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Opfer verklagt Ex-Papst Benedikt XVI. im Missbrauchsskandal

Für die katholische Kirche könnte dieser Fall noch schwere Folgen haben. Ein Opfer sexuellen Missbrauchs verklagt nicht nur den Missbrauchspriester Peter H., sondern auch Verantwortliche bis hin zum ehemaligen Papst Benedikt XVI., Joseph Ratzinger. Die Taten sind zwar verjährt, doch ein Anwalt versucht es nun mit einem juristischen Kniff. CORRECTIV, der Zeit und dem BR liegt die Klage vor.

von Marcus Bensmann , Justus von Daniels , Gabriela Keller

Papst Benedikt in Bayern - Freising
Papst Benedikt XVI. während eines Gottesdienst im Dom von Freising. Foto: Daniel Karmann / dpa

Update vom 26.09.2022. Das Landgericht Traunstein hat das Vorverfahren in einem Missbrauchsfall der katholischen Kirche eingeleitet, wie Unterlagen bestätigen, die CORRECTIV, der Bayerische Rundfunk und die Wochenzeitung Zeit einsehen konnten. Die Feststellungsklage vor einem Zivilgericht richtet sich auch gegen Papst Emeritus Benedikt XIV., dem eine Mitverantwortung vorgeworfen wird. Die Beklagten haben zwei bis vier Wochen Zeit, die „Absicht zur Verteidigung“ zu erklären.

Muss sich der ehemalige Papst Benedikt XVI. doch noch wegen Mitverantwortung für den Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche vor einem weltlichen Gericht verantworten? Wenn es nach einem Opfer des Priesters H. und dessen Anwalt geht, dann ja.

Seit Freitag liegt dem Landgericht Traunstein nach Informationen von CORRECTIV, dem BR und der Zeit eine zivilrechtliche Klage vor. Sie richtet sich zum einen gegen den ehemaligen Priester Peter H., einen notorischen Missbrauchstäter innerhalb der katholischen Kirche, über den auch CORRECTIV seit 2020 berichtet. 

Das Verfahren geht aber noch deutlich weiter: Verklagt wird nicht nur der Täter selbst, sondern auch noch Kardinal Friedrich Wetter, Kardinal Joseph Ratzinger – also Papst emeritus Benedikt XVI. – und das Erzbistum München und Freising. Ein Sprecher des Erzbistums sagte, dass es sich nicht zu einem laufenden Verfahren äußern werde. Priester H. und der Vatikan haben auf Anfragen bis Redaktionsschluss nicht reagiert.

Der Kläger ist ein Mann aus Bayern. Auf seinen Wunsch hin soll er in diesem Bericht Julian Schwarz heißen. H. hat ihn vor mehr als 26 Jahren missbraucht. Die Tat hat H. in einem Kirchenverfahren vor einigen Jahren eingestanden. Eigentlich wäre die Tat verjährt. Aber der Anwalt des inzwischen 38 Jahre alten Mannes hat womöglich einen Weg gefunden, den Fall doch noch vor ein weltliches Gericht zu bringen.

Der ehemalige Priester H. konnte mehr als 30 Jahre lang in Nordrhein-Westfalen und Bayern dutzende Jungen missbrauchen, auch weil die katholische Kirche ihn deckte. Bischöfe und Kardinäle schwiegen und vertuschten seine Taten. Selbst als sich Hinweise auf immer neue Missbrauchsfälle in seinen Gemeinden häuften, ließen sie ihn weiter unbehelligt.

Die Kirche soll vor ein weltliches Gericht

Dass die Kirchenoberen in diesem Fall eine Mitverantwortung tragen, haben bereits ein innerkirchliches Dekret sowie ein Gutachten im Auftrag der Kirche benannt. Ziel von Schwarz’ Klage ist nun, dass ein weltliches Zivilgericht die Verantwortung des Täters und der Kirchenoberen feststellt. Es geht dabei zunächst nicht um Schadenersatz, sondern um Gerechtigkeit.

