Frauenhäuser in der Pandemie: 92 Mitarbeiterinnen berichten über den prekären Alltag
Das Hilfesystem für gewaltbetroffene Frauen und Kinder weist gravierende Lücken auf. Corona verschärft das Problem gleich doppelt: Maßnahmen zur Virusbekämpfung erschweren die tägliche Arbeit – und im Lockdown nimmt Häusliche Gewalt zu. Dutzende Mitarbeiterinnen aus Frauenhäusern berichten ungeschönt über die Verhältnisse vor Ort.
„Schutz und Zuflucht“ verspricht das Frauenhaus im ostniedersächsischen Peine im Internet. Darunter steht eine Telefonnummer. Sie zu wählen, kann der Beginn eines neuen Lebens sein. Der erste Schritt raus aus der Gewalt. Der Anruf kostet Mut. Und er endet oft mit einer Enttäuschung, weil das Frauenhaus schon voll belegt ist. „Wir vermitteln jedes Jahr mehr Frauen weiter, als wir aufnehmen können“, erzählt uns deren Leiterin Nicole Reinert.
Dadurch erhalten gewaltbetroffene Frauen immerhin Schutz, wenn auch nicht in der Einrichtung ihrer Wahl. Aber wie zuverlässig funktioniert die Weitervermittlung? CORRECTIV.Lokal hat Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern aus ganz Deutschland gebeten, sich vertraulich zu äußern. 92 schilderten uns ihre Erfahrungen über den CrowdNewsroom, einer Online-Plattform von CORRECTIV für Recherchen mit Bürgerinnen und Bürgern. Davon, Frauen in Not nicht aufnehmen zu können, berichteten praktisch alle. Die Einrichtungen seien voll gewesen, geben die meisten als Grund an. Vereinzelt geht es auch um ungesicherte Finanzierung, zum Beispiel bei Studentinnen, oder fehlende Aufenthaltstitel bei Migrantinnen. Nicht immer gelingt es, Frauen nach einer entmutigenden Absage in eine andere Einrichtung zu vermitteln und damit in Sicherheit zu bringen.
Hilfesystem am Limit
CORRECTIV.Lokal und weitere Kooperationspartner, darunter zahlreiche Lokalmedien, haben mit einigen Mitarbeiterinnen vertiefende Gespräche geführt, die sich über den CrowdNewsroom meldeten. Zudem haben wir für fünf Bundesländer die Belegungsdaten aller Frauenhäuser für mehrere Monate ausgewertet. Die Zahlen belegen, dass dutzende Einrichtungen im vergangenen Jahr über Wochen oder Monate keine freien Plätze anbieten konnten, teilweise mussten sie hunderte Frauen abweisen. Mitten in der Pandemie, in der Fälle häuslicher Gewalt zunehmen und Betroffene noch schwerer als sonst eine sichere Bleibe etwa in Pensionen oder bei Vertrauenspersonen finden können, gerät das auf Kante genähte deutsche Hilfesystem an seine Grenzen.
In der Krise wird schmerzlich sichtbar, was eigentlich lange bekannt ist: In Deutschland gibt es viel zu wenige Schutzplätze für Opfer häuslicher Gewalt. Mit bundesweit rund 370 Frauenhäusern und einer einstelligen Zahl von Schutzeinrichtungen für gewaltbetroffene Männer werden die Ziele, zu denen sich die Bundesrepublik durch die Istanbul-Konvention gegen häusliche Gewalt feierlich bekennt, deutlich verfehlt. Der Europarat empfahl schon 2006 einen Frauenhausplatz pro 7.500 gemeldete Personen. Das ergibt für Deutschland Ende 2020 einen Mangel von fast 3.900 Plätzen, wie CORRECIV.Lokal vergangene Woche berichtete.
Das ist fatal. Gerade für besonders vulnerable Opfer Häuslicher Gewalt, die über wenige soziale Kontakte und geringe finanzielle Mittel verfügen, ist der Umzug ins Frauenhaus oder in eine Schutzwohnung oft die einzig sichere Möglichkeit, einem gewalttätigen Partner zu entkommen. Mitarbeiterinnen schildern uns ungeschönt, wo die größten Probleme liegen, wie die Pandemie den Arbeitsalltag in Frauenhäusern zusätzlich erschwert und was in den kommenden Wochen und Monaten zu erwarten ist.
