Sexismus und Männerdominanz: Was Frauen in der Kommunalpolitik erleben
CORRECTIV.Lokal hat vor der Kommunalwahl in NRW gefragt, warum der Frauenanteil mit 24 Prozent in den Parlamenten dort derart niedrig ist. Knapp 600 Politikerinnen und Politiker haben sich in unserem CrowdNewsroom beteiligt.
Sprüche über ihr junges Alter oder ihre Kleidung bekommt sie an diesem Tag nicht. „Erstaunlicherweise“, sagt Julia Klewin. Der Wahlkampf für die Kommunalwahl am 13. September in Nordrhein-Westfalen hat längst begonnen. „Julia Klewin, ich kandidiere für den Stadtrat“, begrüßt die SPD-Politikerin die vorbeiziehenden Menschen. Im Essener Stadtteil Rüttenscheid ist das zur Zeit nicht leicht. Hitze, Baustellen und das Coronavirus samt dem Tragen von Masken – es herrschen erschwerte Bedingungen.
Klewin verteilt Wahlprogramme, drückt Buntstifte in Kinderhände. Die 36-Jährige ist Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Rüttenscheid und seit 15 Jahren parteipolitisch aktiv, erst bei den Jusos, später im Stadtrat Velbert, inzwischen bei der SPD Essen. Jetzt kandidiert sie für den Stadtrat der Stadt. Und das, obwohl sie vor sechs Jahren ihre politische Karriere fast beendet hätte. Anzügliche Chat-Nachrichten, degradierende Sprüche: Zu groß schienen ihr die Hindernisse als junge Frau in der Kommunalpolitik.
Frauen gibt es in der Essener Lokalpolitik nicht viele. Nur 29 der 90 Ratsmitglieder sind weiblich. Damit liegt die Stadt sogar noch über dem Landesdurchschnitt – im Mittel saßen nach der Kommunalwahl 2014/15 in den Gemeindevertretungen, Stadträten und Kreistagen in NRW lediglich 24 Prozent Frauen.
Kein Stadtrat paritätisch besetzt
CORRECTIV.Lokal hat für jede Stadt und Gemeinde in NRW ausgewertet, wie hoch der Anteil an Frauen in den Kommunalparlamenten ist: Den größten Frauenanteil hatte nach den Wahlen 2014/15 der Stadtrat Halle mit 44 Prozent. Trauriges Schlusslicht ist Sassenberg. In der Kleinstadt im Münsterland sitzt keine einzige Frau im Stadtrat. Wie kommt die Gemeinde auf ausreichend Kitaplätze? Welche Sport- und Kultureinrichtungen werden gefördert? Wo soll eine Windanlage gebaut werden? Wie können Unternehmen angesiedelt werden? Das entscheiden in Sassenberg ausschließlich Männer.
„Je kleiner die Gemeinde, desto niedriger zumeist der Frauenanteil im Stadt- oder Gemeinderat“, schreiben Paula Schweers und Stefanie Lohaus von der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft (EAF), einem gemeinnützigen Forschungs- und Beratungsinstitut, per E-Mail an CORRECTIV.Lokal. NRW bestätigt das, es gibt aber auch Ausnahmen. Kleine Gemeinden wie Oerlinghausen oder Telgte erreichen einen Frauenanteil von über 40 Prozent, während andere Städte wie etwa Dinslaken mit 13 Prozent weit unter dem Durchschnitt bleiben. Gründe für diese „Ausreißer“ vermuten die beiden Expertinnen in den jeweils starken Parteien und deren Quotenregelungen.
In Münster mit einer relativ starken grünen Ratsfraktion liegt der Frauenanteil mit 33 Prozent über dem Durchschnitt. Auch Köln steht mit 38 Prozent gut da. Das für Skipisten bekannte Winterberg kann jedoch nur drei Prozent Frauen vorweisen und auch die umliegenden Gemeinden im katholisch geprägten Sauerland sehen blass aus, was den Frauenanteil angeht.
Parlamente sind kein Abbild der Gesellschaft
Die Hand des Rats-Kollegen zwischen den Beinen, anzügliche Chat-Nachrichten nachts vom Parteifreund oder alltagssexistische Sprüche über ihr Aussehen: Viele Politikerinnen berichten CORRECTIV gegenüber, wie sie in ihrer politischen Arbeit Sexismus oder Diskriminierung von Kollegen erlebt haben.
