten ebenfalls keine Anzeichen. Tumore, die besonders bösartig sind, sind laut der Krebsgesellschaft dadurch gekennzeichnet, dass sie dem umgebenden Gewebe nicht mehr ähneln. Solche Tumore können schneller wachsen, schneller Metastasen bilden und schneller wiederkehren. Während der Pandemie traten sie laut den Krebsregisterdaten jedoch nicht häufiger auf.

So lag der Anteil der Frauen mit einem schlecht ausdifferenzierten – also besonders bösartigen – Tumor in den Jahren 2018 bis 2020 jeweils bei gut 29 Prozent aller Brustkrebspatientinnen. 2021 und 2022 ging er sogar geringfügig zurück, auf knapp über 28 Prozent. Eine schlechte Ausdifferenzierung könnte ein Indikator für ein besonders aggressives Wachstum sein. Bisher auch hier: Entwarnung.

Zur Entwicklung der Krebszahlen während der Pandemie sagt Kraywinkel: „Es gab wahrscheinlich zumindest in der ersten Welle Verzögerungen bei der Diagnose von Krebserkrankungen, auch in Deutschland. Mögliche Gründe sind abgesagte oder nicht wahrgenommene Früherkennungsuntersuchungen (das Mammographiescreening war einige Wochen ausgesetzt), aber auch Verzögerungen bei der Abklärung von Symptomen (Vermeidung von Arztbesuchen, Verzögerungen bei der diagnostischen Abklärung).“ Noch sei man aber dabei, die Auswirkungen der Pandemie mit verschiedenen Datenquellen zu untersuchen.

2. Behauptung: „Studie“ über Krebsfälle in Großbritannien belege Zusammenhang mit mRNA-Impfungen

Als Beleg für ihre Vermutung, dass zwischen den mRNA-Impfungen und „Turbokrebs“ ein Zusammenhang bestehe, führt Krüger neben eigenen Beobachtungen eine „Studie“ aus Großbritannien an, die gezeigt habe, dass es dort zu einem dramatischen Anstieg verschiedener Krebsarten in Zusammenhang mit Covid-19-Impfstoffen gekommen sei. 

Zu der „Studie“ sagt Wolfgang Janni, es handele sich nicht um eine zitierfähige Publikation in einem Peer-Reviewed-Journal. Das heißt, andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Publikation vor ihrer Veröffentlichung nicht systematisch beurteilt. „Die wissenschaftliche Verlässlichkeit kann deshalb nicht ausreichend eingeschätzt werden“, so Janni.

Erstellt wurde die „Studie“ von Carlos Alegria von Phinance Technologies, einer Investmentfirma, die sich selbst als Gruppe „kritischer Denker“ bezeichnet, die mit datengetriebenen Recherchen arbeite. Die Firma fiel bereits im März 2023 mit Desinformation über angebliche Impfschäden und Übersterblichkeit auf. Alegria selbst hat zudem keine medizinische Ausbildung, sondern Physik und Finanzmanagement studiert.

CORRECTIV.Faktencheck hat sich die „Studie“ genauer angesehen. Sie bezieht sich auf Daten der Statistikbehörde der britischen Regierung. Die Daten geben Todesfälle in England und Wales unter Angabe der Altersgruppe und der Todesursache wieder. Anders als von Krüger und Alegria suggeriert, lässt sich aber alleine schon deshalb kein Zusammenhang mit Covid-19-Impfstoffen und Krebsfällen ableiten, weil die Daten der Behörde den Impfstatus der Verstorbenen gar nicht beinhalten. Zudem schreibt Alegria selbst, dass für einige der Altersgruppen, die er sich anschaut, noch gar keine Todesursachen in der Statistik vorliegen. Diese rechnet er aber anhand eigener Überlegungen hoch – seine „Analyse“ bleibt damit spekulativ.

Fazit: „Turbokrebs“ ist kein anerkanntes Krankheitsbild und auch keine anerkannte Diagnose. Krügers Einzelbeobachtungen im Krankenhaus in Kalmar lassen sich mangels Quellen nicht nachvollziehen. Der Leiter der Pathologie des Krankenhauses erklärt, es gebe keine ausreichenden wissenschaftlich geprüften Daten, um Krügers Beobachtungen als systematisch zu belegen. Die Zahl von Brustkrebsfällen und die Größe der Tumore hat in Deutschland im Zuge der Corona-Pandemie nicht zugenommen. Weder in der von Krüger angeführte „Studie“ – die wissenschaftlichen Standards nicht genügt – noch sonst gibt es Belege für einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfungen und Krebs. Fachgesellschaften empfehlen ausdrücklich eine Impfung gegen Covid-19, auch für Krebspatientinnen und -patienten.

3. Behauptung: Übersterblichkeit stehe nur in Zusammenhang mit den Corona-Impfungen

Einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfstoffen und Krebs beziehungsweise vermehrten Todesfällen kann Krüger also nicht wissenschaftlich belegen. Dennoch behauptet sie, es gebe seit 2021 eine „ungeklärte Übersterblichkeit“, die sie ebenfalls auf den Einsatz der mRNA-Impfstoffe zurückführen will.

Krüger beruft sich dabei auf Untersuchungsergebnisse einer Preprint-Studie (Vorabversion einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, die noch kein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hat) von Februar 2024, die der Mathematiker Matthias Reitzner von der Universität Osnabrück und der Psychologe Christof Kuhbandner von der Universität Regensburg veröffentlichten. Sie untersucht den Einfluss von Covid-19-Infektionen, -Impfungen und -Maßnahmen auf die Übersterblichkeit in den deutschen Bundesländern. 