Es gehe um „eine gesamtschuldnerische Haftung“, sagt Schwarz’ Rechtsanwalt Andreas Schulz gegenüber CORRECTIV. Diese gelte auch für den Ex-Papst Joseph Ratzinger. Als der Missbrauchstäter H. wegen früherer Missbrauchstaten nach Bayern versetzt wurde, amtierte dieser als Erzbischof von München und Freising: „Er hatte Kenntnis von allen Umständen“, so die Einschätzung des Juristen. „Und er hatte zumindest das Delikt in Kauf genommen, weil er wusste, dass dieser Priester ein Wiederholungstäter ist.“ Aus diesem Grund gilt für den Anwalt eine „gesamtschuldnerische Haftung“ für Ratzinger, für Wetter und für das Erzbistum München und Freising für die „Duldung“ des sexuellen Missbrauchs an dem Kläger. Anwalt Schulz sieht die Bischöfe und das Erzbistum als „Mittäter“ an.  Der Ex-Papst bestreitet, damals Kenntnis von den Vorwürfen gegen H. gehabt zu haben. 

Der Rechtsanwalt Andreas Schulz steht mit der Papstklage in Berlin.
Rechtsanwalt Andreas Schulz mit der Papstklage. Foto: Privat

Damit steht viel auf dem Spiel, für die Missbrauchsopfer, aber vor allem für die katholische Kirche. 

Die Klage, die CORRECTIV, dem BR und der Zeit vorliegt, könnte die Lage von Opfern sexuellen Missbrauchs grundlegend verändern. Bislang sind Betroffene oft juristisch machtlos. Viele können lange nicht über die erlebten Taten sprechen, geschweige denn gegen die Täter vorgehen. Und wenn sie soweit sind, sind lange zurückliegende Taten oft verjährt. 

Der Anwalt versucht es nun mit einer ungewöhnlichen juristischen Taktik, die beim Thema Missbrauch bisher niemand ausprobiert hat: Es handelt sich um eine sogenannte Feststellungsklage, die die Verjährung umgehen soll. Ziel des Klägers ist, dass das Gericht einen zivilrechtlichen Schaden aus dem widerfahrenen Unrecht lediglich feststellt. 

Haftet die Kirche für Missbrauch als System?

Schulz bezieht sich bei der Klage unter anderem auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes. Dieses verfügte vor knapp zehn Jahren, dass nur der Leistungsanspruch an sich verjähren kann – nicht aber der Anspruch auf dessen Feststellung. Vereinfacht gesagt: Ein Gericht könne immer noch urteilen, dass ein Schaden entstand, auch wenn der Anspruch auf eine Geldzahlung verjährt sein sollte. 

Falls die Klage durchkommt, könnte die Kirche massiv unter Druck geraten. Sie wäre gezwungen, sich vor einem weltlichen Gericht auch mit anderen bisher als verjährt eingestuften Missbrauchstaten auseinanderzusetzen. 

Für Andreas Spickhoff, Professor für Bürgerliches Recht an der Ludwig-Maximilian- Universität München, müsste bei diesem Ansatz allerdings die Kirche mitmachen. „Diese Möglichkeit besteht“, sagt Spickhoff, aber es sei Sache der Beklagten, zu entscheiden, „ob die Verjährungseinrede erhoben wird oder nicht“. Also, ob sich der Beklagte auf die Verjährung beruft. Die Klage betrete Neuland, die „Konstruktion einer Feststellungsklage auf einen verjährten Anspruch“ gebe es so bislang nicht. 

Der ehemalige Erzbischof von München und Freising, Friedrich Wetter, sagte auf Anfrage von CORRECTIV, dem BR und der Zeit, dass er die Klage noch nicht gesehen habe, aber keinen Antrag auf Verjährung stellen wolle.

Über den Fall Peter H. wurde viel berichtet, auch international. CORRECTIV hat in den vergangenen Jahren mehrfach dazu recherchiert und den Missbrauchsskandal sowie die Verstrickung der katholischen Kirche in diesem Fall mit aufgedeckt. Wie viele Jungen der frühere Pfarrer Peter H. missbrauchte, ist unbekannt. Beobachter gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Der Kläger Schwarz wurde von H. missbraucht, als dieser Pfarrer in dem bayerischen Gemeindeverband Engelsberg und Garching an der Alz war.