Es sind nicht die einzigen Gründe, weshalb es den Frauen schwerer fällt, in die Kommunalpolitik zu gehen oder dort zu bleiben.
Die anstehende Kommunalwahl in NRW am 13. September findet mitten in einer Debatte um Paritätsgesetze und eine Frauenquote bei der CDU statt. Jüngst wurde ein Bild von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet zum Politikum. Auf dem Foto ist er nur von Männern umringt. Es sollte der Auftakt zur Kommunalwahl mit den CDU-Kandidaten sein. Ganz ohne Frauen.
Die kommunalen Parlamente spiegeln die Zusammensetzung der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht nicht wider. Wenige Kommunalpolitikerinnen und -politiker haben einen Migrationshintergrund und auch die Repräsentanz anderer gesellschaftlicher Gruppen ist für viele nicht selbstverständlich: In Mülheim an der Ruhr etwa wird die 19-jährige Transfrau Laura Patricia Kasprowski, die für die CDU antritt, für ihre Kandidatur für die Bezirksversammlung angefeindet.
Besonders sichtbar, dass Gemeinde- und Stadträte die Gesellschaft nicht abbilden, wird es beim Frauenanteil. Warum gelingt es nicht, mehr Frauen in die Parteien und Parlamente zu bringen? CORRECTIV.Lokal hat Kommunalpolitikerinnen und -politiker aus ganz NRW gefragt, was für Erfahrungen sie gemacht haben und welche Gründe sie für die geringe Zahl von Frauen in ihren Parteien und den Parlamenten sehen. 573 haben sich über die von CORRECTIV entwickelte Online-Plattform CrowdNewsroom beteiligt. Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ, sondern vermitteln einen Überblick über die Erfahrungen dieser Politikerinnen und Politiker.
Intransparenz, Klüngel und Sexismus
Über 70 Prozent der Teilnehmenden sind Frauen. Von ihnen berichtet mehr als jede Zweite (60 Prozent), im Rahmen der politischen Arbeit schon einmal Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder Sexismus erlebt zu haben. Etwa jede Fünfte findet es schwierig, Amt und Familie miteinander zu vereinbaren. Viele beklagen Intransparenz, Klüngel und Seilschaften unter Männern.
30 Prozent der Lokalpolitikerinnen gaben an, wegen negativer Erfahrungen als Frau in der Politik schon einmal daran gedacht zu haben, ihre Parteiämter oder Mandate niederzulegen. Auch Julia Klewin von der SPD nahm sich eine Auszeit von der Politik. Als sie 2014 nach Essen zog, gab sie für ein Jahr alle Ämter ab. Es kam vieles zusammen, erzählt sie: Sie fühlte sich in den Gremien in ihrer Heimatstadt Velbert nicht wohl, wurde von einem Genossen belästigt und im Stadtrat sei kaum Rücksicht auf ihre Arbeitszeiten als Lehrerin genommen worden.
Sprüche, Chats, Witze: Sexismus hat viele Gesichter
Sexismus erlebt Klewin in ihrer politischen Arbeit häufig. „Die Reihe ist endlos: Bemerkungen über meinen Körper und mein Aussehen, Aufforderungen zum Kaffeekochen, weil ich das als Frau besser könne oder sexuelle Gerüchte“, sagt sie. Die meisten der von Sexismus Betroffenen berichten CORRECTIV.Lokal, dass sich Mitglieder anderer Fraktionen sexistisch verhalten haben, doch bei mehr als einem Fünftel der Frauen kam die Diskriminierung auch von Parteifreunden. Das kennt Klewin: Während einer SPD-Veranstaltung im Kreis Mettmann habe sie aufgeschnappt, wie ein Mann sie als diejenige bezeichnet, die den und den „bumst“. Bei einer Weihnachtsfeier in Velbert habe ein damaliges Ortsvereinsmitglied laut verkündet: „Mit den Schuhen könnte sich Julia auch an den Straßenrand stellen.“ Als sie den Kommentar bei der nächsten Vorstandssitzung ansprach, habe sie niemand unterstützt. Die Weihnachtsfeier sei acht Jahre her, doch die Sprüche haben nicht aufgehört, sagt Klewin.