Krüger zufolge zeigt sie, dass es im zweiten und dritten Pandemiejahr einen „beträchtlichen Anstieg“ der Übersterblichkeit gegeben habe, „der nicht durch die Corona-Infektionen erklärt werden kann, sondern im Zusammenhang mit den Corona-Impfungen zu sehen ist.“ Weiter zitiert sie die Studienautoren mit der Aussage: „Je mehr Impfungen in einem Bundesland verabreicht wurden, desto größer war der Anstieg der Übersterblichkeit.“ 

Was ist also Übersterblichkeit, wie wird sie berechnet und wie sind der Preprint und Krügers Behauptungen dazu einzuordnen?

Übersterblichkeit – ein beliebtes Thema innerhalb der Querdenken-Szene
Das Thema Übersterblichkeit war während der Pandemie bereits ein beliebtes Thema der Querdenken-Szene. Erst legte einer ihrer Protagonisten, Samuel Eckert, Zahlen des Statistischen Bundesamts irreführend aus; mit einem ähnlichen Vorgehen behauptete Marcel B. in dem Video „Pandemie in den Rohdaten“, es hätte keine Pandemie gegeben. Mit der Zeit versuchte die Querdenken-Szene die Übersterblichkeit nicht mehr zu widerlegen, sondern behauptete, es gebe einen Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Covid-19-Impfstoffen (hier, hier und hier). Doch Fachleute stellten immer wieder klar, dass es keine Belege für die suggerierten Zusammenhänge zwischen Corona-Impfstoffen und Übersterblichkeit gibt. Dennoch treibt das Thema die Szene weiter um, wie der Artikel von Ute Krüger zeigt.

Übersterblichkeit: Die Entwicklung in Deutschland im Zuge der Corona-Pandemie 

In dem von Krüger aufgegriffenen Preprint ist Übersterblichkeit definiert als: Die Zahl der Todesfälle während der Pandemie, die über die Zahl der Todesfälle hinausgeht, die unter normalen Bedingungen zu erwarten gewesen wäre. Laut Fachleuten eine gängige Definition. Allerdings: „‚Die‘ Übersterblichkeit gibt es nicht“, schreibt Christoph Rothe, Leiter des Statistik-Lehrstuhls an der Universität Mannheim, in der „Unstatistik des Monats“ des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Mai 2022. Grund dafür sei, dass es „mehrere gängige Verfahren“ für die Berechnung der zu erwartenden Todesfälle gebe. Zum gleichen Schluss kommt auch Joachim Ragnitz, stellvertretender Geschäftsführer der Niederlassung Dresden des Ifo-Instituts, in einem Bericht im Frühjahr 2024.

Die Methoden zur Berechnung der Übersterblichkeit unterscheiden sich also von Arbeit zu Arbeit. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten beim Blick auf die Jahre vor und während der Corona-Pandemie: Berechnungen von Giacomo De Nicola, Statistiker und Postdoktorand an der Harvard T.H. Chan School of Public Health, und Göran Kauermann, Leiter des Statistik-Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München, sowie Berechnungen des Ifo-Instituts von Joachim Ragnitz zeigen, dass es in Deutschland seit 2021 eine Übersterblichkeit gibt, auch wenn sie – je nach Berechnung – unterschiedlich hoch ausfällt.

Statistiker: Übersterblichkeit 2022 innerhalb natürlicher Schwankungen 

Statistiker De Nicola erklärt gegenüber CORRECTIV.Faktencheck: „Es muss berücksichtigt werden, dass selbst unter normalen Bedingungen die Zahl der in einem ‚normalen‘ Jahr beobachteten Todesfälle aufgrund vieler verschiedener Faktoren Schwankungen aufweisen kann. Wir sprechen daher von einer ‚beträchtlichen‘ Übersterblichkeit, wenn die Schätzung für ein bestimmtes Jahr die empirisch beobachteten Schwankungen während unseres Referenzzeitraums [2015 bis 2019] übersteigt.“ Laut De Nicolas Definition hat es in den Jahren 2020 und 2021 demnach keine nennenswerte Übersterblichkeit in Deutschland gegeben. Die Schätzung der Übersterblichkeit für 2022 sei zwar höher als der Durchschnitt, aber liege noch „innerhalb der normalen natürlichen Schwankungen“. De Nicolas Berechnungen sind aber kein Widerspruch zur Corona-Pandemie, wie ein Vergleich der Infektionswellen und der Sterbefallzahlen des Statistischen Bundesamts zeigt.

Die Sterbefälle 2023 sind im Vergleich zum Vorjahr gesunken und die vorläufigen Daten für 2024 (Excel-Datei, Download) lassen vermuten, dass es noch weniger Sterbefälle als 2023 gab – obwohl die Bevölkerung in Deutschland altert. Deshalb könne man in diesen Jahren von einer „relativ normalen Sterblichkeit“ ausgehen, so De Nicola.

Ragnitz kommt mit seinen Berechnungsmethoden zu höheren jährlichen Werten der Übersterblichkeit. Laut ihm gab es von 2020 bis 2022 einzelne Phasen einer deutlichen Übersterblichkeit, vor allem in den Wintermonaten. Mit Blick auf das jeweilige Gesamtjahr gleichen sich Phasen von Untersterblichkeit und Übersterblichkeit jedoch teilweise aus. 2023, so Ragnitz weiter, sei eine deutliche Übersterblichkeit selbst in den Wintermonaten kaum noch zu beobachten gewesen.