Der Priester lockte mit Geld – was blieb, sind Scham und Ekel

Julian Schwarz wuchs in Engelsberg auf. Er war etwa zwölf Jahre alt, als er den Priester mit einem Freund im Pfarrhaus besuchte. Ein anderer Junge hatte ihm gesagt, bei dem Pfarrer könne man sich etwas Geld verdienen, erinnert sich Schwarz. Was man dafür tun sollte, habe er nicht dazu gesagt. 

Pfarrer H. wurde damals in der Gemeinde verehrt. Er lockte die Jungen mit Geld ins Pfarrhaus, um ihnen Pornofilme vorzuführen und sie zum gemeinsamen Onanieren zu bringen. Das Erlebte ließ ihn mit Scham und Ekel zurück. Danach tat der Junge etwas, was sich die wenigsten Missbrauchsopfer trauten. Er sagte es seiner Mutter. Doch sie glaubte ihm nicht. Sie warf dem Sohn vor zu lügen, sagt Schwarz.

Der Jugendliche geriet ins Abseits. Er riss nach Hannover aus, lebte auf der Straße, betäubte sich mit Drogen und Psychopharmaka, wurde straffällig und verbüßte Haftstrafen. „Mein Konsum wurde immer exzessiver, sodass ich eigentlich schon mehr oder weniger im Koma lag“, sagt er. Derzeit verbringt er die letzten Monate im Maßregelvollzug und ist in psychiatrischer Behandlung.

Sein Leben hätte vielleicht ganz anders verlaufen können. Seine Klage stützt sich auf ein ärztliches Gutachten, das den Missbrauch als Ursache für die Drogensucht bestätigt.

War der ehemalige Papst für den Missbrauch mitverantwortlich?

2010 erfuhr die Welt und damit auch die Gemeinden Garching und Engelsberg die Wahrheit über den Pfarrer. Schwarz’ Mutter erinnerte sich an das, was ihr Sohn damals sagte. Nun ermutigte sie ihn, den Missbrauch bei Kirche und Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Doch es war zu spät. Die Tat war verjährt. „Ich finde, bei solchen Sachen gehört keine Verjährung hin, weil das ja eigentlich seelischer Mord ist“, sagt der Kläger im Gespräch mit CORRECTIV, dem BR und der Zeit. „Wenn jemand einen normalen Mord begangen hat, spürt die Person danach nichts mehr. Aber die Kinder, die tragen ihr ganzes Leben in sich.“

Zu H. gab es innerhalb der Kirche schon eine lange Vorgeschichte. 1980 war er wegen Missbrauchsvorfällen vom Bistum Essen diskret ins Erzbistum München und Freising versetzt worden. In dieser Zeit war Kardinal Joseph Ratzinger – der spätere Papst Benedikt XVI. –  für das Erzbistum München verantwortlich.  H. stand bisher erst einmal vor Gericht. Das war 1986 in Bayern. Das Amtsgericht Ebersberg verurteilte ihn wegen Missbrauchs von mehreren Jungen zu einer Bewährungsstrafe. Er hatte auch dort mit den Kindern Pornos angesehen und onaniert. Das Erzbistum München versetzte ihn in den Gemeindeverband Garching an der Alz und Engelsberg in Oberbayern. Ein Weihbischof bot sich an, auf H. aufzupassen und zog 1993 zu dem Priester in die Gemeinde, die er bis zu seinem Tod 2000 gemeinsam mit H. betreute.

Die meisten seiner Opfer haben den Missbrauch lange verdrängt. Viele waren erst nach vielen Jahrzehnten in der Lage, über die erlebte sexualisierte Gewalt zu sprechen. 

Im Januar deckten CORRECTIV und der Bayerische Rundfunk auf, dass der Geistliche H. auch nach seiner Verurteilung 1986 weiter Kinder sexuell missbrauchte. Erstmals hatte ein Betroffener, Stefan, über den erlebten Missbrauch in den 1990er Jahren in Garching an der Alz gesprochen.