„Man braucht nur die Ohren zu spitzen: Das Kleid sei zu lang oder zu kurz, die Haarfarbe passe nicht, ständig wird unser Aussehen kommentiert“, erzählt sie. Kein Einzelfall, wie unsere Umfrage im CrowdNewsroom zeigt: Über die Hälfte der Frauen berichtet von Erlebnissen, die sie als grenzüberschreitend wahrgenommen haben – am häufigsten Kommentare zum Aussehen.
Fast jede zehnte Frau berichtet von unangemessenen Berührungen
Häufig erleben Politikerinnen Sexismus und unangemessene Anmachen auch über Handy-Nachrichten. Fast jede zehnte Frau aus dem CrowdNewsroom berichtet über solche Erfahrungen. So auch Julia Klewin. Sie sei von einem Mitglied eines Stadtrates aus einer anderen Stadt bedrängt worden. Der mehr als 20 Jahre ältere Mann habe ihr über Wochen Nachrichten auf Facebook geschrieben. „Er forderte mich nachts auf, bei ihm vorbeizukommen oder schrieb, dass er mir gerne seine Muschis zeigen würde, er meinte seine Katzenbabys“, erinnert sie sich. Die Nachrichten hörten erst auf, als sie ihn auf einer Veranstaltung damit konfrontierte und ihn auf Facebook blockierte.
Damals erzählte sie kaum jemandem davon. Sie hatte Sorge, man würde ihr nicht glauben. „Sowas wurde totgeschwiegen.“ In der Kommunalpolitik bleiben diese Handlungen meist ungeahndet, es gibt keine öffentlichkeitswirksamen Skandale, keine Stellen, an die sich Betroffene wenden können.
Acht Prozent der befragten Frauen berichteten, dass sie im Kontext ihrer politischen Arbeit schon einmal unangemessen berührt wurden. Dignanllely Meurer (29), die für die Grünen im Rat Erkelenz sitzt, erzählt: „Wenn auf Veranstaltungen Alkohol im Spiel ist, bei uns vor allem an Karneval, fallen eher die Männer auf, die es schaffen, ihre Hände bei sich zu behalten – traurigerweise nehme ich das gar nicht mehr als extrem übergriffig wahr, weil es normal zu sein scheint.“
Auch Marianne Hagen von der FDP Düsseldorf berichtet, sie habe mal einen Bezirksvertreter auf ihre Terrasse eingeladen, der ihr plötzlich die Hand auf den Oberschenkel zwischen die Beine gelegt habe, ohne dass sie das wollte. Melanie Purps, Mitglied der CDU-Ratsfraktion Hagen, berichtet von Kollegen, die ihr nachts Nachrichten mit sexistischen Bildern oder Videos schicken. Wir konnten einige davon einsehen.
Nicht ernst genommen
Julia Klewin ergeht es inzwischen bei der SPD Essen besser, aber ab und zu komme noch immer ein Spruch wie „hübsches Mäuschen“, gerade von älteren Genossen. Auf Twitter kommentierte neulich ein User ihren Tweet mit: „Diese Sozialdemokratin hat außer Stöckeln eben nicht viel mehr drauf. Eine Gehirnzelle mehr als ein Huhn, damit sie beim Gackern nicht auf den Hof sch***.“
Diskriminierung erlebe Klewin aber auch oft unterschwelliger. Bei einer Weihnachtsfeier der Fraktion sei ihr als Studienrätin gesagt worden, einer so jungen Frau würde die Weitsicht für Themen wie Bildung und Chancengerechtigkeit fehlen. Bei Veranstaltungen werde sie manchmal für die Sekretärin ihres Mannes gehalten, der im EU-Parlament sitzt. Sie beobachtet: „Als Frau muss ich ständig mehr leisten als Männer. Mir wird öfter ins Wort gefallen oder Männer hören mir nicht zu. Meine Kompetenz wird immer hinterfragt, meine Erfahrungen werden nicht ernst genommen.“
Davon berichten CORRECTIV.Lokal viele Frauen: Fast ein Drittel kennt das Gefühl, nicht ernstgenommen oder übergangen zu werden – es ist das im CrowdNewsroom am häufigsten genannte Beispiel für unterschwellige Diskriminierung. SPD-Politikerin Marita Köstler-Mathes will deswegen sogar aus dem Kreistag Coesfeld aussteigen. Ihr Job als Grundschullehrerin würde weniger ernst genommen, es gebe kein Verständnis für berufliche Abendtermine, sagt sie. „Wenn Männer den Mund aufmachen, sind alle still – wenn Frauen sprechen, wird oft einfach weiter geredet.“
Vereinbarkeit von Familie und politischem Engagement ist oft schwierig
Weitere Hürden kennt man auch aus anderen Branchen: Politikerinnen berichten über die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Politik. Für fast jede fünfte Frau stelle dies ein Problem dar, geht es aus den Antworten im CrowdNewsroom hervor. So auch für Beate Schirrmeister-Heinen von den Grünen. Mittlerweile könne sie ihr Mandat zwar gut mit dem Familien- und Berufsleben in Einklang bringen. Doch „das war früher, als die Kinder klein waren und meine Mutter pflegebedürftig, viel schwieriger“, sagt sie.