Fest steht: Zwischen 2020 und 2022 gab es eine Übersterblichkeit, die jährlich gesehen in einem normalen Bereich lag und in bestimmten Phasen davon abwich. Auf Anfrage heißt es vom Statistischen Bundesamt weiter, beim Blick auf einzelne Phasen zeigten sich deutliche Zusammenhänge mit Hitzewellen, Wellen der Corona-Pandemie und zum Jahresende 2022 mit einer Grippewelle. Das veranschaulicht die nachfolgende Grafik des Statistischen Bundesamts bis Anfang 2021:

In 2020 und 2021 kam es zum Anstieg der wöchentlichen Gesamtsterbefallzahlen bei den Coronawellen und der Hitzewelle im Sommer 2020 (Quelle: Statistisches Bundesamt; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)
In 2020 und 2021 kam es zum Anstieg der wöchentlichen Gesamtsterbefallzahlen bei den Coronawellen und der Hitzewelle im Sommer 2020 (Quelle: Statistisches Bundesamt; Screenshot: CORRECTIV.Faktencheck)

Wie steht es also um die Berechnungen zur Übersterblichkeit von Kuhbandner und Reitzner, auf die sich Krüger bezieht? 

Für das Jahr 2020 errechneten sie quasi keine Übersterblichkeit (+ 0,41 Prozent). 2021 starben 3,4 Prozent mehr Menschen (rund 34.000), als statistisch zu erwarten gewesen wäre, und 2022 starben 6,6 Prozent mehr Menschen (rund 66.000). Berechnungen für das Jahr 2023 gibt es in dem Preprint nicht. 

Fachleute kritisieren die Methodik, weil für die Berechnung der Sterbewahrscheinlichkeiten langfristige Trendschätzungen zur Lebenserwartung aus der Versicherungswirtschaft (von der Deutschen Aktuarvereinigung) genutzt wurden. De Nicola erklärt gegenüber CORRECTIV.Faktencheck: Kuhbandner und Reitzner präsentieren in ihrem Preprint keine Modellvalidierung. Doch die für 2022 ausgewiesene Übersterblichkeit für alle Altersgruppen, sogar für die 0-bis-14-Jährigen, die am Ende des Jahres dramatisch steige, sei zumindest fragwürdig und ein Hinweis darauf, dass der verwendete Trend etwas zu stark sei. Die zu erwartenden Todesfälle in 2022 seien dadurch unterschätzt und folglich die Übersterblichkeit für 2022 überschätzt worden, erklärte De Nicola auch dem ARD-Faktenfinder.

Zusammengefasst: Eine Kritik an der Arbeit von Reitzner und Kuhbandner ist, dass ihre konkrete Berechnungsmethode unklar bleibt und offenbar dazu führt, dass die Übersterblichkeit für das Jahr 2022 überschätzt wurde.

Keine wissenschaftlichen Belege, dass Covid-19-Impfungen zu Übersterblichkeit führten

In Bezug auf die Ursachen für die Übersterblichkeit behaupten Kuhbandner und Reitzner, dass die Übersterblichkeit in genau den Monaten am höchsten gewesen sei, in denen es viele Corona-Impfungen gab, was „starke korrelative Hinweise“ darauf liefere, dass „die Impfungen möglicherweise einen negativen statt einen positiven Effekt hatten“.

Doch Experten widersprechen. Um überhaupt beantworten zu können, ob sich Impfungen positiv oder negativ auf Todesfälle auswirken, benötige man sogenannte Individualdaten, schreibt das RWI in seiner „Unstatistik des Monats“ von Januar 2022. Gemeint sind damit Messdaten, die einem einzelnen Element zugeordnet sind. In diesem Fall also Daten, die zeigen, wie viele der gegen Covid-19 geimpften Personen gestorben sind. Einen solchen Datensatz, also ein Corona-Impfregister, gibt es in Deutschland jedoch nicht. 

In Österreich gibt es diese Daten und sie zeigen: Ungeimpfte haben ein signifikant höheres Sterberisiko als jene, die mindestens eine Impfdosis erhalten haben. Und: Wie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) in seinem Sicherheitsbericht von Juni 2023 (Seite 23) erklärte, weisen Studien aus verschiedenen Ländern nicht auf eine erhöhte Sterblichkeitsrate nach Covid-19-Impfungen hin.

Wie ist der von Krüger zitierte Preprint zur Übersterblichkeit in Österreich einzuordnen?

Krüger schreibt in ihrem Artikel, dass die Übersterblichkeit der 15- bis 29-Jährigen in Österreich im Jahr 2023 „unglaubliche 34 Prozent“ beträgt. Das ist das Ergebnis eines Preprints des Mathematikers Matthias Reitzner von der Universität Osnabrück von August 2024.

Die Bundesanstalt Statistik Österreich kann gegenüber CORRECTIV.Faktencheck die Zahlen des Preprints nicht bestätigen. Aus der Pressestelle heißt es aber auch: „Das heißt aber nicht automatisch, dass die Berechnungen falsch sind.“ Doch für die Berechnungen würden Annahmen über die erwartbare Sterblichkeit getroffen, „die das Ergebnis wesentlich beeinflussen – insbesondere in einer Altersgruppe wie die 15- bis- 29-Jährigen, in der wenige Menschen sterben.“ So sieht das auch Joachim Ragnitz. Er schreibt: „Ein paar wenige Todesfälle mehr machen dann in Prozent gleich ganz viel aus.“ Laut der Bundesanstalt Statistik Österreich gibt es in den fünfjährigen Altersgruppen (6-10 Jahre, 11 bis 15 Jahre, usw.) immer wieder Schwankungen bei der Übersterblichkeit, ein klarer Trend sei nicht ablesbar.