Ungewisses Schicksal abgewiesener Frauen
Was tun die Einrichtungen, wenn sich Opfer Häuslicher Gewalt bei ihnen melden und sie keine freien Plätze mehr haben? „Wir fragen die Frau, ob sie auch in eine andere Stadt gehen würde. Bejaht sie das, bemühen wir uns, den Kontakt zu einem Frauenhaus mit freien Plätzen herzustellen“, berichtet Frauenhausleiterin Reinert. Irgendwo in Niedersachsen ist stets etwas frei. Aber so eine Vermittlung gestaltet sich oft zeitaufwendig, und das Frauenhaus ist personell eng besetzt. „Manchmal müssen wir in einer Woche vier bis fünf Anfragen ablehnen. Da können wir nicht jeden Fall begleiten.“ Als Notlösung bekommt die schutzsuchende Frau dann lediglich die Telefonnummer eines Frauenhauses mitgeteilt, in dem es noch freie Plätze geben soll – verbunden mit der dringenden Bitte, sich erneut zu melden, falls sie keinen Erfolg haben sollte. Zu einem zweiten Anruf kommt es aber fast nie. Vielleicht ein gutes Zeichen. Vielleicht das Gegenteil.
Deutschlandweite Recherche zu Häuslicher Gewalt
Dieser Artikel ist Teil einer Rechercheserie von CORRECTIV.Lokal mit zahlreichen Lokalmedien und BuzzFeed News. Deutschlandweit haben Lokalmedien als Teil des Netzwerkes von CORRECTIV.Lokal eigene Geschichten zum Thema recherchiert und werden in den kommenden Wochen weiter darüber berichten. Auf unserer Themenseite finden Sie die Veröffentlichungen aller Medien und können einen Newsletter abonnieren, um über Neuigkeiten zum Thema informiert zu werden.
Mit der Lockerung kommt die Welle
Reinert berichtet, dass die Nachfrage nach Plätzen in ihrer Einrichtung während des ersten Lockdowns im vergangenen Frühling sank. Auch aktuell sei die Belegung unterdurchschnittlich. Das lasse sich am ehesten damit erklären, dass Frauen während eines Lockdowns schlechter fliehen könnten, sie das Familienkonstrukt während dieser ohnehin schwierigen Zeit noch aufrechterhalten wollten oder schlicht Angst vor einer Corona-Infektion in den beengten Verhältnissen eines Frauenhauses hätten.
Doch sobald sich die Corona-Situation etwas entspanne, verändere sich die Lage. „Als der erste Lockdown 2020 endete, stieg die Zahl der Anfragen und wir waren schnell voll“, erinnert sich Reinert. „Ich rechne stark damit, dass es nach diesem Lockdown erneut einen Anstieg geben wird. Das wird das Hilfesystem insgesamt betreffen, nicht nur die Frauenhäuser.“ Vorbereitet fühle sie sich nicht. „Selbst wenn es uns gelingen würde, eine zusätzliche Schutzwohnung anzumieten, wäre unklar, ob wir das personell auffangen könnten.“
Vom Staat allein gelassen
Ähnliche Erfahrungen hat auch Christine Degel in den vergangenen Monaten gemacht. Sie leitet das Frauenhaus in Darmstadt. Im Spätsommer fragten Frauen häufiger als im ersten Lockdown nach einer Unterkunft.
Der Platzmangel ist nicht das einzige Problem, dem sich Frauenhäuser in der Pandemie gegenübersehen.
In unserer CrowdNewsroom-Befragung berichten Mitarbeiterinnen von weiteren aktuellen Herausforderungen.
Wenn Frauen in ein Frauenhaus aufgenommen werden, stehen die Mitarbeiterinnen vor einem Dilemma: Die neu angekommenen Frauen befinden sich in einer Ausnahmesituation, brauchen sofort Schutz und emotionale Unterstützung. Gleichzeitig müssen die Mitarbeiterinnen und die anderen Bewohnerinnen und Kinder im Frauenhaus vor einer möglichen Infektion geschützt werden. Denn die Frauen leben häufig auf wenig Raum zusammen, teilen sich Küche und Bad.