Auch manche Männer thematisieren die Vereinbarkeit, so schreibt Lars Reichmann, Ratsherr der Grünen in Lüdinghausen: „Der Tag hat nur 24 Stunden – nachdem ich die Kinder ins Bett gebracht habe, bin ich oft so fix und fertig, dass ich mich nicht mehr an den Schreibtisch setzen kann, um politische Arbeit zu machen.“
Reichmann fordert: „Männer müssen sich zu Hause mehr an der Care-Arbeit beteiligen!“ Gut 40 Prozent der Frauen nennen eine bessere Vereinbarkeit von Politik mit Familie und Beruf als Voraussetzung dafür, dass der Frauenanteil in den NRW-Kommunalparlamenten steigt. Paula Schweers und Stefanie Lohaus vom Forschungs- und Beratungsinstitut EAF schlagen dafür zum Beispiel Gremiensitzungen vor, an denen man auch digital teilnehmen kann. Außerdem halten sie Paritätsgesetze in der Kommunalpolitik für sinnvoll, um den Frauenanteil zu erhöhen.
Jede fünfte Frau sprach sich in unserem CrowdNewsroom an dieser Stelle auch für mehr Quotierung aus, manche verbunden mit dem Wunsch nach innerparteilichen Sanktionen bei Missachtung. Ein Beispiel dafür wäre das Paritätsgesetz in Frankreich. Hier führt eine Abweichung von der Vorgabe zu Kürzungen bei der staatlichen Parteienfinanzierung oder finanziellen Sanktionen.
Allein unter den Mitgliedern der deutschen Parteien sind die Geschlechterverhältnisse klar: Viel mehr männliche als weibliche Mitglieder und ein deutlicher Männerüberschuss in den kommunalen Parlamenten. In den Stadt-, Kreis- und Gemeinderäten sitzen bundesweit etwa 27 Prozent Frauen. Dieser Mangel frisst sich von unten nach oben: in die Landesparlamente, den Bundestag, das EU-Parlament (36 Prozent der deutschen EU-Parlamentarier sind weiblich). Im Vergleich der nationalen Parlamente in Europa belegt der Bundestag mit 31 Prozent Frauen nur einen Mittelfeldplatz. Im Düsseldorfer Landtag sind rund 27 Prozent der Abgeordneten weiblich. In beiden Parlamenten sank der Frauenanteil zuletzt sogar.
Es gibt Quoten, aber keine Sanktionen
Bei einigen Parteien gibt es bereits Quotenregelungen – Sanktionen fehlen aber.
Das sind die Regelungen der Parteien im Überblick:
- Bei den Grünen gilt das Frauenstatut, nach dem mindestens 50 Prozent der Listenplätze mit Frauen besetzt sein sollen. Dabei sind die ungeraden Plätze Frauen vorbehalten, also auch die Spitzenkandidatur, die geraden Plätze sind offen für alle.
- Ähnlich bei der Partei Die Linke: Auf Wahllisten steht Frauen einer der ersten beiden Listenplätze zu und im Folgenden die ungeraden Plätze – „soweit Bewerberinnen zur Verfügung stehen“.
- Die SPD strebt 40 Prozent weibliche Kandidatinnen an, Listenplätze sollen abwechselnd mit Frauen und Männern besetzt sein.