Wie steht es jetzt also um Krügers Argumentation? Wie bereits geschildert, gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass Covid-19-Impfungen zu einer Übersterblichkeit in Deutschland führten. Anders als Krüger behauptet, besteht nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Übersterblichkeit und dem Anstieg der Impfungen, sondern es gibt auch einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und Corona-Infektionen. Das zeigt selbst der von Krüger zitierte Preprint. Darin heißt es (PDF, Seite 11 und 12): Während die Übersterblichkeit stieg, wurde auch für das dritte Pandemiejahr ein Anstieg der Corona-Infektionen beobachtet. 

Doch über dieses Untersuchungsergebnis verliert Krüger kein Wort. Diese Manipulationstechnik hat einen Namen: „cherry picking“ (auf Deutsch: Rosinenpickerei). Dass Krüger nur solche angeblichen Belege anführt, die ihrer Argumentation dienen, und solche ignoriert, die ihr zuwiderlaufen, ist ein Muster, das sich durch den gesamten Artikel der Berliner Zeitung zieht.

Kontext, den Krüger außerdem auslässt: Kuhbandner und Reitzner weisen lediglich zeitliche Korrelationen (strenggenommen Scheinkorrelationen) in ihrem Preprint nach. Eine solche Scheinkorrelation ist beispielsweise der Umstand, dass es in den USA einen Zusammenhang zu geben scheint zwischen dem jährlichen Pro-Kopf-Käsekonsum und der Anzahl von Personen, die sterben, weil sie sich in ihrem Bettlaken verheddert haben. 

In dem Preprint sieht die Korrelation so aus: Die Zahl der Impfungen in einem Bundesland stieg, und gleichzeitig stieg auch die Übersterblichkeit. Nur weil etwas aber gleichzeitig auftritt, bedeutet das noch lange nicht, dass das eine ursächlich mit dem anderen zusammenhängt. Tatsächlich ist in dem gesamten Preprint keine einzige Untersuchung zu finden, die einen Rückschluss auf Ursache und Wirkung (Kausalität) erlaubt. 

Und dann spricht Krüger noch ein ganz anderes Thema an: Totgeburten. Sie bezieht sich wieder auf den Preprint, in dem es heißt: „Die Anzahl der Totgeburten korreliert im dritten Pandemiejahr mit der Anzahl der Corona-Impfungen in der Bevölkerung.“ Aber auch dieses Argument hat keine Aussagekraft, da es nur einen zeitlichen Zusammenhang aufzeigt. Wie Ekkehard Schleußner, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin (DGPM), gegenüber dem ZDF im Juli 2023 erklärte, hätten sich damals insgesamt höchstens ein Drittel der Schwangeren gegen Covid-19 impfen lassen. Hinzu kommt: Die Definition der Zählweise für die Totgeburten wurde geändert, wodurch ab 2019 mehr Kinder in die Statistik gefallen sind. 

Fazit: Seit 2021 gibt es eine Übersterblichkeit in Deutschland. Pro Jahr liegt sie in einem normalen Schwankungsbereich, phasenweise kann man von einer „deutlichen Übersterblichkeit“ sprechen. Dass die Übersterblichkeit nur in Zusammenhang mit den Corona-Impfungen steht, ist falsch. Zeitgleich wurde beispielsweise auch ein Anstieg der Corona-Infektionen beobachtet. Einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Corona-Impfungen und Übersterblichkeit gibt es nachweislich nicht. 

Krüger und die „Pathologie-Konferenz“

Ute Krüger ist in der Szene der Impfgegner gut vernetzt: Seit Jahren verbreiten sich in Sozialen Netzwerken immer wieder Videos, in denen sie über angebliche Nebenwirkungen wie „Turbokrebs“ spricht. Bei Veranstaltungen von Initiativen wie Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie (MWGFD) oder Ärzte für Aufklärung, die regelmäßig Falschinformationen zu Corona-Impfstoffen verbreiteten, tritt sie als Expertin auf. Aus diesem Kontext kennt sie auch Arne Burkhardt – einen mittlerweile verstorbenen Pathologen, der bei den sogenannten Pathologie-Konferenzen auftrat. Im September 2021 präsentierte er dort erstmals Ergebnisse von Obduktionen. 

Um im weiteren Textverlauf zu argumentieren, dass Obduktionen wichtige Erkenntnisse liefern, nimmt Krüger Bezug auf Burkhardt. Er habe mittels Gewebeuntersuchungen einen Zusammenhang zwischen Covid-19-Impfungen und Todesfällen herstellen können, schreibt sie. Doch laut Fachexperten sind die Untersuchungen und Ergebnisse nicht wissenschaftlich fundiert. CORRECTIV.Faktencheck berichtete darüber. Auf der Pressekonferenz der ersten Pathologie-Konferenz präsentierte der Pathologe die Ergebnisse von angeblich an zehn Menschen durchgeführten Obduktionen, die nach einer Impfung gegen Covid-19 verstorben seien. Wie im Laufe der Präsentation deutlich wurde, waren die Menschen zwischen 54 und 95 Jahre alt und der Abstand zwischen dem Tod und der Impfung betrug zwischen 31 Tagen und sechs Monaten. Bei zweien war offenbar der Todeszeitpunkt beziehungsweise der Impfstatus unbekannt. 