Corona-Tests bei der Aufnahme ins Frauenhaus sind jedoch noch immer keine Selbstverständlichkeit. Degel und ihre Kolleginnen können neu aufgenommene Frauen erst seit wenigen Wochen testen. Bis sie Fördergelder vom Staat bekamen, um Schnelltests kaufen zu können, mussten sie Monate warten. Die Frauenhausleiterin aus Darmstadt fühlt sich vom Staat allein gelassen. „Ich sehe die öffentliche Hand in der Pflicht, Einrichtungen wie Frauenhäuser damit zu versorgen“, sagt Degel.
Ein Frauenhaus unter Quarantäne
Was es für ein Frauenhaus bedeutet, wenn sich eine Bewohnerin mit Corona infiziert, weiß Ruth Syren aus eigener Erfahrung. Die Sozialpädagogin leitet seit 1996 das Heckertstift in Mannheim, ein Frauenhaus der Caritas. Ende März 2020, zu Beginn des ersten Lockdowns, erkrankte eine Bewohnerin an Covid-19 und kam ins Krankenhaus. Auf einmal stand das ganze Frauenhaus unter Quarantäne.
„Ich brauchte eine Ausnahmegenehmigung, um überhaupt noch ins Frauenhaus zu kommen“, erzählt Syren. „Wir konnten die Frauen ja nicht alleine lassen.“ 25 Personen lebten damals im Heckertstift. Frauen und Kinder, die von den Mitarbeiterinnen plötzlich mit Essen und Hygieneartikeln für zwei Wochen versorgt werden mussten. In einer Zeit, als in Supermärkten die Regale leer gefegt waren, Grundnahrungsmittel und Toilettenpapier rationiert wurden.
„Wir waren dann erstmal einen ganzen Tag unterwegs, um einzukaufen“, erzählt Syren. „Das war wirklich eine Katastrophe.“ Am Ende half dem Heckertstift, dass es zu einem großen Verband gehört. Ehrenamtliche der Caritas halfen in den folgenden zwei Wochen beim Einkaufen. Doch zum Frauenhaus selbst konnten sie die Einkäufe nicht bringen. Denn wo genau das Haus liegt, muss zum Schutz der Frauen geheim bleiben. Das erschwert Hilfe von außen ungemein.
Dort können Sie sich melden:
Sie leiden unter häuslicher Gewalt oder machen sich Sorgen um ein Kind? Sie fühlen sich als Elternteil überfordert oder neigen selbst zu Gewaltausbrüchen? An diese Anlaufstationen können Sie sich wenden:
- Übersicht aller Frauenhäuser auf den Webseiten des Vereins Frauenhauskoordinierung und der Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser
- Hilfetelefon: „Gewalt gegen Frauen“: 08000 116016
- „Nummer gegen Kummer“: Elterntelefon: 0800 111 0 550 und Kinder und- Jugendtelefon: 116 111
- Werdende Eltern und Eltern mit Kindern unter drei Jahren: Nationales Zentrum Frühe Hilfen
- Hilfe und Beratung für Tatbegehende
- Hinweise der Polizei für Betroffene mit Migrationshintergrund und Bezeugende von Gewalt im sozialen Nahbereich
Überforderte Ämter
Doch das war nicht das einzige Problem. „Viele Ämter haben während der Pandemie ihre Arbeit komplett reduziert“, erzählt Syren. Mitarbeitende der Ämter seien schlecht erreichbar, Anträge hätten am Anfang nicht zum Download zur Verfügung gestanden. Auch aktuell dauere die Bearbeitung viel länger als sonst. Nicht nur in Mannheim. Immer wieder berichteten uns Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser von diesen Problemen.