Der Bischof verschleierte den Missbrauch

Stefan lernte den damaligen Pfarrer als Messdiener kennen. Ab dem Alter von etwa zwölf Jahren wurde er über mehrere Jahre von dem damaligen Pfarrer missbraucht. Der Jugendliche ging offen im Pfarrheim ein und aus und übernachtete sogar dort. Doch trotz vieler Warnhinweise und auffälligen Verhaltens blieb der Pfarrer unbehelligt. Als auf einem Pfarrfest 1994 der Missbrauch in Garching an der Alz offen angeprangert wurde, wischte der Bischof, der den Priester in der Gemeinde überwachen sollte, den Vorwurf vom Tisch. H. blieb weiter Priester in der Gemeinde und konnte den Missbrauch fortsetzen. Er ließ zwar von Stefan ab, suchte sich später aber den heutigen Kläger Schwarz.

Beides hätte die Kirche verhindern können. Mehr noch: Teilweise wurden mit Wissen von kirchlichen Würdenträgern Hinweise aktiv vertuscht.

Im Hinblick auf rechtliche Folgen ruht sie sich bislang auf der Verjährung aus. Ihre bisherigen Entschädigungen für die Opfer bewertet sie als freiwilliges Entgegenkommen. Das will der Kläger mithilfe seines Anwaltes nun ändern. 

Der Berliner Strafverteidiger Schulz hat schon mit mehreren Prozessen national und international Aufsehen erregt. Er setzt sich für Menschen ein, denen schweres Leid zugefügt wurde. Zum Beispiel erstritt er für die Opfer des Terroranschlages in der Westberliner Diskothek „La Belle“ 1986 von der damaligen libyschen Regierung hohe Schadenersatzzahlungen. Und er vertrat ehemalige Kunden der Alten Apotheke in Bottrop, die jahrelang gestreckte Krebsmedikamente verkauft hatte.

Seit 2017 bereits vertritt Schulz ehemalige Opfer des Priesters H. in NRW und Bayern. 2020 hatte CORRECTIV gemeinsam mit ZDF-Frontal über die Missbrauchstaten H.s berichtet. In dem Beitrag wurde auch der Anwalt genannt. So wurde Schwarz auf ihn aufmerksam und nahm Kontakt zu ihm auf. 

Geheimes Dekret der katholischen Kirche versuchte, Betroffenen als unglaubwürdig darzustellen

In der bayerischen Gemeinde Garching an der Alz setzte die Recherche ebenfalls einen Prozess der Aufarbeitung in Gang: Als Reaktion auf den Bericht gründete sich in dem oberbayerischen Ort die Initiative „Sauerteig“, die sich für Aufklärung einsetzt. 

Die Gruppe will den Kläger Schwarz in dem Verfahren unterstützen. „Hut ab, dass er den Schritt jetzt macht“, sagt Rosi Mittermeier, Mitgründerin der Initiative, die das Verfahren unterstützen will.  

Die Initiative plant, für die anfallenden Klagekosten ein Crowdfunding einzurichten. „Und jeder, der das unterstützen kann, kann 10, 50 oder 100 Euro geben“, sagt Mittermeier.

Rosi und Klaus Mittermeier von der Inititative Sauerteig in Garching an der Alz.
Rosi und Klaus Mittermeier von der Inititative Sauerteig in Garching an der Alz. Foto: Ivo Mayr/ CORRECTV

Längst geht auch die Kirche davon aus, dass die damaligen Vorgesetzten von H. in der katholischen Kirche, der frühere Erzbischof Kardinal Joseph Ratzinger und dessen Nachfolger im Münchner Erzbistum, Kardinal Friedrich Wetter, durch ihr Versagen eine Mitschuld tragen: Ein Dekret, ein innerkirchliches Urteil, von 2016 attestiert den Kardinälen im Hinblick auf den Missbrauch im Fall Peter H. eine Pflichtverletzung. 

Das Dekret war das Ergebnis einer geheimen Untersuchung, die das Erzbistum in Folge des 2010 aufgeflogenen Missbrauchsskandals um Peter H. eingeleitet hatte. Auch der jetzige Kläger wurde damals befragt. Wie innerkirchliche Akten zeigen, waren die Kirchenvertreter aber vor allem daran interessiert, seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern und die Missbrauchstat H.s als einmaligen Rückfall herunterzuspielen. Das Dekret war lange geheim. Es wurde erst im Januar 2022 durch Recherchen der Zeit öffentlich.