Fachverbände und Experten distanzierten sich von der Konferenz und bezweifeln deren Wissenschaftlichkeit. Die dort gezeigten Befunde seien teils falsch interpretiert worden, die Untersuchungsmethoden unklar. Das Team des Deutschen Obduktionsregisters für Covid-19-Infektionen sagte CORRECTIV.Faktencheck 2021, die gesamte „Methode der Auswertung“ sei nicht nachvollziehbar, es fehle an Angaben zu Vorerkrankungen und anderen relevanten klinischen Angaben. 

Auch die Herkunft der untersuchten Gewebeproben erwies sich als fragwürdig. Burkhardt sagt dazu: „Irgendwann lagen da die Organe bei mir und ich wusste gar nicht, wozu das gehört.“ Dennoch tauchten auch im Jahr 2022 erneut Falschmeldungen mit Bezug zu der Konferenz und deren Ergebnissen auf. Einer Beurteilung durch andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hielten die Ergebnisse bisher nicht stand. 

4. Behauptung: Studie aus Südkorea belege, dass die Impfung Autoimmunerkrankungen verursache

In einem weiteren Abschnitt ihres Artikels stellt Krüger mit einem Fragezeichen die These auf, dass Autoimmunerkrankungen eine Folge der Impfung sein könnten. Anlass dafür seien die Obduktionsergebnisse des mittlerweile verstorbenen Pathologen Arne Burkhardt. Als Beleg dient eine Studie aus Südkorea. Sie zeige, „dass nach einer Booster-Impfung, also einer zweiten Corona-Impfung, ein erhöhtes Risiko für bestimmte Autoimmunerkrankungen zu finden ist“.

Wie funktioniert ein mRNA-Impfstoff?

Das Paul-Ehrlich-Institut erklärt: „[mRNA-Impfstoffe] werden synthetisch hergestellt und enthalten Teile der Erbinformation des Virus in Form von RNA, die den Bauplan für ein oder mehrere Virusproteine bereitstellen. Die Körperzellen nutzen die RNA als Vorlage, um das oder die Virusproteine selbst zu produzieren.“ Dabei werde aber nur ein Bestandteil des Virus gebildet, vermehrungsfähige Viren könnten nicht entstehen.

„Während bei vielen herkömmlichen Impfstoffen das Antigen selbst injiziert wird, wird also beim mRNA-Impfstoff die genetische Information gespritzt, sodass der Körper das Antigen selbst bildet“, schreibt das PEI auf seiner Webseite.

Das Virus SARS-CoV-2 nutzt das sogenannte Spike-Protein, um an Zellen anzudocken und sie somit zu befallen. Dieser Prozess wird beim Impfen genutzt: Die mRNA-Impfstoffe regen die menschlichen Zellen an, dieses Spike-Protein herzustellen. 

„In den Zellen wird die Erbinformation, die auf der mRNA kodiert ist, ausgelesen und in Protein übersetzt“, erläutert eine Sprecherin des Robert-Koch-Instituts (RKI) per E-Mail. Dieses ausgehend von der mRNA nach dem Impfen in Körperzellen gebildete Spike-Protein rege als Antigen das Immunsystem des Körpers dazu an, Antikörper gegen SARS-CoV-2 zu produzieren.

Vor einem näheren Blick, was die Studie aus Südkorea untersucht, ist wichtig zu verstehen: Krüger definiert Booster-Impfung als zweite Corona-Impfung. In der Studie definieren die Autoren jedoch Booster-Impfung explizit als die dritte Impfung, nicht die zweite. Krüger stellt die Ergebnisse also bereits unter diesem Gesichtspunkt falsch dar.

Die Autoren der Studie haben die Risiken für 16 verschiedene Autoimmunerkrankungen gemessen. Für eine von ihnen, den systemischen Lupus erythematodes (Schmetterlingsflechte), fanden sie ein erhöhtes Risiko nach zwei Dosen. Das Risiko war bei Menschen mit zwei Impfungen um 16 Prozent höher im Vergleich zu Ungeimpften. Nach drei Dosen hat die Studie für drei Autoimmunerkrankungen ein leicht erhöhtes Risiko festgestellt: Haarausfall, Schuppenflechte und rheumatoide Arthritis. Das gemessene Risiko für diese Erkrankungen war zwischen 12 und 16 Prozent höher.

Die Autorinnen der Studie kommen anhand dieser Ergebnisse zu einem anderen Fazit als Krüger. In der am 23. Juli 2024 veröffentlichten Studie heißt es: „Zusammenfassend kommen wir zu dem Schluss, dass mRNA-basierte Impfungen nicht mit einem erhöhten Risiko für die meisten Autoimmunerkrankungen des Bindegewebes verbunden sind, obwohl weitere Forschungen hinsichtlich eines möglichen Zusammenhangs mit bestimmten Erkrankungen erforderlich sind.“ Auch Autor Seung-Won Jung bestätigt das CORRECTIV.Faktencheck auf Anfrage per E-Mail. 

Krüger interpretiert die Studie also falsch und zitiert zudem nur jene Ergebnisse, die ihrer Argumentation dienen. 