- Bei der CDU gilt das sogenannte Quorum: Ein Drittel der Listenplätze soll an Frauen vergeben werden. Wenn dies nicht gelingt, so ist dies lediglich „darzulegen und zu begründen“. Im Juli hat sich die Bundesspitze der CDU zwar für eine Frauenquote von 50 Prozent bis zum Jahr 2025 ausgesprochen, allerdings nur für Vorstandsposten ab der Kreisebene.
- FDP und AfD haben keine Quotenregelungen – die AfD schließt sogar in ihrer Satzung die Gründung einer parteiinternen Frauenorganisation aus. Das Ergebnis zum Beispiel bei der FDP: Im Dezember 2019 lag der Frauenanteil unter den Mitgliedern bei gerade 21,6 Prozent.
Selbst bei den Grünen, die sich die strengsten Regeln auferlegt haben und aus einem vergleichsweise hohen Frauenanteil in der eigenen Mitgliedschaft schöpfen können, werden nicht immer alle für Frauen vorgesehenen Sitze tatsächlich weiblich besetzt. „Wenn auf einem ungeraden Listenplatz, auf dem laut Frauenstatut nur Frauen kandidieren dürfen, keine Frau kandidiert oder gewählt wird, kann die Wahlversammlung diesen Platz freigeben“, erklärt Angela Hebeler, Frauenreferentin von Bündnis90/Die Grünen in NRW. „Denn anders als bei parteiinternen Wahlen, zum Beispiel Vorstandswahlen, kann auf Wahllisten kein Platz unbesetzt bleiben. Die bei der Wahlversammlung anwesenden Frauen haben aber jedes Mal ein Vetorecht, wenn ein eigentlich weiblich zu besetzender Platz geschlechtsunabhängig vergeben werden soll.“
Noch immer gibt es Stimmen, die schlichtweg fehlendes Engagement von Frauen in der Kommunalpolitik als Grund für den niedrigen Frauenanteil sehen. Im CrowdNewsroom sehen das vor allem Männer so. CDU-Mann Andreas Auler, Mitglied des Rates der Landeshauptstadt Düsseldorf, sieht den Umstand, „dass zu wenige Frauen sich engagieren“, als das eigentliche Problem. Ähnlich klingt es bei Günter Schmidt, dem FDP-Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat Unna. Er merkt an, dass er Listen nicht paritätisch besetzen könne, wenn sich unter 48 Mitgliedern im Ortsverband nur drei Frauen befinden, keine davon jünger als 70. „Mir fehlt das Engagement junger Frauen“, erklärt jedoch auch Regina Schlüter-Ruff, Bürgermeisterkandidatin und Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtrat Enger.
Jede zehnte Frau beklagt Küngel, Intransparenz und Männernetzwerke
Klüngel, Intransparenz und Netzwerke unter Männern – jede zehnte Frau, die sich im CrowdNewsroom beteiligt haben, sehen das als Grund für eine mangelnde Chancengleichheit in der Politik.
Schweers und Lohaus von der EAF beobachten in der Kommunalpolitik eine „politische Kultur, die viele Frauen eher abschreckt, statt sie zu fördern“. „Viele politische Absprachen werden in Männerbierrunden getroffen“, schreibt ein Ratsmitglied der Grünen im CrowdNewsroom. Von männlichen „Bierrunden“ nach den Sitzungen berichten mehrere Frauen. „Dabei werden dann Strategien oder Pläne geschmiedet“, erzählt eine grüne Kölner Bezirksvertreterin. Eine FDP-Politikerin aus Solingen meint: „Das gibt es vermutlich überall: Seilschaften alter weißer Männer, die seit Jahrzehnten in der Kommunalpolitik aktiv sind und im Alter dann starrsinnig an ihren ‚ihnen zustehenden‘ Posten festhalten.“
Auch Julia Klewin aus Essen berichtet: „Wenn bei Nominierungen eine gute Frau und ein durchschnittlicher Mann zur Wahl stehen, habe ich es immer wieder erlebt, dass der Mann gewählt wird.“ Wo die Männerdominanz groß ist, entsteht schnell eine Eigendynamik, so schildern es zahlreiche Lokalpolitikerinnen und auch einige ihrer männlichen Kollegen. „Männer rekrutieren vor allem Männer“, hat John Haberle, Sprecher des grünen Ortsverbandes Iserlohn, beobachtet. Andersrum sei es genauso. „Mehr Frauen inspirieren mehr Frauen“, ist Yazgülü Zeybek, Ratsfrau der Grünen in Wuppertal, überzeugt.