„Oftmals haben die Frauen keine eigene Bankverbindung“, sagt Syren. Diese sei aber notwendig, damit das Jobcenter ihnen Leistungen überweise. Und um vor Ort ein neues Bankkonto eröffnen zu können, müssten sie ihren neuen Wohnsitz anmelden. Das dauere teilweise monatelang. „Da fehlt schlichtweg Geld.“
In solchen Fällen sei das Heckertstift in Absprache mit dem Jobcenter in Vorleistung gegangen oder habe das Konto des Frauenhauses für Überweisungen zur Verfügung gestellt. „Es gibt für alles immer Lösungen. Die sind aber langwieriger und beschwerlicher.“ Und erfordern Kapazitäten, die die personell knapp besetzten Frauenhäuser selten haben.
Im CrowdNewsroom berichten Mitarbeiterinnen von weiteren Herausforderungen, die unabhängig von der Corona-Pandemie bestehen:
Wenn Infektionsschutz zu Finanzierungslücken führt
In den vergangenen Monaten haben Syren und ihre Kolleginnen in Mannheim zahlreiche Maßnahmen umgesetzt, um eine weitere Corona-Infektion im Haus zu verhindern. Inzwischen gibt es beispielsweise ein eigenes „Quarantäne-Stockwerk“. Vier der 18 Zimmer im Frauenhaus werden dauerhaft für Neuaufnahmen oder Verdachtsfälle freigehalten.
Dadurch kann das Heckertstift aber auch weniger Frauen aufnehmen. Das ist ein Problem für die Finanzierung des Hauses. „Wir bekommen die Finanzierung darüber, dass Zimmer belegt sind. Und wenn ein Zimmer nicht belegt ist, dann ist es nicht finanziert“, erklärt Syren. „Letztendlich führt das dazu, dass die Frauenhäuser in Baden-Württemberg in echte Finanzierungsprobleme kommen.“
Wie Frauenhäuser in Deutschland finanziert werden, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, teilweise sogar von Kommune zu Kommune. In Baden-Württemberg werden sie über Tagessätze finanziert, die die Bewohnerinnen für die Unterbringung und Betreuung bezahlen müssen. Im Heckertstift liegt der Tagessatz insgesamt bei knapp 55 Euro pro Person. Wenn die Frauen berechtigt sind, Sozialleistungen zu beziehen, übernimmt das Jobcenter die Kosten.
Syren wünscht sich staatliche Unterstützung, um Finanzierungsdefizite der Frauenhäuser während der Corona-Pandemie auszugleichen. Sie fragt sich, warum der Lufthansa wegen der Corona-Krise eine Milliardenhilfe vom Bund zugesagt wurde und die Frauenhäuser um jede vergleichsweise kleine Finanzspritze kämpfen müssen.
Syren hofft, dass die Erfahrungen aus der Pandemie dazu führen, dass die Frauenhäuser in Zukunft besser ausgestattet werden.
Hoffnung auf Istanbul-Konvention schwindet
Dass die Zahl der Schutzplätze steigt und Frauenhäuser bundesweit solide finanziert werden, fordern nicht nur viele Menschen, die im Hilfesystem arbeiten und seine Schwächen kennen. Es ist auch eine Vorgabe der Istanbul-Konvention. „Die Vertragsparteien stellen angemessene finanzielle und personelle Mittel bereit“, heißt es dort etwas schwammig. Was ist „angemessen“? Die geltenden Finanzierungsregelungen jedenfalls seien von „Lückenhaftigkeit, Inkonsistenz und Komplexität“ geprägt, schreibt der Deutsche Juristinnenbund in einem Themenpapier. Deutschland unterschreite damit „den Mindeststandard“, so das vernichtende Urteil der Juristinnen.
„Als die Konvention 2017 ratifiziert wurde, hatte ich große Hoffnungen“, erinnert sich Reinert, die Leiterin des Peiner Frauenhauses. Aber Beschäftigte in den Ämtern vor Ort wüssten gar nicht, wovon sie spreche, wenn sie sich auf die Konvention berufe. Sie registriere durchaus, dass Frauenhäuser durch das Abkommen und auch durch die Pandemie mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekämen. Doch auf die Frage, ob sie gut drei Jahre nach der Ratifizierung der Istanbul-Konvention Auswirkungen auf die praktische Frauenhausarbeit spüre, gibt sie nach kurzem Nachdenken eine knappe Antwort: „Nein.“
Auf unserer Themenseite finden Sie weitere Veröffentlichungen zum Thema Häusliche Gewalt.