Neurologie-Gesellschaft: Risiko für Autoimmunerkrankung ist nach einer Corona-Infektion erhöht – Impfungen reduzieren Risiko

Inzwischen ist stattdessen bekannt: Eine Covid-19-Erkrankung kann das Risiko für Autoimmunerkrankungen teilweise stark erhöhen. Peter Berlit, Neurologe und Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), schrieb CORRECTIV.Faktencheck: „Das Risiko, eine autoimmun bedingte Symptomatik zu entwickeln, ist nach einer Sars-CoV2-Infektion höher als nach der Impfung. Impfungen reduzieren das Risiko von Langzeitfolgen nach der Infektion.“ 

Ein Artikel auf der DGN-Webseite untermauert diese Aussage mit einer Studie aus Hongkong. Demnach stieg das Risiko bei einer Erkrankung an Covid-19 für multiple Sklerose (eine neurologische Autoimmunerkrankung) etwa um rund 270 Prozent, für viele andere Krankheiten ebenfalls um mehr als 40 Prozent.

5. Behauptung: Fall eines Krebspatienten belege gehäuftes Auftreten neurologischer Erkrankungen nach Corona-Impfungen

Weiter behauptet Krüger: „Auch neurologische Erkrankungen finden sich gehäuft nach den Corona-Impfungen.“ Als Beleg nennt sie einen Fall aus ihrer Arbeit als Pathologin – einen Krebspatienten mit Guillain-Barré-Syndrom (GBS), einer neurologischen Autoimmunerkrankung. 

Laut dem Fallbericht von September 2022 hat Krüger mit zwei anderen Medizinern einen Krebspatienten untersucht, der mehrere Vorerkrankungen hatte. Er war unter anderem wegen eines Lymphoms in Behandlung und wurde in dieser Zeit gegen Covid-19 geimpft. Einige Monate nach seiner zweiten Impfung habe er nach einer Infektion an Leberversagen gelitten, sei an GBS erkrankt und dann gestorben. Im Bericht heißt es, der Fall gebe Anlass dazu, die Impfempfehlungen für immungeschwächte Patienten zu überdenken, „die eine Chemotherapie in Kombination mit [dem Krebsmedikament] Rituximab erhalten“.

Krüger hingegen legt im Artikel in der Berliner Zeitung nahe, der Fall zeige mehr als nur einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten einer neurologischen Autoimmunkrankheit wie GBS.

Mitautorin der Studie, Elisabet Englund von der schwedischen Universität Lund, widerspricht dem auf Nachfrage. Ihrer Ansicht nach könne nicht die Impfung allein, sondern der insgesamt beeinträchtigte Immunstatus des Patienten die Krankheit ausgelöst haben. Sie würde nicht zustimmen, dass neurologische Erkrankungen nach einer Coronavirus-Impfung häufiger auftreten. „Im Gegensatz dazu können neurologische Erkrankungen im Anschluss an eine Sars-CoV-2-Infektion auftreten – das ist meine Erfahrung.“ Die Fallstudie belegt also nicht – wie von Krüger behauptet – ein gehäuftes Auftreten neurologischer Erkrankungen insgesamt. 

Das in Deutschland für die Zulassung von Impfstoffen zuständige Paul-Ehrlich-Institut listet in seinem aktuellsten Sicherheitsbericht zu Covid-19-Impfstoffen vom 2. Juni 2023 bekannte Nebenwirkungen der mRNA-Impfstoffe auf. Autoimmunerkrankungen zählen nicht dazu. Als sehr seltene Nebenwirkungen sind lediglich Myokarditis (Herzmuskelentzündung) und Perikarditis (Herzbeutelentzündung) aufgeführt. Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist zudem laut dem Bericht eine bekannte und sehr seltene Nebenwirkung der vektorbasierten Covid-19-Impfstoffe Vaxzevria (auch bekannt als AstraZeneca) und Jcovden (auch bekannt als Johnson & Johnson oder Janssen). Ein Zusammenhang zwischen GBS und mRNA-Impfstoffen „konnte bislang nicht hergestellt werden“, heißt es im PEI-Bericht. 

Von Krüger zitierte Studie zur „hohen Dunkelziffer an Impftoten“ belegt fünf Fälle von tödlicher Herzmuskelentzündung

Krüger schreibt in ihrem Artikel auch, dass Peter Schirmacher, Direktor des Pathologischen Instituts der Universitätsklinik Heidelberg, „vor einer hohen Dunkelziffer an Impftoten“ warne. Seine Studie zeige, dass es bei 30 Prozent der untersuchten Personen, die 14 Tage nach der Impfung gestorben sind, einen Zusammenhang zwischen Impfung und Versterben gegeben habe. Ein Blick in die Studie zeigt: Die Autorinnen und Autoren berichten, dass 5 von 35 untersuchten Personen (also rund 14 Prozent) an (Epi-)Myokarditis gestorben seien. Die Herzmuskelentzündung ist laut den Autoren „impfstoffbedingt“. Doch forensische Pathologen aus Australien kritisieren diese Schlussfolgerung, weil alternative Todesursachen nicht umfassend ausgeschlossen worden seien. Schirmacher selbst sagte in einem Interview gegenüber der Welt, dass die Studie keine Hochrechnung auf die Gesamtheit der Geimpften erlaube.

Trotz der Kritik führt das PEI die Untersuchungsergebnisse von Schirmacher et al. in seinem Sicherheitsbericht von Juni 2023 (PDF, Seite 5) neben weiteren Studien zu Herzmuskelentzündungen auf. Demnach gilt Myokarditis als eine „sehr seltene schwerwiegende Nebenwirkung“ der mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna. Weiter heißt es in dem Bericht: Bis Ende März 2023 erhielt das PEI rund 340.000 Meldungen zu Verdachtsfällen von Nebenwirkungen nach Covid-19-Impfungen. Ein tödlicher Verlauf wurde in 0,98 Prozent dieser Fälle mitgeteilt. 127 Fälle wurden vom PEI als ursächlich im Zusammenhang mit Corona-Impfungen bewertet.