Die katholische Kirche setzte den Missbrauchstäter weiterhin als Priester ein

Für die Klage ist das Dekret nun wertvoll. Denn daraus geht hervor, dass H. die Tat zugegeben hat – auch wenn er sie als einmaliges Schauen eines „erotischen Films“ verharmlost.

Und für diesen Missbrauch trügen die Verantwortlichen des Erzbistums München und Freising die Verantwortung, denn sie hätten die straflose Weiterbeschäftigung des Priesters H. erlaubt, so das Dekret.

Ein weiteres zentrales Element für die Klage ist das Münchner Missbrauchsgutachten, das im Januar der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. 

Das Erzbistum München hatte bei einer Münchner Anwaltskanzlei ein unabhängiges Gutachten zum sexuellen Missbrauch in Auftrag gegeben. Der Fall des Priesters H. wurde in einem eigenen Teil behandelt. Die Verstrickung der Bischöfe bis hoch zum Ex-Papst wird in dem Gutachten klar benannt. Die Klage von Schulz stützt sich vor allem auf das Dekret und das Münchner Gutachten. Denn darin sei der Missbrauch und die Verantwortlichkeiten der beklagten Bischöfe bis hin zum Expapst „nach eigenem Vorbringen ein- bzw. zugestanden worden“, heißt es in der Klage.

Die Münchner Anwälte beziehen sich dabei teilweise auf die Recherchen von CORRECTIV zu der Garchinger Zeit von Priester H. und auf die Erkenntnisse der Gemeindeinitiative in Garching. In der Klageschrift greift Anwalt Schulz auch auf das Münchner Gutachten zurück: Die Wiedereinsetzung des Priesters H. in die bayerische Gemeinde nach der Verurteilung „ist nach Dafürhalten der Gutachter ein nicht zu rechtfertigendes und strafrechtlich relevantes Fehlverhalten“.

„Die katholische Kirche konterkariert den modernen Rechtsstaat“

In der Klageschrift wählt Anwalt Schulz deutliche Worte: „Die allseits von der Katholischen Kirche gepriesene Strafaufarbeitung durch eine Täterorganisation hinsichtlich ihrer inkorporierten Täter stellt ein rechtliches Paradoxon im 21. Jahrhundert dar und konterkariert die jahrhundertelange Entwicklung zum modernen Rechtsstaat“, heißt es in der Klage. Unter diesem Satz findet sich – für eine Klageschrift ungewöhnlich –  ein Foto von drei bewaffneten Männern in Anzügen mit Sonnenbrille und Maschinenpistole über der Schulter mit dem Schriftzug: „Vorbild Kirchenstrafrecht. Mafia will ihre Verbrechen künftig selber aufklären.“

Der ehemalige Papst Josef Ratzinger behauptet, er habe damals nicht gewusst, dass der Priester H. zuvor Jugendliche missbraucht habe.

Aus Kirchenakten geht allerdings hervor, dass er offenbar genau über H. informiert war. Die Entscheidung, H. als Pfarrer in dem Erzbistum München und Freising aufzunehmen, trug Ratzinger 1980 mit – ohne aber, so beharrt er weiter, von dessen Taten etwas geahnt zu haben. Für die Gutachter aus München ist das nicht plausibel: Von einem Erzbischof, „der mit umfassender Leitungsmacht ausgestattet ist“, sei zu erwarten, „dass er sich die erforderlichen Kenntnisse“ beschafft. „Für diese Versetzung, ohne die der Missbrauch (…) nicht möglich gewesen wäre, trägt der damalige Erzbischof und Kardinal Ratzinger selbst die Verantwortung“, heißt es mit Bezug auf das Gutachten nun in der Klage.  

Die Klage geht auch auf die andere Funktion des Ex-Papstes ein. Während H. in Garching Stefan und den Kläger Schwarz missbrauchte, war Kardinal Ratzinger Chef der Glaubenskongregation in Rom und damit der zweitmächtigste Mann im Vatikan. Zu dessen Aufgaben gehörte die Bestrafung von Missbrauchstätern. Aber H. konnte unbehelligt weitermachen. In dieser Zeit besuchte Ratzinger mindestens einmal den Bischof in Engelsberg, der auf H. aufpassen sollte. Ratzinger behauptet, er habe von den Vorwürfen gegen H. in Garching nichts gewusst.