Frauen warten darauf, angesprochen zu werden und brauchen Mentorinnen
Dafür gibt es auf kommunaler Ebene einige Beispiele. Etwa in Erkelenz. Dort tritt Katharina Gläsmann bei der Kommunalwahl als Bürgermeisterkandidatin der SPD an. Als sie im Alter von 16 Jahren in die Partei eintrat, gab es im Ortsverein nur zwei aktive weitere Frauen, von denen eine ihre Mutter war. In diesem Jahr konnten auf der Wahlliste der SPD Erkelenz 40 Prozent der Plätze weiblich besetzt werden. Gläsmann erzählt, sie sei aktiv auf Frauen zugegangen. „Viele haben nur darauf gewartet, angesprochen zu werden.“
Dass Frauen für die Besetzung politischer Ämter und Mandate gefunden werden können, wenn man sich um sie bemüht, entspricht auch der Erfahrung von Sibylle Keupen. Die Vorsitzende des Frauennetzwerks in der Städteregion Aachen, Jahrgang 1963, sieht sich als Mentorin für jüngere Frauen, die politisch tätig werden wollen. Obwohl sie selbst keiner Partei angehört, gibt sie ein Rollenvorbild vor: Keupen, Mutter zweier erwachsener Söhne, tritt bei der Kommunalwahl in Aachen als Oberbürgermeisterkandidatin an. Unterstützt wird sie von den Grünen. Das Amt ist umkämpft, neben Keupen haben zehn männliche Bewerber ihren Hut in den Ring geworfen. So viel Auswahl gab es in der Stadt nie zuvor bei einer Oberbürgermeisterwahl.
Frauen könnten Kommunalpolitik sachlicher machen
Keupen ist überzeugt: Bürgerinnen und Bürger wollen gerade auf der lokalen Ebene ideologiefreie, pragmatische Sachpolitik – und genau das sei die Stärke von Frauen. Es ist eine Einschätzung, die Keupen mit vielen Lokalpolitikerinnen im CrowdNewsroom teilt: Fast 40 Prozent von ihnen erwarten, dass die politische Kultur sich mit mehr Frauen im Amt verändern würde – hin zu weniger Machtgehabe und besserer Kommunikation. Belege, dass das tatsächlich so sein könnte gibt es bislang – aus Gründen – nicht.
Mehr Sachlichkeit und Pragmatismus erwartet jede sechste Frau. Ihr Eindruck sei, „dass sich Frauen als Mandatsträgerinnen weniger wichtig nehmen und offener für andere Standpunkte“ seien, sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen in Tecklenburg, Marlies Saatkamp. Dass sich nichts verändern würde, glauben 16 Prozent der Männer – aber nur drei Prozent der Frauen.
Keupen verweist gerne auf Köln. Die größte Stadt Nordrhein-Westfalens hat als bislang einzige von 22 kreisfreien Städten im Land eine Frau an der Verwaltungsspitze. Die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker verdankt ihre Wahl einem bunten Bündnis aus Grünen, Christ- und Freidemokraten sowie einer Wählergruppe. Frauen könnten solche an Sacharbeit orientierten Zusammenschlüsse demnach eher ermöglichen als Männer und althergebrachte Strukturen und Seilschaften aufbrechen. Für diesen Wandel sieht Keupen ihre Geschlechtsgenossinnen besser vorbereitet als die Männer mit ihren Ritualen und Erbhöfen. „Frauen sind die Zukunft der Kommunalpolitik“, sagt sie.
Hinweis: Der Text wurde am 21.08.20, 20 Uhr aktualisiert.
Mitarbeit
Jonathan Sachse (Leitung), Bianca Hoffmann (Projektkoordination), Max Donheiser (Datenrecherche), Jolinde Hüchtker (Text und Recherche), André Ricci (Text und Recherche), Michel Penke (Recherche und Redigatur), Justus von Daniels (Redigatur), Frederik Richter (Redigatur)