Eine weitere neurologische Erkrankung, für die zwischenzeitlich der Verdacht bestand, die Impfstoffe könnten das Risiko dafür erhöhen, ist die idiopathische Fazialisparese. Bisher sei ein eindeutiger Kausalzusammenhang zwischen dieser Erkrankung und den Corona-Impfstoffen allerdings nicht belegt, schreibt das PEI.

Fazit: Anders als von Krüger suggeriert, belegen die von ihr genannten Studien kein Risiko für Autoimmunerkrankungen durch Corona-Impfungen. Das PEI listet für mRNA-Impfstoffe Autoimmunerkrankungen nicht als Nebenwirkungen. Als sehr seltene Nebenwirkungen von vektorbasierten Impfstoffen werden Myokarditis und GBS genannt.

6. Behauptung: Corona-Impfstoffe seien zu schnell zugelassen und unzureichend getestet worden

Weil Impfstoffe vor der Zulassung normalerweise sieben bis acht Jahre lang entwickelt und erprobt werden und das bei den Corona-Impfstoffen deutlich schneller ging, seien die Corona-Impfstoffe „unzureichend getestet auf den Markt gekommen“, meint Krüger. 

Doch auch das stimmt nicht. Wie das PEI auf seiner Webseite informiert, wurden für die Zulassung der Corona-Impfstoffe „alle für die Bewertung der Sicherheit relevanten Untersuchungen durchgeführt“. An der Zulassungsstudie des mRNA-Impfstoffs von Biontech/Pfizer nahmen rund 43.500 Probanden teil, an der Zulassungsstudie von Moderna rund 30.400. Eine schnellere Zulassung der Covid-19-Impfstoffe war laut dem PEI möglich, weil unter anderem klinische Prüfungsphasen parallel durchgeführt werden konnten, die sonst nacheinander stattfinden, wissenschaftliche Kräfte gebündelt wurden, es ein Rolling-Review-Verfahren gab, sowie durch eine „großzügige finanzielle Unterstützung“ von Regierungen und Stiftungen. Über den fälschlichen Vorwurf, die schnelle Zulassung bedeute, die Impfstoffe seien nicht ausreichend getestet gewesen, klärte CORRECTIV.Faktencheck bereits in der Vergangenheit auf. 

Fazit: Anders als von Krüger behauptet, wurde sichergestellt, dass die Impfstoffe vor der Zulassung ausreichend getestet waren.

7. Behauptung: Studie belege schwere Nebenwirkungen bei elf Prozent der Pfizer-Impfungen, 21 Prozent bei Moderna-Impfungen

In ihrem Artikel schreibt Krüger sogar davon, dass die Corona-Impfung „ein Experiment an uns Menschen“ gewesen sei. Dazu präsentiert sie die Ergebnisse einer „Studie“, laut der „schwere Nebenwirkungen“ bei 11 Prozent der mRNA-Impfstoffe von Pfizer und bei 21 Prozent der mRNA-Impfstoffe von Moderna nachgewiesen worden seien. Doch die Behauptung ist irreführend.

In der „Studie“ wurden keine Untersuchungen zu „schweren Nebenwirkungen“ durchgeführt. Was Krüger zitiert, ist ein Ausschnitt eines Aufsatzes (Seite 8), in dem die Autoren den politischen Ansatz der USA zu bestimmten Impfstoffen analysieren. Die in dem Ausschnitt genannten Prozentwerte basieren auf Daten des Centers for Disease Control and Prevention (CDC), einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums. In der Fußnote zu den Prozentwerten heißt es, dass sie die sogenannte Reaktogenität abbilden. 

Den Begriff ordnet ein Experte der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie für CORRECTIV.Faktencheck ein: „Mit Reaktogenität werden die kurzfristigen Folgen der Impfung und des ‚anspringenden‘ Immunsystems bezeichnet, also zum Beispiel Rötung, Schwellung oder Schmerz an der Einstichstelle, ein Fiebergefühl oder Kopfschmerzen. Aber hier handelt es sich nicht um bleibende Schäden, insofern ist dieser Begriff nicht mit ‚schweren Nebenwirkungen‘ gleichzusetzen.“ Auch im Arzneimittelgesetz sind schwere beziehungsweise schwerwiegende Nebenwirkungen definiert als „Nebenwirkungen, die tödlich oder lebensbedrohend sind, eine stationäre Behandlung oder Verlängerung einer stationären Behandlung erforderlich machen, zu bleibender oder schwerwiegender Behinderung, Invalidität, kongenitalen Anomalien oder Geburtsfehlern führen“.

Fazit: Die in dem Aufsatz genannten 11 und 21 Prozent sind keine Fälle von „schweren Nebenwirkungen“, sondern Fälle, in denen die mRNA-Impfung gegen Covid-19 kurzfristige, vorübergehende Impfreaktionen auslöste.

Berliner Zeitung veröffentlichte zwei Wochen nach Krügers Artikel eine gegensätzliche Recherche zu „Turbokrebs“

Knapp zwei Wochen nachdem der Artikel von Ute Krüger erschienen ist, ergänzte die Berliner Zeitung im Text einen Link zu einer neuen Recherche, die einige von Krügers Behauptungen richtigstellt. Krügers Text ist jedoch nach wie vor online.