Es könnten viele Verfahren folgen

Ratzingers Nachfolger im Münchner Erzbistum, Kardinal Wetter, hat seine Versäumnisse inzwischen zugegeben. Statt die Kinder zu schützen, stimmte auch er nach der Verurteilung H.s zu, den Priester in der Gemeinde in Garching arbeiten zu lassen. Wetter schreibt auf Anfrage von CORRECTIV, Zeit und BR, dass er sich auf den Bischof, der auf H. aufpassen sollte, verlassen habe. 

Foto: privat
Ein Karnevalszug im Garching an der Alz feiert H. und den Bischof, der auf H. aufpassen sollte.

Hätte er anders entschieden, wären wahrscheinlich weder Stefan noch Schwarz missbraucht worden. Das Münchner Gutachten kommt deshalb zum Schluss, Wetter habe sich wegen „Beihilfe zum sexuellen Missbrauch“ schuldig gemacht. Die Klage übernimmt diese Argumentation: Der Beschluss, den Priester im Bereich der Erzdiözese als Pfarrer einzusetzen und ihn dort auch in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv tätig werden zu lassen sei „eine durch nichts zu rechtfertigendes und strafrechtliches Fehlverhalten“. Die weiteren Opfer wurden dabei „nach Dafürhalten der Gutachter zumindest billigend in Kauf genommen“. Wetter bestreitet, Beihilfe zum sexuellen Missbrauch geleistet zu haben.

Jetzt setzt sich mit Julian Schwarz eines der Opfer von damals zur Wehr. Erstmals müssen nun nicht nur H. selbst, sondern auch seine früheren Vorgesetzten fürchten, dass ihre Schuld vor einem staatlichen Gericht benannt wird. Der Anwalt Andreas Schulz sieht in der Klage einen möglichen Dammbruch. „Es geht dem Kläger auch nicht primär um Geld, sondern es geht ihm um die Feststellung, dass das, was geschehen ist, Unrecht war.“ Sollte das Landgericht seiner Argumentation folgen, könnten mehr Opfer des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche dem Beispiel folgen. Und die Kirche könnte ihre bisherigen Zahlungen nicht mehr als freiwillige Großmut darstellen, sondern müsste mit dem Urteil leben, das zwar keinen Schadensersatz zusprechen, aber die Verantwortung feststellen kann.

Es ist ein Kampf um Anerkennung – notfalls in den USA

Ob die Klage Erfolg hat, ist unklar. Die katholische Kirche könnte die Klage ausbremsen, indem sie auf die Verjährung pocht. Aber damit würde die Kirche von ihrem eigenen Anspruch abweichen. Speziell für den Fall Peter H. hat die katholische Kirche 2014 die Verjährung der Taten bei innerkirchlichen Verfahren aufgehoben. „Die Klage hat ein strategisches Ziel“, sagt der Jurist Andreas Schulz, die Kirche muss sich entscheiden, ob „sie sich rein formal verteidigt in einem Zivilprozess, in dem sie zum Beispiel die Einrede der Verjährung erhebt oder ob sie sich zu ihrer historischen und moralischen Verantwortung und Schuld stellt“. Nun hat Kardinal Wetter, Ratzingers Nachfolger in München, mitgeteilt, auf die Einrede zu verzichten.

Die Klage enthält auch eine Warnung: Falls der Kläger scheitern sollte, würde der Anwalt den Fall in den USA vor Gericht bringen. 

Laut amerikanischem Recht dürfen dort auch Nicht-US-Bürger klagen, wenn sie in ihrem Land keine Gerechtigkeit bekommen. Die Klage sei für die Kirche „ein Lackmustest“, sagt Schulz. Es werde sich zeigen, ob die Verantwortlichen „lieber ein mehr oder weniger unauffälliges Verfahren in Deutschland haben wollen, oder ob sie sich möglicherweise vor einem amerikanischen Geschworenengericht verantworten müssen“. In den USA erstritten Opfer in vergleichbaren Verfahren Entschädigungen in Millionenhöhe.

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