Bildung

„Startchancen“ für Kinder: Der Rechentrick hinter der Bildungsoffensive

Das Startchancen-Programm soll die Trendwende im Bildungssystem einleiten. Angekündigt sind 20 Milliarden Euro für benachteiligte Kinder. Doch Recherchen von CORRECTIV.Lokal zeigen, wie in das großangelegte Schulförderprogramm weniger zusätzliches Geld investiert wird, als es auf den ersten Blick erscheint.

von Sean-Elias Ansa , Stella Hesch , Miriam Lenz

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Besser Schreiben, Lesen und Rechnen: Mit dem neuen Förderprogramm sollen besonders Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte und aus armen Familien gestärkt werden. Foto: redd-f-9o8Y / unsplash.com

Es soll die größte Bildungsoffensive von Bund und Ländern in der Geschichte Deutschlands werden, der Einstieg in die „bildungspolitische Trendwende“. So formulierte es Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) in einer Pressemitteilung zum Startchancen-Programm, das im August startete. In Zahlen: Insgesamt 20 Milliarden Euro sollen über zehn Jahre investiert werden. 10 Milliarden Euro kommen vom Bund, ebenso viel von den Ländern. Davon profitieren jetzt Kinder an gut 2.000 Schulen. Insgesamt sollen 4.000 Schulen gefördert werden. 

Recherchen von CORRECTIV.Lokal zeigen, dass mehrere Bundesländer jedoch kaum zusätzliche Gelder bereitstellen. Stattdessen werden bereits bestehende Förderprogramme für das Startchancen-Programm angerechnet – also einfach umdeklariert. Außerdem startet das Programm chaotisch: Einige Bundesländer konnten zum Programmbeginn nicht einmal mitteilen, nach welchen Kriterien sie die Gelder an die einzelnen Schulen verteilen und wie viel Geld diese jeweils bekommen.

Dass unser Bildungssystem in der Krise steckt, zeigen zahlreiche Studien. Ein Viertel der Kinder in der vierten Klasse in Deutschland kann nicht richtig lesen, jedes fünfte Kind nicht rechnen. Besonders betroffen sind Kinder aus armen Familien und mit Migrationsgeschichte. Sie verlassen häufiger die Schule ohne Abschluss, gehen seltener aufs Gymnasium und nehmen seltener ein Studium auf.

Mit dem Startchancen-Programm sollen Schulen mit einem besonders hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit diesen Biografien gefördert werden. Die Schulen sollen besser ausgestattet werden. Und durch mehr Personal und eine individuelle Förderung sollen am Ende des Programms mehr Schülerinnen und Schüler richtig lesen, schreiben und rechnen können. Oder wie es das Bildungsministerium formuliert: „Ziel ist es, die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik verfehlen, bis zum Ende der Programmlaufzeit an den Startchancen-Schulen zu halbieren.“

Hintergründe zum Startchancen-Programm

Wie wurden die Schulen ausgewählt?

Zum Start des Schuljahrs 2023/24 werden zunächst 2.125 Schulen gefördert. Eine Übersicht der geförderten Schulen steht auf der Webseite des Bildungsministeriums. Die Länder konnten die Schulen anhand eigener Kriterien bestimmen. Der Bund gab nur vor, dass bei der Auswahl die Benachteiligungsdimensionen „Armut“ und „Migration“ berücksichtigt werden müssen. Etwa 60 Prozent der geförderten Schülerinnen und Schüler werden Grundschüler sein. Neben Grundschulen profitieren vor allem weiterführende, aber auch berufliche Schulen vom Startchancen-Programm.

Wofür wird Geld ausgegeben?

Insgesamt investieren Bund und Länder 20 Milliarden Euro zu gleichen Teilen. Mit dem Programm sollen vor allem die Grundkompetenzen Rechnen, Lesen, Schreiben gefördert werden. Die Gelder teilen sich auf drei Fördersäulen auf:

Säule I: Investitionen in eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung
Säule II: Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen in der Schul- und Unterrichtsentwicklung
Säule III: Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams

Heißt konkret: Mit Finanzhilfen des Bundes sollen die Länder ihre Schulen modern ausstatten, die Lernenden individuell unterstützen und zusätzliches Fachpersonal einstellen.

Wie wird die Umsetzung überprüft?

Während der Laufzeit begleitet ein Forschungsverbund das Startchancen-Programm wissenschaftlich. Es wird von Kai Maaz, geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, geleitet.

Gleichzeitig kontrolliert ein externes Institut (noch nicht benannt) das Programm als Ganzes auf seine Wirtschaftlichkeit, Wirkung und Zielerreichung. Dafür hat das Bildungsministerium eine Vergabe ausgeschrieben, die bis zum 2. September 2024 lief.