Über dem Artikel von Ute Krüger fügte die Berliner Zeitung rund zwei Wochen nach Veröffentlichung einen Hinweis auf eine Recherche hinzu. Darin werden einige von Krügers Behauptungen richtiggestellt. (Quelle: Berliner Zeitung; Screenshot am 5. November: CORRECTIV.Faktencheck)
Über dem Artikel von Ute Krüger fügte die Berliner Zeitung rund zwei Wochen nach Veröffentlichung einen Hinweis auf eine Recherche hinzu. Darin werden einige von Krügers Behauptungen richtiggestellt. (Quelle: Berliner Zeitung; Screenshot am 5. November: CORRECTIV.Faktencheck)

Die Recherche mit der Überschrift „Corona-Impfstoffe und ‚Turbokrebs‘? Was die Fallzahlen aus Deutschland verraten“ erschien im Gesundheits-Ressort. Der Text konzentriert sich vor allem auf ein Thema: den angeblichen „Turbokrebs“. Die Autorin und der Autor analysieren Krebsfälle aus Deutschland, sprechen mit Expertinnen und Experten und nehmen von Krüger zitierte Studien unter die Lupe.

Sie kommen dabei zu dem Fazit, dass die Beobachtungen von Krüger nicht von Daten gedeckt sind. Im Artikel heißt es: „Anekdotische Evidenz, also das, was eine einzelne Pathologin in ihrem Labor beobachtet, hilft nicht weiter. Die Daten aus Deutschland zeigen keinen Anstieg von neuen Krebsfällen; auch die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, ist nicht gestiegen. Die Aggressivität der Krebserkrankungen nimmt – nach allem, was die Daten zeigen – nicht zu.“ Auf Krügers übrige Behauptungen geht die Recherche nicht ein.

Berliner Zeitung will die Kategorie „Open Source“ ausbauen

Im Gespräch mit CORRECTIV.Faktencheck verteidigt der Chefredakteur der Berliner Zeitung, Tomasz Kurianowicz, den ursprünglichen Text von Ute Krüger. Auf die Frage, warum der Text trotz enthaltener Falschbehauptungen unkorrigiert veröffentlicht bleibe, sagt Kurianowicz: „Die Autorin berichtet von Beobachtungen aus ihrer beruflichen Praxis. Sie beschreibt eine Korrelation, die ihrer Meinung nach eine Kausalität nahelegt. Sie behauptet aber nicht, dass diese Kausalität faktisch gegeben ist“. Der Text von Krüger, und auch die dazu erschienene Recherche, hätten mit Blick auf die Debatte über Corona ihre Berechtigung. Der Text sei wie alle anderen Beiträge zuvor redaktionell überprüft worden.

Die Zeitung will die Kategorie „Open Source“, in der Krügers Artikel erschienen ist, offenbar künftig ausbauen. Der Verlag wolle „die Perspektivenvielfalt und die Anzahl der publizierten Texte erhöhen“, schreibt Kurianowicz an CORRECTIV.Faktencheck. 

Beim Deutschen Presserat sind zwei Beschwerden zu Krügers Artikel eingegangen, wie CORRECTIV.Faktencheck am 4. November von einer Sprecherin erfuhr. Der Rat entscheide im Jahr 2025 darüber, ob die Berliner Zeitung mit der „Open Source“-Veröffentlichung ihre Sorgfaltspflicht verletzt habe. Falls dem so ist, kann der Presserat eine Sanktion erteilen. Die Sprecherin schreibt: „Die Beschwerdeführenden werfen der Redaktion vor, Unwahrheiten zu verbreiten. Aus Sicht der Beschwerdeführenden konnte in keiner Studie bewiesen werden, dass die Covid-Impfung Krebserkrankungen begünstige.“

Update, 25. November 2024: Wir haben ergänzt, dass Ute Krüger ihre Approbation in Berlin erhalten hat.

Update, 27. November 2024: Wir haben die Antwort von Ute Krüger ergänzt, die uns erst nach der Veröffentlichung dieses Artikels erreichte.

Update, 9. Dezember 2024: Der Presserat hat seine Entscheidung zum Artikel der Berliner Zeitung auf 2025 vertagt.

Redigatur: Uschi Jonas, Steffen Kutzner

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Preprint-Studie „Differential Increases in Excess Mortality in the German Federal States During the COVID-19 Pandemic“, Februar 2024: Link (archiviert)
  • Studie „Estimating excess mortality in high-income countries during the COVID-19 pandemic“, Dezember 2023: Link (archiviert)
  • Bericht „Unsicherheiten bei der Ermittlung von Übersterblichkeit während der Corona-Pandemie“, Februar 2024: Link (archiviert)
  • PEI-Sicherheitsbericht zu Covid-19-Impfstoffen vom März 2023: Link (archiviert)
  • Fallbericht „Journal of Medical Case Reports and Case Series Guillain-Barré Syndrome and vasculitis-like changes following severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 Vaccination, chemotherapy, and Rituximab“, Dezember 2022: Link (archiviert)
  • Studie „Long-term risk of autoimmune diseases after mRNA-based SARS-CoV2 vaccination in a Korean, nationwide, population-based cohort study“, Juli 2024: Link (archiviert)
  • „Covid-19 kann vermehrt Autoimmunerkrankungen auslösen – die Impfung verringert dieses Risiko“, Artikel auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, September 2023: Link (archiviert)
  • Übersicht der Entscheidungen des Deutschen Presserats: Link (archiviert)
  • Impfempfehlung des Deutschen Krebsforschungszentrums: Link (archiviert)