Auf den ersten Blick lesen sich die zwei Milliarden Euro pro Jahr für das Startchancen-Programm wie eine große Investitionsoffensive. Anfragen von CORRECTIV.Lokal an die Kultusministerien der Länder zeigen jedoch, dass mehrere Länder hunderte Millionen Euro nur verschieben und nicht zusätzlich in Schulen investieren. Wie viele neue Mittel aus den Ländern wirklich jedes Jahr in das Startchancen-Programm fließen, bleibt offen – weder der Bund, noch die meisten Länder geben hier Auskunft.

Auskünfte in vier Bundesländer zeigen: Oft werden große Fördersummen angerechnet

In Niedersachsen stammen rund 80 der knapp 100 Millionen Euro, die das Land im ersten Programmjahr zahlen soll, aus anrechenbaren Maßnahmen. Das Land rechnet vor allem Fördergelder für Beratungsangebote und für mehr Personal an Schulen an. Das niedersächsische Kultusministerium schreibt, dass nach derzeitigem Stand im kommenden Jahr „Maßnahmen im gleichen Umfang“ angerechnet würden. 

Das Saarland finanziert im Programmjahr 2024/25 rund drei Viertel der zu zahlenden elf Millionen Euro über Anrechnungen. Ob in den folgenden Haushaltsjahren Mittel im gleichen Umfang angerechnet werden, beantwortete das Kultusministerium nicht.

In Thüringen fließen tendenziell mehr zusätzliche Mittel. So heißt es auf Anfrage, dass von den 23 Millionen Euro der jährlichen Landesmittel durchschnittlich nur „etwa 2 Millionen Euro aus bestehenden Programmen“ angerechnet werden.

Bremen beantwortete die Frage von CORRECTIV.Lokal zwar nicht, Schätzungen zum Umfang der anrechenbaren Maßnahmen sind aber auf der Seite des Rathauses (PDF-Download) einsehbar: Während der gesamten Programmlaufzeit muss sich das Land mit rund 100 Millionen Euro beteiligen, davon sollen etwa drei Viertel der Gelder aus bereits bestehenden Maßnahmen stammen.

Diese Länder schweigen, wie hoch sie benachteiligte Kinder zusätzlich fördern

Die Antworten anderer Länder lassen nur erahnen, dass wohl ein Großteil der Landesgelder für das Startchancen-Programm bereits längst eingeplant ist. 

So teilt das sächsische Kultusministerium mit, dass in Sachsen Schulen bereits durch Förderprogramme unterstützt würden, die als „Kofinanzierung in Anrechnung gebracht“ würden und den Förderbetrag des Bundes für Sachsen „bei Weitem übersteigen“. Und ein Sprecher des hessischen Kultusministeriums kritisiert, dass das Programm „bei Weitem kein Jahrhundert-Programm ist, wie vom Bundesbildungsministerium gerne propagiert wird“, dafür passiere in Hessen schon zu viel.

In Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz könne noch keine finale Antwort gegeben werden. Das Programm befinde sich noch im Aufbau, die Verhandlungen seien noch nicht abgeschlossen, hieß es auf Anfrage. Bayern, Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein beantworteten die Frage teils auch nach mehrfacher Nachfrage nicht, obwohl sie gegenüber der Presse zur Auskunft verpflichtet sind. 

Startchancen-Programm: Zu wenig Geld, um die Programmziele zu erreichen

Schon jetzt kritisieren Bildungsexperten, dass es ohnehin mehr als die angekündigte Summe von 20 Milliarden Euro bräuchte. Dazu zählt Michael Wrase, Bildungsrechtler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Um Bildungsarmut tatsächlich abbauen zu können, seien zwischen „drei und vier Milliarden Euro pro Jahr“ notwendig, sagt Wrase, der als Mitglied eines Expertenforums die Details des Startchancen-Programms kennt.

Dass erfolgreiche Maßnahmen auf das Programm angerechnet und fortgesetzt werden, kann Wrase nachvollziehen. Wie das Bildungsministerium das Startchancen-Programm darstellt, hält er allerdings für „Augenwischerei“.

Neben den Landesgeldern, die lediglich umdeklariert werden, müssen aber auch die zehn Milliarden Euro vom Bund im Verhältnis gesehen werden. Zwar höre sich das „nach wahnsinnig viel Geld an“, sagt Bildungsrechtler Wrase, es müsse aber bedacht werden, dass 40 Prozent der Bundesmittel in bauliche Investitionen an den Schulen fließen: „Das zahlt nicht unmittelbar auf das Ziel ein, die Kernkompetenzen der Schüler und Schülerinnen zu verbessern.“ Hinzu kommen weitere 150 Millionen Euro, die der Bund während der gesamten Laufzeit etwa für die wissenschaftliche Begleitung und Evaluierung nutzt.

Grafik zu der Verteilung der 10 Milliarden Euro vom Bund.
40 Prozent der Bundesmittel zahlen nicht unmittelbar auf das Ziel ein, Kernkompetenzen zu verbessern. Credits: CORRECTIV / Sebastian Haupt.

Kai Maaz, Geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation, sieht die Programmziele dadurch aber nicht bedroht. Auch wenn die 20 Milliarden Euro im Programm „nicht alle frisch“ seien. Er wird die wissenschaftliche Begleitung des Programms während der gesamten Laufzeit leiten. Wichtig sei, dass es nicht beim Anrechnen bleibt: „Erfolgreiche Maßnahmen müssen sinnvoll in die Logik des Startchancen-Programms eingespeist werden.“

Das Schulförderprogramm für Kinder startet holprig

Wie das konkret aussehen soll, steht noch nicht fest. Und auch wie viel Geld die Schulen für welche Maßnahmen bekommen und nach welchen Kriterien das Geld an sie verteilt wird, war in vielen Bundesländern zum Programmstart noch unklar. Brandenburg teilte hierzu etwa mit: „Das Programm befindet sich im Aufbau, die Planungs-, Abstimmungs- und Implementierungsprozesse laufen noch.“ Die Antwort auf die Frage, wann das Land die Kriterien für die Geldvergabe festlege: „Wenn die Abstimmungsprozesse abgeschlossen sind.“ Sachsen-Anhalt erklärt, dass eine Antwort erst zu „einem deutlich späteren Zeitpunkt“ möglich sei.

Laut Maaz braucht es für die nächsten Wochen und Monate ein gewisses „Erwartungsmanagement“: „Die Länder stehen sehr unterschiedlich da. Einige sind schon gestartet, arbeiten bereits mit externen Begleitungen zusammen, andere noch nicht.“ Das müsse erst „synchronisiert“ werden, so Maaz. Hierfür hätten sich die Wissenschaft und auch die Ministerien „mehr Vorlauf gewünscht“.

Einen „Paradigmenwechsel“ stelle das Startchancen-Programm trotzdem dar, so Maaz: „Anders als in anderen Förderlinien, wird ein systemischer Blick auf die Entwicklung von Schulen und Kompetenzen und die Reduzierung von Bildungsungleichheiten gelegt, der auch die Kultusministerien und Bildungsverwaltungen miteinschließt. Im Idealfall in einer länderübergreifenden Förder- und  Entwicklungslogik.“ Dies sei –  in Anbetracht des deutschen Föderalismus – ein „innovativer Ansatz“. Und auch Wrase sieht Potenzial, gerade weil das Bildungsministerium immer von einem „lernenden Programm“ spreche: „Es kann weiterentwickelt werden – je nachdem wie selbstkritisch tatsächlich mit dem Startchancen-Programm umgegangen wird.“

Wir bleiben am Startchancen-Programm dran:

Dieser Text ist der Auftakt – ab jetzt bleibt CORRECTIV.Lokal mit seinem deutschlandweiten Lokaljournalismus Netzwerk am Thema dran. Wir wollen wissen: Kommt das Geld bei den Schulen und Kindern an, die es am meisten brauchen? Wofür wird das Geld konkret ausgegeben? Werden die Ziele des Programms erreicht? Wie groß ist der Verwaltungsaufwand? Und entwickelt sich tatsächlich ein positiver Wandel im deutschen Bildungssystem?

Um diese Fragen beantworten zu können, sind wir auf Sie angewiesen. Uns interessieren die Erfahrungen von Schulrektorinnen, Lehrkräften, Eltern, Psychologen, Sozialarbeiterinnen und anderen Menschen, die einen Einblick ins Startchancen-Programm und das Bildungssystem in Deutschland haben. Zuletzt haben sich tausende Menschen, die unseren Spotlight-Newsletter lesen, an der Recherche „Gemeinsam Aufgedeckt“ beteiligt. Darauf wollen wir aufbauen und freuen uns über einen engen Austausch. Schreiben Sie an unsere Reporterin Miriam Lenz oder nutzen Sie weitere Kontaktwege, wie den anonymen Briefkasten.

Recherche: Sean-Elias Ansa, Stella Hesch, Miriam Lenz, Till Eckert
Redaktion: Jonathan Sachse, Pia Siber
Faktencheck: Sean-Elias Ansa